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Leinens Splitter

 

SECHSTE LIEFERUNG (Januar 2011)

Patchwork
Eine Freundin erzählt, im Weihnachtsgottesdienst habe die Pastorin enthusiastisch die Patchwork-Familie als reale Gegenwart gefeiert und als deren rechtfertigende Norm Maria und Josef und Jesus, also die Heilige Familie postuliert. Die Freundin, die mit ihrer normalen Familie, also Vater, Mutter und Kinder lebt, schämte sich angesichts der Haltung der Pastorin, die sich einer schlechten Wirklichkeit andiente.

Sozialcharakter
Eine Epoche stellt bestimmte Gewohnheiten, Gefühle und Ideale für den Charakter eines Menschen als Leitbild dar. Für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Beispiel diagnostizierten Soziologen für Deutschland das Leitbild eines „autoritären“ Charakters. Heute meint Winterhoff-Spurk ist er das, was Psychotherapeuten einen „histrionischen“ Menschen nennen - ein Wort, das an den Begriff der Hysterie erinnert: „Leicht erregbar, sensibel und emotional oberflächlich, wenig interessiert, konzentrationsunfähig und ungebildet, an medialer Prominenz ausgerichtet und sich gern aus der Realität zurückziehend.“ (Hamburger Abendblatt, 19. 2. 2010)

Glaube
Leonard Frankl (Der verborgene Gott, 1982, S. 217): „Dem religiösen Menschen, der sich im verborgenen Metaphysischen geborgen weiß, haben wir nichts zu sagen, hätten wir nichts zu geben.“ An einer anderen Stelle schreibt er (46): „Dass der Glaube an einen Über-Sinn von eminenter psychotherapeutischer und psychohygienischer Bedeutung ist, erhellt von selbst. Er ist schöpferisch. Als echter Glaube innerer Stärke entspringend, macht er stärker. Für solchen Glauben gibt es letzten Endes nichts Sinnloses.“ Und: „Hinter dem Über-Ich des  Menschen steht nicht das Ich eines Übermenschen, sondern das Du Gottes. Denn nie und nimmer könnte das Gewissen ein Machtwort sein in der Immanenz, wäre es nicht das Du-Wort der Transzendenz.“

Der dritte Raum
Erminio Gius geht dann über die phänomenologische Bestimmung des Heiligen hinaus, indem er eine ihm wesentlichen existentialistische Beschreibung versucht: „Das Heilige ist die Möglichkeit selbst, unendlich vielfältige Daseinsweisen zu sein; es ist die dialektische Bewegung zu einer Neubildung seines eigenen Wesens inmitten der Heiligkeit, es ist die Möglichkeit für die Präsenz, sich in der Transzendenz zu leben als ständige Wiederentdeckung seiner inneren Freiheit, seiner schöpferischen Fähigkeit, seiner Möglichkeit der Teilhabe an der authentischen Freiheit der Kinder Gottes.” Demzufolge ist die Heiligkeit also in jedem Menschen zu suchen, wenn er sich mit der Welt in Verbindung setzt, und jede Beziehung ist in dem Moment heilig, wenn sie die innere Freiheit ermöglicht und die schöpferischen Fähigkeiten des Menschen von der Fessel der Einsamkeit löst. Das Heilige und das Göttliche können sich also decken, aber das Heilige ist auf jeden Fall in jeder Person vorhanden. (Lucio Demetrio Regazzo in: Existenzanalyse. Psychotherapie und Religion, S. 35)

Gesichter
Als ich 1975, kurz nach meinen Studium, zum ersten Mal in die USA reiste, faszinierte und bestürzte mich die Mimik der amerikanischen Frauen. Ich stellte fest, ihr Gesicht sei „mundbetont“ – und nicht „augenbetont“ wie bei den Europäerinnen. Die Art, beim Sprechen den Mund und das ganze Gesicht zu verziehen, Aussagen mimisch exaltiert zu betonen, irritierte mich. Heute ist diese Art und Weise bei der jüngeren Generation universal geworden. Kürzlich stieß ich auf die physiognomischen Deutungen Rudolf Kassners, der feststellt, der moderne Mensch habe ein „zerrissenes“ und „klaffendes Gesicht“. Verloren seien die ehemals verschiedenen Typen der Ständeordnung, der moderne Typus des Menschen sei der Schauspieler, während der alte Mensch eins war mit der Welt und daher noch ein Gesicht hatte. Dem korreliert der heutige Inszensierungsdruck.

Gleichnis
Kassner bezieht sich in seinem Verständnis des Gleichnisses auf Loris-Hofmannsthal: „Was der Dichter in seinen unaufhörlichen Gleichnissen sagt, das lässt sich niemals auf irgendeine andere Weise (ohne Gleichnisse) sagen; nur das Leben vermag das gleiche auszudrücken, aber in seinem Stoff, wortlos.“ Robert Musil bestätigt, dass die Beziehungen des Menschen zu sich, zur Welt, sich nur in Gleichnissen begreifen lassen. Dem Gleichnis eignet etwas Überzeitliches, Unendliches - eine Form, die das Unerklärliche offenbart, alles, was in keinem Verständis aufgeht. Für Kassner ist eine Geschichte solange wahr, als man sie nicht zu erklären versucht.

Verlegenheit
Clemens Eich spricht in einem Gedicht von der „Dauerverlegenheit“

Seele
„Von der Seele nichts Neues! In den Künsten der Gegenwart erfährt man von der Seele nur das Gehabte - Störungen, Verzerrungen, Eitelkeiten. Wie auch das Handwerk floriert, die Romane erzählen aus dem Draußen. Man liest und spürt: Ghost town, menschenleere Innenwelt.“ (Botho Srauß, Vom Aufenthalt, Hanser 2009, S. 237)

Zeit – Erinnerung
„Es ist seltsam, wie der Lauf der Zeit jedes Werk - und also jeden Menschen - in Fragmente verwandelt. Nichts Ganzes überlebt - genau wie in der Erinnerung, die immer nur aus Trümmern besteht und sich immer nur über Fälschungen präsentiert.“ (Paul Valery, Brief an Jeannie Valerie, zit. nach Strauß, Vom Aufenthalt, S. 220)

Die Unbesuchtheit
„Vor allem Künstler oder Geistesarbeiter durchleben Perioden der Unbesuchtheit und halten es dann für eine Krise.“ (Vom Aufenthalt, S. 205)

Menschenbild – Wissenschaft
„Das Ziel aller Wissenschaft ist es nicht, dem Menschen ein Bild von sich selbst zu geben, sein Selbstverständnis zu festigen, sondern das Ziel aller Wissenschaft ist es, jedes Bild und jedes Selbstverständnis für immer zu zerstören.“ (Vom Aufenthalt, S. 144)

Die Kunst
Cees Nooteboom (Das Rätsel des Lichts, Kunststücke, Schirmer/Mosel, 2009): „Ein Problem taucht erst dann auf, wenn das Bild stärker ist als die Summe der Deutungen. Ich erinnere mich, dass ich nach dem Tode Roland Barthes durch die Berge der Haute Savoie fuhr und im Radio eine Wiederholung der Musiksendung hörte, in der sich berühmte Persönlichkeiten ihre Lieblingsmusik wünschen durften. Barthes entschied sich für Schumann-Etüden. Eine wunderbare Musik, die ich in meinem einsamen Auto zwischen düsteren Bergen hörte. Danach fragte der Interviewer, ob Barthes sagen könne, warum er gerade diese Musik so schön finde. Ich spitzte die Ohren. Jemand, den ich bewunderte, weil er so brillant formulieren konnte, würde jetzt etwas tun, was mir nie gelingt: sagen, warum ein bestimmtes Musikstück so schön ist. Eine Zeitlang hörte ich nur meine Scheibenwischer. Dann sagte die Stimme des Toten, er glaube, das, was er schön daran finde, sei unerklärbar, weil es mit alle dem übereinstimme, was in seinem eigenen Inneren unerklärbar sei. Ich empfand die Freude des Feiglings, und erst danach begriff ich, dass mir eine sehr simple Lektion erteilt worden war: Manchmal sucht ein Kunstwerk wie eine ferngesteuerte Rakete exakt das Ziel in deinem Inneren, wo sich ein ähnliches Geheimnis verbirgt, du weißt, worum es geht, platonisch besteht die Möglichkeit, dass du irgendwann einmal eine Formel dafür findest, nach ihr musst du immer weiter suchen, aber solange du sie nicht gefunden hast, darfst du das Geheimnis nicht verschleiern und es ganz gewiss nicht dadurch beleidigen, dass du eine plumpe Formel dafür ersinnst. Schauen, lauschen, lesen, die Arbeit hört nie auf.“

Opfer
Die Frau sagt: „Ich lebe von meinem Mann.“ Hätte sie gesagt: „Ich lebe für meinen Mann, für meine Familie“, so würde sie sich dem Vorwurf des Opferseins und des Parasitentums entziehen können.

Sünde
Heute das Evangelium Markus 7.15: „Nichts, was von außen in den Menschen hereinkommt, kann ihn unrein machen, sondern was aus dem Menschen herauskommt, das macht ihn unrein.“ Anlass waren die Speisegesetze der Juden, die die Jünger missachteten. Also ist Sünde niemals die Verletzung von Konventionen, sondern die Verletzung des Sittengesetzes.

Antichrist
Die Rezensionen des neuen Films von Lars von Trier Antichrist haben mich zu erneuter Nietzsche-Lektüre geführt. Im Antichrist (Aph. 14) legt er schneidend die Prinzipien des neuen Denkens dar: „Wir haben umgelernt. Wir sind in allen Stücken bescheiden geworden. Wir leiten den Menschen nicht mehr vom ‚Geist‘, von der ‚Gottheit‘ ab, wir haben ihn unter die Tiere zurückgestellt. Er gilt uns als das stärkste Tier, weil er das listigste ist: eine Folge davon ist seine Geistigkeit. Wir wehren uns andererseits gegen eine Eitelkeit, die auch hier wieder laut werden möchte, wie als ob der Mensch die große Hinterabsicht der irdischen Entwicklung gewesen sei. Er ist durchaus keine Krone der Schöpfung; jedes Wesen ist neben ihm, auf eine gleichen Stufe der Vollkommenheit. Und indem wir das behaupten, behaupten wir noch zuviel; der Mensch ist, relativ genommen, das missratenste Tier, das krankhafteste, das von seinen Instinkten am gefährlichsten abgeirrte - freilich, mit alledem, auch das interessanteste. Was die Tiere angehet, so hat Descartes mit verehrungswürdiger Kühnheit den Gedanken gewagt, das Tier als machina zu verstehn: unsere ganze Physiologie bemüht sich um den Beweis dieses Satzes. Auch stellen wir beispielsweise den Menschen nicht beiseite, wie noch Descartes es tat: Was überhaupt heute vom Menschen begriffen ist, geht genau so weit, als er machinal begriffen ist. Ehedem gab man dem Menschen als seine Mitgift aus einer höheren Ordnung den ‚freien Willen‘; heute haben wir ihm selbst den Willen genommen, in dem Sinne, dass darunter kein Vermögen mehr verstanden werden darf. Das alte Wort ‚Wille‘ dient nur dazu, eine Resultante zu bezeichnen, eine Art individueller Reaktion, die notwendig auf eine Menge teils widersprechender, teils zustimmender Reize folgt - der Wille ‚wirkt‘ nicht mehr, ‚bewegt‘ nicht mehr.“ So können wir versuchen, Nietzsche vom Kopf auf die Füße zu stellen, indem wir sein Verdikt gegen das Christentum gerade zur Leitlinie unserer Haltung machen: wir bejahen das von ihm dem Christentum vorgeworfene „Missbehagen am Wirklichen“. Allerdings müssen wir auch akzeptieren, dass er uns durchschaut, wenn er schreibt: „Wer allein hat Gründe, sich wegzulügen aus der Wirklichkeit: Wer an ihr leidet. Aber an der Wirklichkeit leiden, heißt eine verunglückte Wirklichkeit sein. Das Übergewicht der Unlustgefühle über die Lustgefühle ist die Ursache einer fiktiven Moral und Religion: ein solches Übergewicht gilt aber als Formel für die décadence.“

Geist und Körper
Levinas: „Der Körper ist nicht bloß ein unglücklicher oder glücklicher Zwischenfall, der uns mit der unerbittlichen Welt der Materie in Beziehung setzt - seine Adhärenz zum Ich erfolgt aus ihm selbst. Es ist eine Adhärenz, der man nicht entkommft, und keine Methapher würde es schaffen, dass man sie mit der Gegenwart eines äußeren Objekts verwechselt; nichts vermag dieser Einheit den tragischen Geschmack der Endgültigkeit zu nehmen. Diese Gefühl der Identität zwischen dem Ich und dem Körper wird denen, die von ihm ausgehen wollen, nie erlauben, auf dem Grund dieser Einheit die Dualität eines freien Geistes wiederzufinden, der sich gegen den Körper auflehnt, an den er gekettet worden wäre. Für sie besteht im Gegenteil das Wesen des Geistes gerade in dieser Ankettung. Ihn von den konkreten Formen zu trennen, an die er ehedem gebunden ist, bedeutet Verrat an der Ursprünglichkeit des Gefühls selbst, von dem richtigerweise auszugehen ist. Die Wichtigkeit, welche diesem Gefühl des Körpers, mit dem sich der abendländische Geist nie hat begnügen wollen, zugeschrieben wird, ist die Basis einer neuen Konzeption des Menschen. Das Biologische samt allem, was es an Fatalität mit sich bringt, wird mehr als ein Objekt des geistigen Lebens, es wird zu dessen Herz. Die mysteriösen Stimmen des Blutes, die Anrufungen der Vererbung und der Vergangenheit, denen der Körper als rätselhaftes Vehikel dient, verlieren ihre Eigenschaft als Problem, die einem souveränen und freien Ich zur Lösung vorliegen.“ Und: „Das Ich trägt dazu nur die Unbekannten dieses Probleme selbst bei. Es wird von ihnen konstituiert. Das Wesen des Menschen liegt nicht mehr in seiner Freiheit, sondern in einer Art von Gebundenheit. An seinen Körper gekettet, verweigert sich der Mensch der Macht, sich selbst zu entkommen. Die Wahrheit ist für ihn nicht mehr die Anschauung eines fremden Schauspiels - sie besteht in einem Drama, in dem der Mensch selbst der Schauspieler ist.“(Levinas, zitiert nach Agamben, Homo sacer)

Doppelmoral
„Ich sehne mich nach der Doppelmoral“, sagt eine Freundin.

Dichtung
Hans Georg Gadamer: „Heidegger betont, dass das Wesen der Kunst das Dichten sei. Er will damit sagen, dass nicht die Umformung von Vorgeformtem, nicht die Abbildung von zuvor schon Seiendem das Wesen der Kunst ausmacht, sondern der Entwurf, durch den etwas Neues als Wahres hervorkommt. Dass sich ‚eine offene Stelle aufschlägt‘. Das macht das Wesen des Wahrheitsgeschehens aus, das im Kunstwerk liegt. Nun ist aber doch das Wesen der Dichtung im gewohnten, engeren Sinne des Wortes gerade durch die wesenhafte Sprachlichkeit gekennzeichnet, durch die sich Dichtung von allen übrigen Weisen der Kunst unterscheidet. Wenn in jeder Kunst, auch im Bauen und im Bilden, der eigentliche Entwurf und das wahrhaft Künstlerische ‚Dichtung‘ genannt werden mag, so ist doch die Art Entwurf, die im wirklichen Gedicht geschieht, anderer Art. Der Entwurf des dichterischen Kunstwerks ist an ein Vorgebahntes gebunden, das nicht von sich aus neu entworfen werden kann; die vorgebahnten Bahnen der Sprache. Auf sie ist der Dichter so sehr angewiesen, dass die Sprache des dichterischen Kunstwerks nur diejenigen zu erreichen vermag, die der gleichen Sprache mächtig sind. In Wahrheit ist das Dichten wie in zwei Phasen geteilt: in einen Entwurf, der immer schon geschehen ist, wo eine Sprache waltet, und einen anderen, der die neue dichterische Schöpfung aus diesem ersten Entwurf hervorgehen lässt. Die Vorgängigkeit der Sprache scheint nicht nur die besondere Auszeichnung des dichterischen Kunstwerks auszumachen, sie scheint über alles Werk hinaus für jedes Dingsein der Dinge selber zu gelten. Das Werk der Sprache ist die ursprünglichste Dichtung des Seins. Das Denken, das alle Kunst als Dichtung denkt und das Sprachesein des Kunstwerks enthüllt, ist selbst noch unterwegs zur Sprache.“

Mariä Himmelfahrt
Es heißt, Maria sei mit „Leib und Seele“ in den Himmel aufgenommen worden. Maria ist als der vollkommene Mensch gedacht, sagt Martin Mosebach

FÜNFTE LIEFERUNG (Januar 2010)

Engel
Andrej Plesu, Das Schweigen der Engel (berlin university press, 2007): „Um den Weg, auf dem er abgestürzt ist, zurückzugehen, braucht der Mensch unter anderem einen Führer, einen Experten des Weges. Das ist der Engel. Er bewegt sich mit göttlichem Mandat auf jener Strecke auf und ab, die den Menschen von seinem Ursprung trennt, vom Paradies, in das er durch die Schöpfung hinein versetzt worden ist. Sofern wir unterwegs sind zu unserem Urbild, erscheint der Engel an unserer Seite als Verkörperung dieses Bildes. Vom Engel begleitet zu sein, heißt, mit einem Ziel auf ein Ziel zuzugehen, dem Vorbild zu folgen, das einen begleitet. Wir brauchen einen Schutzengel, der unseren Freiheitsinstinkt wieder belebt, der unsere verstörte Urteilsfähigkeit diskret korrigiert. Den eigenen Engel suchen heißt, das auratische Antlitz der Freiheit suchen.“

Zur Krise
„Unser System schwingt durch die Extreme von Enge- und Weite-Gefühlen, von Ernst und Frivolität. Die eigentlichen Opponenten sind also Enge-Zustände wie Sorge und Knappheitserleben, die zur Selbstbeschränkung motivieren, und Wellnessempfindungen bis hin zur Illusion, fliegen zu können. Das letzte Jahrzehnt gehörte klar der Frivolität – der typischen Belle-Epoque-Stimmung. Sie erlaubte den Adlerflug der Gier über eine ungeheure Landschaft von Gewinn. Die maßgebliche Antithese ist also das Hin und Her zwischen der angstgetönten Sorge und dem Rausch des Leichtsinns. Letzterer tritt ein, wenn man den Widerstand des Realen nicht mehr spürt.“ (Interview mit Peter Sloterdijk in der SZ)

Das Ohr
„Das Ohr ist ein Organ der Angst“, schrieb Ludwig Feuerbach. „Hätte der Mensch nur Augen, Hände, Geschmacks- und Geruchssinn, dann hätte er keine Religion, denn jene Sinnesorgane sind Organe der Kritik und des Skeptizismus“. Das Organ der Angst, das natürlich auch das Organ der Freude ist, ist ein dirketes ungeschütztes Einfallstor menschlicher Wahrnehmung. (Petra Kipphoff: Das Ohr hat Angst. – The Murder of Crows, eine Klanginstallation von Janet Cardiff und Georges Bures Miller in Berlins Hamburger Bahnhof, ZEIT Nr.13/2009)

Kummer
„Mein Kummer ist meine Ritterburg; sie liegt wie ein Adlerhorst auf der Spitze eines Berges und ragt hoch in die Wolken. Niemand kann sie stürmen. Von diesem Wohnsitz fliege ich hinunter in die Wirklichkeit und ergreife meine Beute. Aber ich halte mich unten nicht auf; ich trage sie heim auf mein Schloß. Was ich erbeute sind Bilder; die wirke ich in eine Tapete und bekleide damit die Wände meines Zimmers. So lebe ich wie ein Abgeschiedener. An jedem Erlebnis vollziehe ich die Taufe des Vergessens und weihe es der Ewigkeit der Erinnerung. Alles Endliche und Zufällige wird abgestreift und vergessen.“ (Kierkegaard, Entweder-Oder)

Trauerkultur
Eine Todesanzeige trifft ein. Ort und Zeit der Beerdigung sind angegeben, dann ist unten angefügt: „Von Beileidsbezeugungen bitten wir abzusehen.“ Ich bin irritiert, ärgerlich, weil dem Taktgefühl der Beerdigungseilnehmer misstraut wird.

Kinder
Die schwedische Autorin Walgren (FAS vom 12. 10. 2008): „Ich interessiere mich für Kinder, nicht für die Probleme von Frauen.“ Spontan hat mir das sehr gut gefallen, es ist eine jener Provokationen, die den herrschenden Diskurs aufmischen. Walgren erinnert im Fortlauf des Interviews daran, dass es ihr letztendlich um Widerstand gegen die Abrichtung und Anpassung an den reibungslosen Verlauf wirtschaftlicher Erfordernisse geht - und das betrifft Kinder wie Frauen.

Kinder (noch einmal)
Mark Twain: „Alles, was man seinen Kindern mitgeben kann, sind Wurzeln und Flügel.“ Wie schön gesagt und wie schwer für Eltern das zu leisten.

Höflichkeit
„Die Gesten der Höflichkeit haben große Macht über unsere Gedanken, und es hilft sowohl gegen schlechte Laune wie gegen Magenschmerzen, wenn man Liebenswürdigkeit, Wohlwollen und Freude mimt; die dazu erforderlichen Bewegungen - Verbeugungen und Lächeln - haben nämlich das Gute, die ihnen entgegengesetzten Bewegungen des Zorns, des Misstrauens und der Traurigkeit unmöglich zu machen. Darum sind gesellschaftliche Veranstaltungen so beliebt; sie geben Gelegenheit, das Glück zu mimen; und diese Komödie heilt uns mit Sicherheit von der Tragödie, was nicht eben wenig ist.“ (Alain, Die Pflicht glücklich zu sein, Suhrkamp 1975, S. 45)

Das, worüber wir nicht sprechen können
Anselm Kiefers Rede bei der Verleihung des Friedenspreises: Rückgriff auf den Mythos, die Alchemie und Kosmologie, Suche nach der Conditio Naturale, damit über die Conditio Humana hinauswollend. „Ich glaube, dass da etwas von ganz weit herkommt. Dass die Erinnerung nicht nur in unserem Kopf, sondern tief in unseren Zellen ist.“ Und: „Es gibt hinter jedem konzentrierten Ausspruch, jedem Gedicht, jedem Bild etwas, das nicht sagbar ist.“ Der Künstler als das Medium des „Dahinter“, des „Weither“ - der „in einer langen Reihe steht, im Brennpunkt von Strahlen, die durch die Zeiten reichen.“ (Über das „Dazwischen“ spricht er nicht). Und weiter: „Einer steht mehr als der andere im Spannungsfeld der Geschichte. Und er erkennt das und wird vielleicht Künstler.“ Diese Aussage versteht sich als Absage an den Genie-Begriff, aber auch an die handwerkliche Dimension der Malerei. Malerei als Formulierung einer Mythologie? Das wäre also die bildhafte Weltauslegung und Lebensdeutung, eine rituelle Wiederholung von Urereignissen, eine Aufarbeitung menschlicher Urängste und -haltungen, legt man die herkömmliche Mythos-Deutung zugrunde. (s. Barner/Detken, Texte zur modernen Mythentheorie, Einleitung). Naturwissenschaftliche Begriffe als „Metaphern für die Mythen“ (Kiefer). Nähe zur „Evolutionsästhetik“? Im Grunde die Suche nach konstanten Strukturen und wohl letztlich nach der „Einheit“, die ja auch Schelling in seiner „neuen Mythologie“ wie auch Louis Aragon in seinem Surrealismus suchten. – Kiefer ist kein Platoniker, sagt er selbst. Warum finde ich seine Bezüge auf die jüdische Mystik „hergeholt“, insgesamt die Rede inauthentisch?

Roland Barthes
Zum Nennen: die Ideologie bedient sich der „Ent-Nennung“. Barthes: „Der Unterdrückte macht die Welt; er hat nur eine aktive, transitive (politische) Sprache. Der Unterdrücker konserviert sie, seine Aussage ist allgemein, intransitiv, gestenhaft, theatralisch. Die Sprache des einen meint Veränderung, die des anderen Verewigung.“ (24) Mythologie als Zustimmung zur Welt, „nicht so wie sie ist, sondern so wie sie sich schaffen will.“(5) Die mythische Funktion liegt in der Verwandlung von „Geschichte“ in „Natur“. (Barthes, Mythen des Alltags, Suhrkamp 1964)

Mallarmé
(Eines Faunen Nachmittag, Suhrkamp 1979): „Alles Gewählte, das gewählt bleiben will, umgibt sich mit Geheimnis. Die Musik ist das beste Beispiel dafür. Ich habe mich oft gefragt, warum dieses unerlässliche, schützende Gewand einer einzigen Kunst versagt geblieben ist, und dazu der größten. Sie allein besitzt keine Schutzwehr gegen geheuchelte Wissbegier, keine Schreckmittel gegen Geringschätzung, gegen das Belächeln oder die Fratze der Unwissenheit und Feindseligkeit. Ich meine die Dichtung. Der Erst-Beste stolpert mit beiden Füßen in das Kunstwerk hinein. Solange es Dichtung gibt, ist noch nie eine unzugängliche Sprache gefunden worden, Unerwünschtes fernzuhalten.“ Ferner: „Dichtung ist der Ausdruck der menschlichen Sprache, zugeführt auf ihren wesentlichen Rhythmus, den des geheimnisvollen Sinns unseres Daseins: erst sie gibt unserem Hiersein den wahren Sinn und stellt das einzig Erstrebenswerte des Geistes dar.“ Und: „Dichten bedeutet schöpferisch sein. Man muss menschliche Seelenzustände von so unwirklich reiner Leuchtkraft wählen, dass sie, richtig besungen und ins recht Licht gerückt, das Geheimnis des Menschen bilden: dann kann man von Symbol sprechen, von Schöpfung und das Wort Dichtung erhält erst seinen Sinn.“. Schließlich: „Jeder Mensch besitzt sein Geheimnis. Viele sterben, ohne es je geahnt zu haben.“

Heimat
„Wenn sie jedoch glauben, dass Heimat eine Erfindung hochfahrender Beschränktheit ist, dann möche ich ihnen aus meiner Erfahrung sagen, sie ist eher eine Erfindung der Melancholie.“ (Siegfried Lenz, Heimatmuseum)

VIERTE LIEFERUNG (September 2008)

Rhetorik des Respekts
Eine Freundin sagt, bei ihren älteren Kindern verfahre sie folgendermaßen. Immer frage sie diese: „Willst du wissen, was ich darüber denke?“ Und erst dann sage sie ihre Meinung. Mit diesen therapeutischen Zwischenschritten tue ich mich schwer.

Sterbehilfe
Das Individuum (besser: der Mensch) ist kein Ziel in sich selbst. Empörung, wenn der Sterbehelfer Kusch angesichts des von ihm gemanagten Suizids von Frau Bettina Sch. erklärt, es sei „respektlos“, ihren Willen sterben zu wollen, aus welchen Gründen auch immer, nicht zu akzeptieren. Wie ungeheuer viel heißt „Ich will“. Man stelle sich einen Typen wie Kusch inmitten Tscheschow‘scher Figuren vor.

Aristokratismus
„Die Legende des Adels ist das Sein“ schreibt Max Weber. Oblomow verkörpert diese Utopie des Seins, natürlich gebrochen und auf den Diwan gelegt. Aber in dieser Seinslage trägt er die Nietzsche-Vision des „Ich bin“, das höher steht als „Ich will“, doch bei sich, auch wenn es sich bei ihm um eine Geschichte des „Verlöschens“ und nicht der „Entfaltung“ handelt. Das Verlöschen: Oblomow, Benjamin, Rothko. – Verbergung durch sichtbare Präsentation (Poe). Vieles sagen, aber nicht alles. Geheimnis als Lebenssteigerung (Henning Ritter über Anthony Blunt. In: Die Eroberer. Denker des 20. Jahrhunderts. München 2008, S. 152). – Geborgenheit im Unverstandensein, im Missverständnis (Ritter über Benjamin und dessen Kafka-Interpretation). Ritter erinnert an die Vision des „imaginären Museums“ von Malraux, in dem die Bilder aller Kulturen und aller Zeiten miteinander in Zusammenhang gebracht werden. Nicht die „Kette“ großer Geister, sondern ein Netz, ein Gewebe der Kunst: Bezüglichkeit des Gemeinten und der Manifestationen. Sukzession und Fortschritt aufgehoben.

Geh aus mein Herz
In der Trauerfeier für Peter Rühmkorf am 20. Juni 2008 sang die Trauergemeinde „Geh aus mein Herz und suche Freud“, auch „Die güldene Sonne bringt Leben und Wonne“. Im Protestantismus fordert die Liturgie des Trauergottesdienstes den Perspektivenwechsel des persönlich Trauernden. Als Katholikin (sozialisiert durch das Requiem) noch nicht so vertraut mit der Direktheit des protestantischen Ritus erschrak ich, als in der Trauerfeier für Bucerius im Michel als erstes Lied erklang „Großer Gott wir loben dich“, ein Lied, das seit meinen Kindheitstagen für mich ein Jubellied gewesen ist. Seitdem habe ich verstanden, dass der Perspektivenwechsel nahezu die einzige Möglichkeit ist, der Depression (oder besser depressiven Verschattungen) zu entkommen.

Über das Zaudern
(Joseph Vogl, Zürich/Berlin 2007, diaphanes) Bezüge: Freuds Moses-Interpretation, Orestie, Wallenstein, Überkreuzung von Selbstbehauptung und Selbstrücknahme, die „Schwebe“ gegenstrebiger Kräfte, die einander motivieren und blockieren (S. 22). „Im Zaudern verdichtet sich ein kritisches, krisenhaftes Verhältnis von Tat und Hemmung, Handeln und Grund, Gesetz und Vollzug und dabei wird zwangsläufig der Boden aufgewühlt, auf dem überhaupt sich eine Welt, ein Weltverhältnis konstituiert.“(25) Das Zaudern konstituiert ein asymmetrisches Verhältnis zur Zeit und zur Geschichte: „Sofern nämlich Handeln nach Nietzsche sich im Vergessen vollzieht und zugleich Geschichte hervorbringt, so durchbricht sein Schatten, das Zaudern eben diese Geschichte, es tritt aus dem Zusammenhang heraus, um eine spezifische Erinnerung zu beschwören, ein Gedächtnis des Nicht-Gewesenen, die Erinnerung an ein Vergangenes, das niemals Gegenwart war, eine Vorerinnerung an jene Handlungen und Aktionen, die nicht oder noch nicht geschehen werden.“ (24) Vermögen zum Unvermögen: Potentialität – „die Macht sich nicht zu aktualisieren, nicht in die Aktualität überzugehen“ – analog zur Orestie und zu Aristoteteles – aber „präsente“ Potentialität; sie stiftet kontingenten Nebensinn (29). Zaudern ein „poetisches Verfahren, das auf dramatische Weise eine Destitution, eine Aussetzung des dramatischen Akts bewirkt.“(36) Moderne: „Das souveräne Zaudern - oder Zaudern des Souveräns - gehört der Vergangenheit an, das Handeln ist system-funktional organisiert und entlastet die persönliche Aktivitätskultur. Andererseits aber scheint gerade daraus auch ein neuer Menschenschlag geboren, der neben den tätigen, enthemmten, freihandelnden oder interessengeleiteten tritt und sich als seltsamer homo cunctans oder cunctator präsentiert.“ (58) Es konstituiert sich die Pathologisierung in der Medizin, aber auch eine analytische Methode im Inneren der Literatur (Melvilles Bartleby, Valerys Monsieur Teste, Robert Walser, Wolfgang Koeppen, und besonders bei Robert Musil, Kafka und Beckett). „Das Zaudern und die phantastische Genauigkeit gehören zur Methodenlehre einer Universalgeschichte der Kontingenz und drängen dazu, die Frage nach der ‚Einlösung der in der Welt versenkten Versprechen‘ nicht zu vergessen.“(73)

Die Mutter
Das von meiner Mutter für mich handgeschriebene Rezept der geliebten Nussplätzchen vermerkt: „4 hartgekochte Eier durch den Fleischwolf drehen (vorher schälen).“ Mir scheint das die Quintessenz ihrer durchaus liebevollen Beziehung zu mir. Sie rechnete immer mit meiner Unaufmerksamkeit und Achtlosigkeit. Gleichwohl ist dieser Rezeptzettel für mich ein liebes Erinnerungsstück.

Geist – Körper
„Ein ungesunder Geist braucht einen gesunden Körper“ schreibt Murakami in seinem Buch über sein Laufen (FAZ vom 2. 8. 2008). Was ist ein ungesunder Geist? Der Geist der Ruhelosigkeit, der Spaltung, der Verzagheit, der Melancholie? Aus eigener Erfahrung: manchmal stellt sich nach langem Lauf in beglückender Weise das Wissen ein um das (unbarmherzige) Alleinsein, vielleicht auch All-ein-sein 

Feminisierung der Kultur
Die Führerin in der Rothko-Ausstellung gefiel mir zunächst in ihrer bekundeten Liebe zum Künstler; heute denke ich, ob es sich nicht eher um einen Dauerenthusiasmus gehandelt hat, der zu ihrem Gewerbe gehört. Aber das ist jetzt zu krass; es ist wohl eher so, dass ich nicht einverstanden bin mit ihrer Betonung, Rothkos Bilder seien „aus dem Bauch heraus“ gemalt, Rothko sei ein Bauchmensch. Genau das ist er nicht. Ist es denn nicht gerade beim „inneren Sehen“ so, dass eine Einheit möglich ist von Verstand und Gefühl? Für mich ist Rothko ein Mensch des Geistes: Leib und Seele.

Der sehende Blinde.
In der Hamburger Rothko-Ausstellung hängt auch das beeindruckende Selbstportrait „Tiresias“. Dann ist in einem Schaukasten eine Ausgabe von T.S. Eliots The Waste Land ausgelegt, in der Mitte aufgeschlagen, wo Tiresias (im Rückgriff auf Ovids Metamorphosen androgyn, ein „runzliger Greis mit runzligen Weiberbrüsten“) als die entscheidende, vorausleidende Perspektivefigur spricht. Tiresias handelt nicht, bewegt sich nicht, sondern „sieht“, sieht durch die Fenstern und Mauern, in die erbärmlichen Zimmer, in den Alltag, die Bürotätigkeit, das Teetrinken, die schematisch exekutierte Liebe. Er sieht mit einer Art Röntgenblick, und noch fundamentaler: Tiresias sieht voraus, leidet voraus (forsuffers). Tiresias trägt die schwere Last, auch die Zukunft der sinnentleerten Existenzen des wüsten Landes vorauszusehen und wird so zum „überzeitlichen“ Wesen. Was bedeutet es dann, sich bei den letzten dunklen Bildern Rothkos „blind“ zu fühlen und gleichzeitig zu wissen, dass hier eine (abstrakte) Form gefunden wurde, zeitlose metaphysische Ideen – das nicht Mittelbare – zu repräsentieren? Auch denke ich an ein Erlebnis vor vielen Jahren, als ich einmal in einem Haus übernachtete, dessen Besitzer ein alter, blinder Mann war. In der Nacht schreckte ich hoch in meinem sehr dunklen Schlafzimmer mit der peinigenden Gewissheit: „Jetzt kann er sehen“.

Heroische Autonomie
Der Künstler: Medium der heroischen Autonomie; der Glaube an „das ihm selbst innewohnende geistige Vermögen, sich seiner selbst und seiner Umgebung zugleich bewußt zu sein“ (wie Rothko sagt). Ziel ist es, das Verständnis der Wirklichkeit so konkret wie möglich zum Ausdruck zu bringen. „Der bildende Künstler befasst sich mit den großen Fragen von Raum und Zeit, von Leben und Tod, mit Höhen der Verzückung wie mit den Abgründen der Verzweiflung.“ Selbstentäußerung ist das Resultat des Malaktes. Damit wären wir bei Schellings - gelungener -„intellektualer Anschauung“, der Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung. Malen: eine Opfergabe?

DRITTE LIEFERUNG (Juni 2008)

Mark Rothko
Die Retrospektive in der Hamburger Kunsthalle. Kann es gelingen, Bilder so zu malen, dass sie wirklich den Weg vom Abbild zum „Ding an sich“ vollziehen, nicht „nur“ Abstraktion, sondern Auslöschung sind? „Es gibt keine Tatsachen, nur Interpretationen“ (Nietzsche). Während ich also nachgrübele über die mystische Manifestation, in seinen Leinwänden das „Zelt“, den „Schleier“ vermute, schreibt das Abendblatt vom Samstag frisch-fröhlich von den „explodierenden“ schönen Farben Rothkos, denen man sich hingeben soll, ja geradezu sich berauschen soll. Nun, auch dafür hat Rothko den Weg freigegeben, wenn er 1957 schrieb: „Ich interessiere mich nicht für die Beziehung von Farben mit Formen. Ich interessiere mich allein dafür, Grundgefühle des Menschen auszudrücken. Die Tatsache, dass viele Menschen erschüttert sind und weinen, wenn sie vor meinen Bildern stehen, zeigt, dass ich mit diesen Grundgefühlen kommuniziere. Die Menschen, die vor meinen Bildern stehen, haben das gleiche Erlebnis, das ich hatte, als ich sie malte.“ Also kann es sein, dass manche, wohl auch ich, hinter den Farben das Reich des Göttlichen ahnen, also im Verschwinden der Gegenstände den Prozess der Essentialisierung vollziehen, andere aber sich den Erinnerungen an ihren Cluburlaub im Süden hingeben oder aber überlegen, wo dieses Bild in ihrer gestylten Wohnung seinen Platz haben könnte. Aber ich wünsche mir sehr, dass die Bilder sich wehren. Manchmal soll man sich nicht mit den Grundgefühlen der Menschen gemein machen. Schwierig.

Gerippe der Welt
„Die Arbeit war mein Skelett, meine Muskulatur. Ohne sie fühlte ich mich wie eine Qualle. Die Form von Dingen - die Konturen. Ohne sie können wir nicht leben. ‚Fass meine Nase nicht an, du Stück Scheiße‘, hatte einer meiner stationären Patienten mich einmal angeschrieen, nachdem ich während des Gesprächs kurz meine eigene gekratzt hatte. Ich war damals ein junger Assistenzarzt in der Psychiatrie gewesen und seine Worte hatten mir einen Schlag versetzt. Seither habe ich gelernt, wie prekär alles ist - wo wir beginnen und enden, unsere Körper, unsere Worte, das Innen und Außen. Psychotische Patienten sind häufig Kosmologen, besessen von geheimnisvollen Strukturen des Unsichtbaren, von Gott und Satan, von den Sternen, einer vierten Dimension, von dem, was unter den Dingen und jenseits der Dinge liegt. Sie suchen nach dem Gerippe der Welt.“ (Siri Hustvedt: Leiden eines Amerikaners, Rowohlt 2008, 251)

Hass
Aurel Kolnai unterscheidet den tief in die Persönlichkeit eingreifenden Hass von der Wut und dem Zorn. Hass richtet sich gegen Menschen und gegen von Menschen gemachte Ideen, also gegen etwas „Intentionales, das über zwei Eigenschaften verfügen muß: Es muss mächtig genug sein, um als potentiell existenzbedrohlich erfahren zu werden und es muss auf infame Weise unsere Wertordnung verletzen. Erst wo unsere Werte zu Unrecht, aber erfolgreich, geschädigt werden, entwickeln wir einen Vernichtungswunsch, der in tiefstem Herzen darauf abzielt, der Gegenstand des Hasses habe überhaupt nie existiert.“ Anders als die Liebe, ist der Hass ein „differenzarmes“ Gefühl. Er zielt auf die radikale Unterbrechung jeglicher Beziehung mit seinem Gegenstand. „Der Hass an sich setzt eine engere Beziehung zum Teufel als die Liebe zu Gott.“ In seinen ethisch-theologischen Überlegungen zum „Weltbild des Hasses“ zeigt Kolnai dessen "gewaltsame ethische Selbstlegitimierung“, also jene Dynamik, die aus diesen immer eine negativ wirkende Macht macht, egal welcher welche Werte es sind, deren Gefährdung der Hass gilt.“ (Aurel Kolnai: Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. Suhrkamp 2007)

Das Böse
„Man muss sich auf das universelle Böse gefasst machen. Es ist fast ausdehnungsgleich mit der Welt. Es ist die unerklärbare Tiefe der Welt. Wenigstens aber sollte man seine ‚geistvolle Seele‘, diesen ‚inneren Himmel‘ nicht verraten. Soviel immerhin vermag die Freiheit; sie hält einem besseren Selbst die Treue. Man muss das Versprechen halten, dessen unfertige Verkörperung man ist.“ (Rüdiger Safrinski: Das Böse oder das Drama der Freiheit, hier: Schelling, insbesondere dessen Philosophie der Offenbarung paraphrasierend.) – Das Versprechen, das man ist. Nach Nietzsche ist der höchste Mensch der, der versprechen kann. Wenn ich eifrig versicherte, dieses und jenes zu tun, pflegte mein Vater zu sagen: „Mach, dass es wahr wird“.

Geistigkeit als Grundprinzip der Selbstsorge
"Wir nennen Geistigkeit das Ensemble von Suchverfahren, Praktiken und Erfahrungen, die Läuterung, Askese, Verzicht, Umwendung des Blicks, Lebensveränderungen usw. sein können, und die zwar nicht für die Erkenntnis, aber für das Subjekt, das Sein selbst als Subjekt, den Preis darstellen, den es für den Zugang zur Wahrheit zu zahlen hat." (Foucault Hermeneutik des Subjekts) Die Wahrheit ist dem Subjekt demnach nicht über die Erkenntnis gegeben, sondern erfordert eine Praxis des Subjekts, die über die Geistigkeit dazu führt, dass es sich derart transformiert, dass sich ihm die Wahrheit "ereignen" kann. Foucault beschreibt in aller Prägnanz diese Differenz zwischem dem "gnothi seauton" und dem in diesem Kontext interessanteren "epimeleia heautou". Er sagt dazu: "Die Erkenntnis öffnet sich einfach auf ein unbegrenztes Fortschreiten, dessen Ende man nicht kennt und dessen Gewinn sich in Laufe der Geschichte lediglich in der instituierten Kumulierung von Wissen oder im psychologischen oder sozialen Gewinn darstellt, der sich daraus ziehen lässt, dass man schließlich die Wahrheit erlangt hat, wo man sich doch so großen Mühen unterzogen hat. So wie die Wahrheit von jetzt an geartet ist, ist sie nicht dazu geeignet dem Subjekt auch das Seelenheil zu gewähren. Wird die Geistigkeit als jene Form von Praktiken definiert, die voraussetzen, dass das Subjekt, so wie es ist, der Wahrheit nicht fähig ist, dass aber die Wahrheit, so wie sie ist, das Subjekt läutern und zu retten fähig ist, dann sagen wir, dass die moderne Epoche der Beziehungen von Subjekt und Objekt an dem Tag beginnt, an dem wir voraussetzen, dass das Subjekt, so wie es ist, der Wahrheit fähig ist, das aber die Wahrheit, so wie sie ist, das Subjekt nicht länger retten kann." (Thilo Rissing: Das Wahrsprechen des Subjekts. Michel Foucaults Vorlesung am College de France über die Hermeneutik des Subjekts, Literaturkritik.de, C.H.Beck)


ZWEITE LIEFERUNG (März 2008)

Kairos
Wann ist wirklich der Zeitpunkt gegeben, das ein Politiker (Hamburgs Innensenator Udo Nagel) berechtigt sagen darf: „Wir haben zu lange zugesehen“ und damit den massiven Polizeieinsatz auf dem Kiez begründet? Dialektik von freiheitlichem Denken und konservativen Maßnahmen als ewiges Gesetz. Dialektik der Reformen?

Palast
„Alle Menschen groß und klein / Spinnen sich ein Gewebe fein. / Wo sie mit ihrer Scheren Spitzen / Gar zierlich in der Mitte sitzen. / Wenn nun darein ein Besen fährt, / sagen sie, es sei unerhört, / Man habe den größten Palast zerstört.“ (JWG: Westöstlicher Divan, Buch der Parabeln). Das Leben, ein Zögern vor der Geburt (Kafka). Sloterdijk spricht von der „Fötalgnosis“ des Sokrates (Frankfurter Poetikvorlesung).

Frauen
Wie ich ihrer müde bin, der allzeit herrschsüchtigen Frauen. Dazu passt: Sie segeln in der Beschwerde. – Auf dem Seil. – Das Glück: Glenn Gould, die Himmelsleiter. – Irmgard, der Name bedeutet die „allumfassende Schützerin“ (althd.)

Versuchung
„…und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“ Nicht die Versuchung anklagen (Liechtenstein). Der Versuchung widerstehen. Dagegen Oscar Wildes Koketterie: „Ich kann allem widerstehen, nur nicht der Versuchung“. Wollten nicht gutmeinende Christen, die englischen Anglikaner, gerade diesen Passus im Vaterunser ersetzen? Als Jugendliche ulkten wir: „…und suche uns nicht in der Unterführung“.

Innen-Außen
Kojeve, dagegen Rilke: „So ausgedehnt das Außen ist, es verträgt mit all seinen siderischen Distanzen kaum einen Vergleich mit den Dimensionen mit der Tiefendimension unseres Inneren, das nicht einmal die Geräumigkeit des Weltalls nötig hat, um in sich fast unabsehlich zu sein.“ (s. Böhmer, Heimweh)

Augustinus
Unnachgiebiges Verbot der Lüge. Paraphrasierung aus Pascal Mercier (Nachtzug nach Lissabon): „Wir sind weit in die Vergangenheit augebreitet. Das kommt durch unsere Gefühle, namentlich die tiefen, also diejenigen, die darüber bestimmen, wer wir sind und wie es ist, wir zu sein. Denn diese Gefühle kennen keine Zeit, sie kennen sie nicht und sie anerkennen sie nicht.“(442) Begierde (Begehren), Wohlgefallen, Geborgenheit als Empfindungen, die früher oder später verfallen. Loyalität war das einzige, was von Dauer war. „Ein Wille, ein Entschluss, eine Parteinahme der Seele“. Etwas, was den Zufall von Begegnungen und die Zufälligkeit der Gefühle in eine Notwendigkeit verwandelte. „Ein Hauch von Ewigkeit, nur ein Hauch, aber immerhin.“ (427)

Ehre
(Asserate: Manieren) „Die heidnischen Römer glaubten, mit jedem Menschen werde zugleich ein Genius geboren, die Geburtsgottheit dieses Menschen, der dann übrigens auch die Ehrung am Geburtstag galt. Die Ehre ist im Grunde nichts anderes als ein solcher Genius: man selbst noch einmal in Überlebensgröße. Der Ehrbewußte sieht durchaus den Abstand, der ihn von diesem überlebensgroßen zweiten Ich trennt. Daraus entsteht für ihn eine Spannung, die ihn nicht zur Ruhe kommen läßt. Sich mit dem zufrieden geben, was man nun einmal sei – sich mit allen Fehlern und Schwächen annehmen zu können, wie das in der Sprache psychologischer Ratgeber gerne heißt – ist seine Sache nicht. Der Ehrbewußte will wachsen und dabei geht es ihm nicht darum, der eigenen Größe noch eine Elle hinzuzufügen, sondern die eigene Größe erst einmal zu erreichen. Es ist bei der Verfaßtheit dieser Person beinahe gleichgültig mit welchen Werten und Inhalten sich dieses Ehrgefühl füllt, wichtig ist nur, daß es unbedingt und vom anderen unbeeinflußbar ist. Es ist typisch für den Ehrbewußten, daß es ihn drängt, gewisse Dinge, die ihn viel kosten, unbezahlt zu tun.“ (36) Die Manieren sind das „Gewand der Ehre“ (38). „Die Ehre ist das äußere Gewissen und das Gewissen die innere Ehre.“ (Arthur Schopenhauer). Ehre - Scham, s. Text: Kain Abel: Ober-Ich / Über-Ich.

Güte
Denunzierter Wert, dem Verdacht ausgesetzt: Kompensation der Ohnmacht. Vornehmstes Merkmal der Mutter. Die Güte ist den Herausforderungen erlegen, als da sind: Erfolgsprinzip, formales Denken, Zwang der Emanzipation, Kosten-Nutzen-Prinzip und der Angst. Sie gilt geradezu als ein Ausweis der Schwäche. Wie dem Ressentiment entgehen? Mit Adorno: „Sich weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht dumm machen lassen: es gibt kein richtiges leben im falschen.“ Machiavellismus der Ohnmacht. Hier ist Nietzsche der Lehrer. Franz von Baader über die Güte.

Der gewöhnliche Nihilismus
Erschöpfung nach der Lektüre von Gala und der Bunten beim Friseur. Die Hände von Madonna, wie hämisch berichtet, signalisieren das wahre Alter und den normalen Alterssprozeß der Ikone, denn „Hände lügen nicht“, die strahlenden Augen, die sich wohl einem Stirnlifting verdanken, aber wohl.

Hiobs Streitreden
sind weithin eine Bitte an Jahwe. Sein Bild in Hiobs Seele zu retten (Gustav von Rad).

Kultur der Niederlage
Aber nicht ideologische Umdeutung und aggresssive Selbstaufschwungfantasien, sondern die große Verzeihende sein wollen. Die Zeit entsteht aus Unlust (Novalis).

Emil Staiger
„Das begreifen, was uns ergreift."

Utopie des Austauschs
Schechina im Jüdischen: das Weibliche als Agens der Vermittlung; das Gegenprinzip mitgedacht ermöglicht die Versöhnung. Notwendigkeit der Dialektik. Der Perspektivenwechsel.

Sein - Werden
Arnold Gehlen bemerkte süffisant: „‘Der Beruf ist das Rückgrat des Lebens‘ sagte Nietzsche, der keinen hatte.“ Bei Bukowski das „Aktentaschensyndrom“. Was bedeutet dem gegenüber der Imperativ des „Werdens“? Erinnerung an Ernst Blochs Satz: „Ich bin, aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“ Dazu Biermann: „Wir bleiben doch, die wir werden“

Humanität
„In Frankreich wird Humanität das Wissen um Leib und Seele, in Deutschland zeigt sich gelahrter Zirkel Importhumanismus. In Deutschland ‚das Leben als Tat‘, in Frankreich ‚die Tat als das Leben‘“ (Hugo Ball: Zur Kritik der deutschen Intelligenz, 1918. Suhrkamp 1980)

Seele
"Unsere Seele vermag ihre Bahn um ihre eigene Mitte zu ziehn; sie kann sich selbst Gesellschaft leisten, sie hat genug anzugreifen und zu verteidigen, genug sich zu geben und von sich zu empfangen.“ (Montesquieu)

Zitat
„Das Zitat ist keine Abschrift. Zitate sind Zikaden“ (Ossip Mandelstamm: Gespräch über Dante) und wie Durs Grünbein anschließt: „Sie zirpen und zirpen…“
„Zögern des Eigensinns“ - Ein Spalt tut sich auf „Öffnen gegen das Fremde, das da Einlaß begehrt in Form des Zitats“ - Ambivalenz: einerseits Befreiung, andererseits Furcht vor der „semantischen Kapitulation“, eine Unterwerfung. Aber für mich ist tröstlich der Gedanke Durs Grünbeins: „Es zeugt auch von Souveränität, zitierend andere freie Geister aufzurufen“, es kann ein Ausdruck des Reichtums, der Vielfalt sein. „Das Zitat ist, so betrachtet, ein Zeichen dafür, wie weit der Einzelne innerhalb seiner Ausdruckswelt zur Zwiesprache bereit ist.“ (Durs Grünbein: Z wie Zitate. Antike Dispositionen. Aufsätze. Suhrkamp 2005, S.61 - 64). Nur leider schweigt das Eigene beharrlich.

 

ERSTE LIEFERUNG (Januar 2008)

Selbstdenken
Das ist es: „Die Kunst erweitern? Nein. Sondern geh mit der Kunst in die deine allereigenste Enge. Und setze dich frei.“ (Paul Celan: Der Meridian). Ja, es gibt wie Begley (Gelobtes Land) schreibt, eine Differenz von Gedanken und Wörtern. So sind auch bei mir die Gedanken, Assoziationen schnell, aber es gibt diese Weigerung, sie schriftlich in einen klaren Sinnzusammenhang zu bringen. Auch wie Begley sagt: Am Anfang steht die Imitation. Meine akademische Prägung lässt nach. Sie bestand ja wirklich darin: „Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Zitaten ist ein Zitat.“ Und nun drängt sich die Notwendigkeit des Selbstdenkens und -formulierens auf, und das bringt mich zum Schweigen, verursacht Unsicherheit, viele Plattitüden – und vor allem diese Panik, mal mehr gewusst zu haben. Das kollidiert natürlich mit dem Wunsch zu beeindrucken. Das wäre das Größte: „Schrift für sich selbst.“ (Hypomnemata, Marc Aurel)

Stimmungen
Stimmungen sind die existenzielle Niederschrift eines Menschen. „Wie der Traum, so hat auch eine Stimmung eine zwangsläufig autistische Struktur. Wer in einer Stimmung ist, befindet sich wie ein Schlafender innerhalb eines ganz speziellen Zustandes, bei dem eine zeitliche Komponente mit im Spiel ist. Wie der Träumende tritt er aus dem Zustand wieder heraus, sobald der Bann gebrochen ist. Bei manchen Stimmungen, insbesondere diejenigen, die in den Charakter eines Menschen eingegangen sind, tritt ein konservierendes Objekt (Einfrierung eines Selbstzustandes des Kindes) zutage - einer jener nicht anerkannten inneren Selbstzustände, die in der Kindheit unverändert gespeichert werden. Wenn jemand in eine Stimmung eintaucht, wird er zu einem Kind-Selbst, das in der Beziehung zu den Eltern aus dem einen oder dem anderen Grund nicht zum Ausdruck kommen durfte. Folglich sind Stimmungen oft die  existenzielle Niederschrift eines Moments, in dem zwischen einem Kind und seinen Eltern etwas in die Brüche ging, und lassen an eine Stockung in der Entwicklung der Eltern selbst denken, die offenbar nicht imstande waren, in angemessener Weise mit den besonderen, von seinem Reifungsprozeß bedingten Bedüfnissen des Kindes umzugehen.“(Christopher Bollas: Der Schatten des Objekts. Das ungedachte Bekannte. Zur Psychoanalyse der frühen Entwicklung. Stuttgart: Klett Cotta 1997, S.127/8)

Das Poröswerden im sozialen Verkehr.

Frauen als Triebwesen
Es ist ja auffällig, dass der Mann als das Wesen dargestellt wird, das stets nur das „Eine“ will, während Frauen das Bessere wollen: Liebe. Unter der Überschrift „Vorsicht vor der besten Freundin“ referiert das Hamburger Abendblatt das Ergebnis einer Umfrage der Zeitschrift Petra, die ja sehr unverhüllt die Interessen der selbstbewussten heutigen jungen Frauen zu repräsentieren versucht: „Drei von vier Frauen würden ihrer besten Freundin den Mann ausspannen. Sie seien der Meinung, dass Liebe alles dürfe."

Spiel mit dem Alarmismus
Der Alarmismus ist die zeitgenössische Variante des Kulturpessimismus. Das der eine „Gefahr“ ist, wissen wir seit Fritz Sterns Studie „Kulturpessimismus als politische Gefahr“. In seinem Beitrag über Spengler (FAS 21.8.2007) weist Botho Strauß aber daraufhin, dass Welterklärungsbedarf, der bei großen, fleißigen Geistern zu Welterklärungsmodellen sich auswächst, ein zum Scheitern verurteiltes, aber dennoch legitimes Bedürfnis ist.

Die gute Ehe
George Eliot, Middlemarch. Die Heldin Dorothea: Lernen vom Mann, heute würde man Partner sagen. Lernen und wachsen. Der Austausch und Gleichheit als Austausch. Aber der Mann ist nicht in der Lage, das Geschenk anzunehmen.

Das Nichtwissen
Sloterdijks Rezeption von Sokrates. Nichtwissen nicht als Noch-Nicht-Wissen, sondern als Befreiungsstrategie von konventionellen Behauptungen. (Zur Welt kommen - Zur Sprache kommen. Frankfurter Vorlesungen, 1988). PvH: Die Wahrheit besiegt die Vorstellung auf den Barrikaden.

Heimweh
Die Gemeinsamkeit von Nietzsche und Stifter liegt lt. Ernst Bertram „in einem letzten Heimweh, in dem unstillbarsten das es gibt, in beider Heimweh nach Vollkommenheit.“ Stifter ist eben nicht der Autor eines selbstzufriedenen, vormärzlich philiströsen Optimismus, sondern die aus Stifters Texten sprechende Zuversicht ist ein „Optimismus der leidenschaftlichen Sehnsucht nach dem Nichtwissen.“ (Michael Scheffel, Text und Kritik, Nr. 160, S.96/97).

Romantik – Heimweh
„Die Philosophie ist eigentlich Heimweh-Trieb, überall zu Hause zu sein“ (Novalis). Schleiermacher: Religion ist Sinn und Geschmack für das Unendliche (siehe Safranski).

Ich-Begrenzung als der Kunst, sich selbst zu gehören
„Wir alle sind mit seelischer Stumpfheit geboren und benutzen die Welt bloß als Euter, um unser höheres Selbst zu nähren.“ (George Eliot: Middlemarch, S. 296)

Schönheit
Plotin (205-270 n.Chr.), Emneade (Vom Schauen der Seele - Stufen des Rückgangs der Seele zum Einen): „Kehre ein zu Dir selbst und sieh dich an, und wenn du siehst, dass du doch nicht schön bist, so tue wie ein Bildhauer, der von einer Büste, die schön werden soll, hier etwas fortmeißelt, hier etwas ebnet, dies glättet, das klärt, bis er das schöne Antlitz an der Büste vollbracht hat, so meißle auch du fort, was unnütz und nichte, was krumm ist, das Dunkle säubere und mach es hell und lass nicht ab, an deinem Bilde zu handwerken, bis dir hervortritt der göttliche Glanz der Tugend.“(Emneade I 6, 9)

Die Einsamkeitstechniken der Antike
Untersuchung (zetisis), Prüfung (skepsis), Lektüre, Anhören, Wachsamkeit (prosoche), Gleichgültigkeit gegenüber den gleichgültigen Dingen, Meditationsübungen (meletaia), Mäßigung der Leidenschaften, Erinnerung an das, was gut ist, Ausübung der Pflichten, das Fortgehen, die Trennung und die Imagination eines anderen Ortes (anachresis) hatten die „Ichbegrenzung“, die Disziplinierung des Selbstgesprächs, also das Bauen einer „citadelle interieure“ (Hadot) durch Orientierung am „großen Anderen“, des „inneren Zeugen“ (purusa) zum Ziel. melethe thanatu (Reflexion der eigenen Sterblichkeit) meint seit Platons Phaidon den Perspektivenwechsel bei dem es darum geht, sich selbst aus der Blickrichtung des „höheren Ich“, des „großen Anderen“, der mit dem Allgemeinen, dem Gesetz, dem Kosmos oder dem Gott verschmolzen wurde, als gestorben zu betrachten. (Sokrates: So nahe als möglich am Gestorbensein leben). Solche Techniken dienen also dem Training, eine Art Doppelgänger des Selbst zu schaffen (daimon, genius, Schutzengel). Siehe Thomas Macho: Mit sich allein. culture, hu-berlin.de). Dagegen seit dem 19. Jahrhundert (Baudelaire und Rimbaud) geht es um die Entgrenzung des Ichs, gewissermaßen um Einsamkeitstechniken der Ausschweifung und des Entfesselns. Biermann-Lied: „Wir bleiben doch, die wir werden.“

Muschel-Bild
„Ich nehme an, dass es immer ein Ich innerhalb der kleinen, später etwas größeren Muschel gegeben hat, um die herum ‚alles‘ passierte. Innerhalb dieser Muschel änderte sich die Entität, die man ‚ich‘ nennt, nie und hörte auch nie auf zu beobachten, was außerhalb vorging. Dies soll keine Anspielung auf inwendige Perlen sein. Was ich sage, ist, dass der Ablauf der Zeit diese Entität nicht selbst berührt.“ (Josef Brodsky: Erinnerungen an Petersburg, Hanser 2003, S.31). Dagegen die Identitätsvorstellungen und das „geteilte Selbst“. Dann aber die Person (Spaemann).

Sprechen - Nachrichtensprechen  
Früher war der Nachrichtensprecher ein Repräsentant des höheren Allgemeinen. Auch auf der Theaterbühne gibt es den hohen Ton nicht mehr.

Das neue Bürgertum
Welche Gesichtspunke noch dazu gehören, hat Christopher Lasch sehr luzide in seinem Buch (aus dem Nachlass) Die blinde Elite gezeigt: Abschottung. Anknüpfend an den Geist von Laschs Buch wäre eine Mentalitätsskizze der Bundesrepublik Deutschland im neuen Jahrtausend zu skizzieren. Themen: Symbolische Politik. Schröder als Inkarnation, Basta-Prophet, Eile in den Handlungen, Schlampigkeiten, Bedienen vorgeblicher Interessen, indem man sich an die Spitze setzt. (Steuerreform, NPD-Verbot, Afghanistan). Medien: Menschenbild, Unernst, Quatschen. Wirtschaft: Gerede, Neue Ökonomie, Globalisierung. Verlust der Scham.

Zeuge Baudrillard
Für die Globalisierung, Einrichtung einer weltweiten Zirkulation, müssen alle Singularitäten (die der Arten, die der Individuen, die der Kultur) mit dem Tod bezahlen. Diese Singularitäten rächen sich durch den Terrorismustransfer. Es ist der Wunsch nach Zerstörung einer allein herrschenden Macht und Definition. Schon seit Jahren sieht sich B. von einem System eingefangen, das nicht mehr wächst, sich vielmehr in einem „System der Auswüchse“ befindet, einer politischen Ökonomie ausgeliefert, die im imaginären Raum der Spekulation bis zur Parodie ausgereizt wird, unter einer medialen Glocke gefangen, die auf das Immunsystem der Körper zurückschlägt, einem globalen Kommunikationsnetz ausgeliefert, das von Computerviren und epidemischen Dateninflation heimgesucht wird – und einem öffentlichen Diskurs unterworfen, der all diese Schattenseiten in einer permanenten „Operation des Weißwaschens“ verdrängt. (Geist des Terrorismus)

Skandale
Inszenierung von Skandalen (Hamburger Abendblatt) – Schill wird nun nicht mehr wegen seines „law und order“-Programms allein angegriffen, sondern auch wegen seines Lebensstils: Dass er vielleicht schwul ist, steht dabei nicht im Vordergrund, sondern sein Sich-Herumtreiben in einschlägigen Diskotheken, und Kokain-Missbrauch. Alles befindet sich auf der Gerüchteebene, aber, da veröffentlicht, wird es zum Faktum. Ein Grüner belegt seine Anfrage in der Bürgerschaft mit einer Zeitungsmeldung, die ein Gerücht vermeldet. Ein parteiloser, der SPD nahestehender Verfassungsrichter bezieht sich auf das Gerücht und fordert Schill in derselben Postille zur Stellungnahme auf. Heute wird im Abendblatt, wieder ohne Angabe von Zeugen, gemeldet, Schill habe die Polizei angwiesen, bei der Drogenfahndung sich auf Elendsszenen zu konzentrieren und die einschlägigen Privatclubs in Ruhe zu lassen.

Die Repräsentanten
Ich will nicht mit meinem Bundeskanzler Bier trinken gehen. Wenn die Hirten die Hirten weiden Ezechiel: „Weh den Hirten Israels, die sich nur selbst weiden. Müssen die Hirten nicht die Herde weiden?“(34.3)

Neue Rituale
6000 Menschen im Schweigemarsch für Hannah, eine 15jährige, die in Königswinter ermordet wurde. Formen, mit dem Schrecken umzugehen: Kerzen, Blumen, Menschenketten. Wer wird da angeklagt? Das Schicksal, das System, der Mörder, die Gesetze?

Emanzipation, Ichbildung
André Gides Festellung in den Falschmünzern: „Mein Herz schlägt nur aus Sympathie; ich lebe nur durch andere: per procura sozusagen, in Stellvertretung, durch zerebrales Einheiraten. Nie fühle ich mich intensiver leben, als wenn ich mir selbst entschlüpfe, um irgend jemand – oder eben ganz viele – zu werden. Diese anti-egozentrische, dezentralisierende Kraft ist so stark, dass sie mir den Sinn für Eigentum – und folglich für Verantwortung – zersetzt.“ Dieser Unterschied scheint mir konstitutiv für Über-Ich-Bildung und Institutionenverständnis.

Persönlichkeitsbildung oder Styling
Ich bin schon etwas entsetzt, das kleine Bild von Ingo Metzmacher im Abendblatt zu sehen, das einen Beitrag zu seiner Aufführung von Hans Pfitzners „Deutscher Seele“ am Tag der deutschen Einheit ziert. Es zeigt eine Umwandlung vom sympathischen Bären zu einem gestylten Teufel(chen) mit Ziegenbart.

Das Ur-Gewissen
Die Regel, das Gute zu tun und das Böse zu lassen. (Thomas von Aquin, s. Ludger Honnefelder: Was soll ich tun, wer will ich sein. Berlin University Press, 2007)

Person
Boethius definiert: „Das individuelle Dasein einer vernünftigen Natur“ (s. Spaemann, Robert: Personen). „Als Mann und Frau erschuf ER sie“. Das Unterschiedene, Verschiedene. Steht dem entgegen Platon: Einheit. Die wiederum als Sehnsucht der Seele bleibt und damit das Unterschiedene rückgängig machen will. – Heute morgen an der Alster wieder die große, starke, blonde Frau mit wehendem langen Haar, und mir schoss in den Sinn, dass dieser Mensch ein Transvestit sein könnte. Zumindest androgyn. Dann spielerisch der Gedanke, dass wir wieder auf dem Weg dahin sein könnten. Die zunehmende Unfruchtbarkeit der Männer, keineswegs der arabischen.

Sonderbewusstsein
Irene Dische sagte mir mal: ja, das haben die Adeligen und die Juden. Ersteres leitet sich von der besonderen Geburt, letzteres vom Ethos, aber auch der Geburt ab. Dagegen der Universalismus des Christentums. Die merkwürdige Affinität der Deutschen zum Sonderbewusstsein. Heute besonders das Gefühl (Wissen) der Niederlage, aber auch ein gewisser Sündenstolz.

Frauenverbände
Erinnerung an den Topos „Amerikanische Frauenverbände“ (Daughters of the Revolution etc.), die in gewissem Sinne als „moralisches Gewissen“ der amerikanischen Nation auftraten und entsprechend von der Linken und den Aufgeklärten bekämpft wurden. Heute bei uns ist „Frausein“ per se gut, es sei denn eine Medienfuzzi wie Eva Hermann verbrät ihre schrägen Ansichten.

Terrorismus
Gesetzgebungsvorhaben, apokalyptische Szenerien, „intellektuelle Lust am antizipierten Ausnahmezustand“ (Udo di Fabio, FAZ 19. Nov. 2007), und: „Eine Gesellschft sollte sich nicht hysterisch in eine Not-Wende-Zeit hineinreden, in der jedes Mittel recht scheint, um zu überleben.“

Wirklichkeit
Nach der Verleihung des Welt-Literaturpreises an Daniel Kehlmann (9. November) sagte Karasek, als man so dastand, dass er aber doch eine kritische Bemerkung über Kehlmann anbringen müsse, nämlich die, dass die „soziale Wirklichkeit“ bei ihm nicht vorkomme. Ich sagte „Gott sei Dank“, was heißen sollte, hier überschreitet Jemand den üblichen Naturalismus. Kehlmann dokumentiert doch gerade, dass ein Mench gegen seine Herkunftsvoraussetzungen sein Leben leben kann (im Sinne Camus‘), und gerade das ist die Grundlage des enormen Erfolgs der Vermessung der Welt. Dagegen das historisierende Geschreibe von Julia Franck. 


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