Aufzeichnungen des Jahres 2022
2. Januar
Wir hatten gerade das Haus verlassen, F. und ich, und wir waren kaum über die nächste Kreuzung hinausgekommen, als sich der Himmel, der nicht nur wegen der einbrechenden Dämmerung dunkel geworden war, mit einem Mal öffnete, als hätte jemand das Schleusentor hochgezogen, und Wassermassen auf uns herabstürzten. Zugleich wurde es für einen Augenblick taghell, und ich suchte unwillkürlich nach der Lichtquelle, womöglich Scheinwerfer, die eine Fernsehfolge beleuchten sollten, in unserem Viertel sind ständig Filmleute unterwegs, als mich ein gewaltiger Donnerschlag darüber belehrte, dass wir in einer Wintergewitter geraten waren. F. rief mir zu, sie wolle in der Buchhandlung an der Ecke gucken, was es Neues gebe, rannte davon, während der Knirps, den ich ihr geliehen hatte, von einem wütenden Windstoß umgestülpt wurde, und ich, schon fast durchnässt, in den ein paar Meter entfernten Supermarkt stürzte. Es war schon seit Tagen ungewöhnlich mild, das Thermometer zeigte 13 Grad, so viel wie an kalten Sommertagen. Ein Wintergewitter! War das nicht ein furioser Start ins neue Jahr? Und ein guter Anfang für diese Erzählung? Mit einem Wetterbericht zu beginnen, ist ein ehrwürdiger Brauch, und der Spott, den der wackere Bulwer-Lytton mit dem Anfang seines Romans „Paul Clifford“ (1830) bis heute hervorruft, erscheint mir ungerecht. Er lautet: „It was a dark and stormy night; the rain fell in torrents – except at occasional intervals, when it was checked by a violent gust of wind which swept up the streets …“ Wenn ich in meinem Lesesessel sitze, während draußen ein nasser Januartag ins Dunkel fällt, dann fehlt nur das Kaminfeuer, das wir leider nicht haben, um in mir das tröstliche Gefühl zu erzeugen, in den Händen eines mich umsorgenden Autors zu sein.
3. Januar
Wer je in der Goethestadt Weimar eine Thüringer Bratwurst verzehrt hat, der wird den Vorschlag, diese in die Unesco-Liste des „immateriellen Weltkulturerbes“ aufzunehmen, von Herzen begrüßen, sich allerdings fragen, ob die Wurst nicht höchst materiell ist. Den Domen von Aachen oder Köln, die zum materiellen Weltkulturerbe zählen, kann sie in jedem Fall das Wasser reichen.
4. Januar
Seit Tagen liegt die Grußkarte der Katholischen Akademie auf meinem Tisch. Man wünscht mir „ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr“. Das Schwarz-Weiß-Foto zeigt einen älteren Mann mit Schiebermütze, der eben dabei ist, eine große Marienfigur auf die Pritsche seines kleinen Transporters zu hieven, wo allerhand Gerümpel liegt. Die Madonna ist ziemlich lädiert, ihre Arme sind abgebrochen und die Farbe ihres weißen Gewandes blättert ab. Das Bild zeige, so lese ich auf der Rückseite, „dass Gott gerade auch in den schwersten Zeiten unter uns ist, im Schlamm und im Schmutz.“ Das kann schon sein. Aber ist Gott nicht auch in den großen Kunstwerken unter uns, in den Kathedralen, ihren prachtvollen Altären, Gemälden und farbigen Fenstern? Ist man der alten Bilder von der Geburt Jesu, von den Hirten auf dem Felde, von den Heiligen Drei Königen endlich überdrüssig? Soll uns nicht mehr der Engel des Herrn erretten, sondern ein Trödler vom Flohmarkt?
5. Januar
Beim Arzt, der mich am 13. Dezember wegen einer Bauchfellhernie, vulgo Nabelbruch, operiert hatte, zur Nachkontrolle. Er betrachtete des Ultraschallbild und sagte: „Ich bin sehr zufrieden.“ Ich entgegnete: „Das ist die Hauptsache.“ Er lächelte etwas gezwungen. Für ihn war es ein Routinegespräch, das bei normalem Befund neun Minuten dauerte, von denen er etwa fünf für die Untersuchung des Patienten benötigte und vier für die Eingabe in den Computer. Ich war ihm in Wahrheit sehr dankbar, denn ich hatte mich vor dem Eingriff gefürchtet und empfand jetzt das Gefühl einer gewissen Nähe. Immerhin hatte er mir den Bauch aufgeschnitten und gut wieder zugenäht. Klar war aber auch, dass dieses Nähegefühl ein Missverständnis war. Situationsangemessen sagte ich „Vielen Dank!“, und es war, als würde ich einem Handwerker danken, der den Wasserhahn erfolgreich repariert hat.
6. Januar
In arte eine Dokumentation des Sturms auf das Kapitol vor einem Jahr, als Trump seine Anhänger dazu aufforderte, die eben stattfindende Bestätigung der Wahl Bidens durch Senat und Kongress zu verhindern. Man sah, wie die Masse den kläglichen Polizeischutz überrannte, Hass-Parolen schrie und sich gewaltsam Zutritt verschaffte. Die Entfesselung des Barbarischen war schlimm genug. Schlimmer die Interviews mit Parteigängern Trumps, darunter gesittete, nicht unsympathische Menschen, die vollkommen überzeugt schienen, dass ihnen der Wahlsieg „gestohlen“ worden sei. Einer sagte, die Eindringlinge hätten es nicht böse gemeint, was man schon daran erkenne, dass sie andernfalls leicht das Kapitol hätten abfackeln können. Am schlimmsten die Grand Old Party, wie sie sich gerne nennt, die sich weigert, beim Untersuchungsausschuss mitzuwirken, und den Putschversuch als Lappalie behandelt. Biden scheint schwach und die Wiederkehr Trumps gut möglich. Was ist aus dem Land meines jugendlichen Enthusiasmus geworden? Wie oft war ich dort und habe die Amerikaner wegen ihres Optimismus und ihrer freiheitlichen Lebensart bewundert! Heute beklagt Andreas Ross, langjähriger USA-Korrespondent der FAZ, in seinem Leitartikel die „amerikanische Enthemmung“, und er schließt mit dem deprimierten und deprimierenden Satz: „Die 'älteste Demokratie der Welt' ist morsch.“
8. Januar
Auf Kreta schneit es, der Flughafen Istanbul versinkt im Schnee. Das Tief, das den Süden Europas heimsucht, trägt den Namen Elpis, Hoffnung. Für die Schulkinder in Athen, die jetzt schneefrei haben, hat sich eine Hoffnung erfüllt. „Die Kategorien sind in der schändlichsten Verwirrung“, klagt König Peter in Büchners „Leonce und Lena“. Er wollte wohl sagen: die Temperaturen.
9. Januar
Im Kino: „Drive My Car“ von Ryusuke Hamaguchi. Eine schlafwandlerische Langsamkeit, stoische Kamera, lange Autofahrten mit dem roten SAAB, teils von ferne beobachtet, teils aus dem Inneren, wo die Insassen lange Gespräche führen, oft auch schweigen. Die Dramatik entwickelt sich ganz allmählich, am Ende eine herzbewegende Umarmung. Auffällig die extrem sparsame Mimik und Gestik der japanischen Darsteller; verglichen damit wirkt das Gebaren in Hollywood-Filmen, als wäre man in einem Stummfilm. Wie gebannt starrte ich drei Stunden auf die Leinwand. Die Geschichte, inspiriert von zwei Erzählungen Murakamis, hat etwas vollkommen Beiläufiges, vom Zufall Gesteuertes und damit auch Zwingendes.
11. Januar
Der neue Umweltschutzminister Habeck erklärt, es müssten jährlich mindestens 1500 Windräder errichtet werden, um die Energiewende zu schaffen. Ich ahne schon, dass ich die Landschaften meiner Jugend, die anmutigen Linien der Wetterau, die sanften Höhenzüge des Vogelsberges, nicht mehr wiedererkennen werde, sollte ich sie noch einmal besuchen. So wie mir manche vertrauten Straßen meiner Heimatstadt Frankfurt fremd vorkamen, als ich einmal nach langer Zeit wieder dort war, weil die Inschriften an den Läden türkisch oder arabisch waren und die Sprache, die um mich herum auf den Bürgersteigen gesprochen wurde, nicht mehr deutsch. Gibt es ein Recht, dass der Heimkehrer nach fünfzig Jahren alles so oder so ähnlich vorfindet, wie er es verlassen hat? Sicherlich nicht. Aber dass einen solchen Heimkehrer die Trauer überfällt, wird man verstehen.
15. Januar
Besuch im ehemaligen Völkerkundemuseum Hamburgs, das nun MARKK heißt, „Museum am Rothenbaum. Kulturen und Künste der Welt“. Ausstellung der sogenannten Benin-Bronzen, die nach Afrika zurückgebracht werden sollen. Die Plastiken verraten hohe handwerkliche Fähigkeiten, aber ihre Sprache ist schwer zu verstehen. Die sparsamen Erläuterungen zu den etwas lieblos auf kleinstem Raum zusammengequetschten Exponaten legen vor allem Wert darauf, dass sie geraubt wurden. Der westliche Kolonialismus steht abermals unter Anklage. Durchaus mit Recht. Doch der Besucher erfährt nicht, was er später bei Wikipedia nachliest, dass das Königreich Benin, das mit der heutigen Nation Benin wenig zu tun hat, einst ein mächtiger und wohlhabender Staat gewesen ist, der Nachbarvölker unterjochte, Sklaven hielt und seinen Reichtum hauptsächlich dem Sklavenhandel verdankte. Als die Sklaverei weithin verboten wurde, verarmte Benin. Ein Historiker würde mit der gebotenen Sachlichkeit darauf hinweisen, dass fortgeschrittene Gesellschaften immer dazu geneigt haben, weniger fortgeschrittene zu unterwerfen. Doch steht die technische und wissenschaftliche Überlegenheit des „Westens“ nicht ein für allemal fest, und es ist nicht ausgeschlossen, dass die Täter von einst die Opfer der Zukunft werden.
20. Januar
Lesefrucht
Hans Castorp lachte. „Durchaus!“ sagte er. „Perfekt! Es ist nun einmal – Erlauben Sie mir – Gut!“ Und er suchte auch Peeperkorns Kulturgebärden zu kopieren. „Ja, ja“, lachte er weiter, „Sie finden das dumm, Herr Settembrini, und jedenfalls ist es undeutlich, was in Ihren Augen wohl schlimmer ist, als dumm. Ach, Dummheit. Es gibt so viele verschiedene Arten von Dummheit, und die Gescheitheit ist nicht die beste davon…“ (Thomas Mann: Der Zauberberg, Mynheer Peeperkorn. Des Weiteren)
23. Januar
Verleihung des Lessingpreises an Uwe Timm im Thalia-Theater. Dass eine der reichsten Städte des Landes einen Preis im Namen eines der bedeutendsten Schriftsteller des Landes vergibt, ihn mit zehntausend Euro dotiert, wofür man höchstens einen bescheidenen Gebrauchtwagen bekäme, und dann noch diesen preiswerten Preis lediglich alle vier Jahre verleiht, ist nur in Hamburg möglich. Die Stadt ist geizig und zugleich dermaßen selbstgefällig, dass ihr diese Erbärmlichkeit gar nicht auffällt. Wegen Corona ließ man den angekündigten Empfang ausfallen und hatte schon wieder was gespart. Der Einlass an mehreren separaten Zugängen war langwierig, weil der Impfstatus, der Personalausweis und die Eintrittskarte kontrolliert werden mussten. Nach langer Pause hätte man bekannten Gesichtern wieder begegnen können, hätte man sie denn hinter den Masken erkennen können. Immerhin erkannte ich den liebenswürdigen Burghart Klaußner – richtiger gesagt: er erkannte mich –, und als ich mich erstaunt zeigte, weil ich wusste, dass er eigentlich in Santa Monica, im Thomas-Mann-Haus, hätte sein sollen, sagte er mir, die Verantwortlichen hätten seinen Aufenthalt abgesagt, wegen Corona. Auch seine Frau Jenny habe wegen Corona heute nicht kommen wollen. Normalerweise hätten wir noch einige Gedanken und Eindrücke ausgetauscht, aber normal ist das schon lange nicht mehr. Man nimmt das hin, aus guten Gründen. Aber die international wachsende Menge der zum Teil gewalttätigen Corona-Demonstranten macht klar: Viele wollen (oder können) die Beschneidung ihrer alltäglichen Rituale („mal eben auf ein Bier in die Kneipe“) nicht länger hinnehmen. Wobei die Demonstranten völlig diverser Motivation von den Medien gelegentlich in abkürzender Weise „Anti-Corona-Demonstranten“ genannt werden, als wären nicht alle Menschen „gegen Corona“. Ähnlich übrigens ein Leitartikel kürzlich in der ZEIT, der dem Trumpismus viele widrige Ideologen zuordnete, darunter auch „Abtreibungsgegner“. Wäre es nicht ein Gebot der einfachsten Moral, gegen Abtreibung zu sein, und dann erst zu sehen, wie man mit dem Notfall menschlich umgeht?
26. Januar
Es wurde gemeldet, dass sich bayrische Städte und Gemeinden auf massenhafte Kirchenaustritte vorbereiten. Der Umgang der Verantwortlichen mit dem Thema Missbrauch ist desaströs. Nicht nur deshalb, weil es sich um Verbrechen und deren Vertuschung handelt, sondern auch, weil der Versuch, die Katastrophe mit Schweigen zuzudecken, nicht gelingen konnte und die Katastrophe derart zum Äußersten trieb, dass, wenn heute die Rede auf die katholische Kirche kommt, jetzt jeder sofort denkt, dass sind doch die Kinderschänder. Mir fällt dabei die Griechenlandreise unserer katholischen Jugendgruppe vom ND (Bund Neudeutschland) ein, als ich mit dem Jesuitenpater in seinem alten VW von Frankfurt bis Athen mitfahren musste, während die anderen sieben im VW-Bus anreisten. Vermutlich war der Bus voll, vermutlich wollte der Pater die lange Reise nicht allein unternehmen. So saßen wir denn bei zunehmender Hitze vier Tage lang in dem knatternden Gefährt nebeneinander. Immerhin konnte ich, anders als die Gefährten, die Meteora-Klöster sehen. Ein grandioses Erlebnis. Am Ende der Reise lagerten wir alle an irgendeinem Strand des Peleponnes, wo wir unsere Zelte aufbauten und in der kleinen Kneipe unter Schilfmatten gebratenen Fisch aßen. Der Wirt hatte zwei halbwüchsige Töchter, die sich daran erfreuten, von uns angehimmelt zu werden. Die jüngere, naturgemäß schwarzhaarige, die schon etwas Weibliches ausstrahlte, hatte es mir angetan. Nicht ist daraus erfolgt. Ich war etwa 16, sie vielleicht 14 oder 15. Tagsüber trieben wir Jungens uns im Wasser herum, bis wir alle den Sonnenbrand hatten. Von dem Pater wurde erzählt, dass er sich in aller Frühe, wenn wir noch schliefen und niemand ihn sah, ins Wasser traute. Kein einziges Mal gab es mit ihm eine anzügliche Situation. Ich hatte in dieser Zeit oft mit Priestern zu tun, in der Jungschar, im ND, später mit Studentenpfarrern, und niemals habe ich von Missbrauch oder Ähnlichem etwas erfahren oder gehört, auch nicht von meinen Freunden. Leider beweist das nichts. Letztlich aber beweisen auch die Missbrauchsfälle nichts.
30. Januar
Vorgestern bei strahlender Sonne Ausflug in den Jenisch-Park. Als wir von oben her in das winterlich kahle Gelände eintraten und unsere Augen über die liebliche Landschaft schweifen ließen, rief L. erschrocken: „Was ist denn da unten passiert, hat man dort Häuser gebaut?“ Der Blick auf die Elbe war von haushohen Kästen verstellt, die in der schräg einfallenden Sonne wie Häuser aussahen. Es war aber nur, wie uns binnen kurzem klar wurde, ein gigantisches Containerschiff der chinesischen Reederei Cosco. Die kürzlich abgeschlossene Elbvertiefung erlaubt nun auch solchen Riesen, die alles ringsumher ins Modellbauformat verkleinern, die Einfahrt. Der erste schwere Sturm des Jahres fegte gestern und heute über Hamburg hinweg, setzte den Fischmarkt unter Wasser, richtete große Schäden in der Stadt an und einen kleinen in unserem Garten, wo er den Blumenkübel samt Spalier umriss und einen schönen Tontopf zertrümmerte. Dass die Elbvertiefung einer Sturmflut idealen Zugang in die Stadt gewährt, ist oft angemerkt worden.
1. Februar
Lesefrucht
„Sie rauchen nicht?“ fragte er schließlich, als er die Pfeife weglegte und sich dem anderen zuwandte. Dieser wies zum mindesten ein besonderes Merkmal auf – die Farbe seines Haars, das ungeachtet seiner jungen Jahre auf dem besten Wege war, ganz grau zu werden. Im übrigen war er groß und auffallend langgliedrig, im Gegensatz zu seinem Gegenüber. „Nein, ich kann nicht rauchen“, beantwortete der junge Mann die Frage des andern. „Ich habe es oft versucht, aber es wolle mir nicht recht gelingen.“ – „Ob es wohl möglich ist, ein guter Deutscher zu werden, ohne zu rauchen?“ sagte der andere halb vor sich hin. „Vermutlich nicht“, meine der junge Mensch, „aber deswegen wird mir das Herz nicht brechen.“ – „Was das anbetrifft, natürlich wird Ihnen das Herz nicht entzweibrechen. Ein Narr, wer sich irgend etwas so zu Herzen nähme! Aber es ist gut, ein Deutscher zu sein; die Deutschen sind ein Volk von Denkern und die stärksten Raucher obendrein; meines Erachtens besteht ein Zusammenhang zwischen ihrer Philosophie und ihrem Rauchen.“ – „Daß ihre Philosophie nichts als Schall und Rauch ist, habe ich auch schon gehört; das wollten Sie wohl sagen.“ – „Nicht eigentlich, aber das Rauchen wirkt beschwichtigend und ermöglicht es dem Menschen, die Widrigkeiten des Lebens (von denen jeder sein Teil hat) nicht nur mit Anstand, sondern auch mit Würde zu tragen. Der Selbstmord ist in Deutschland kein Nationalsport wie in England.“ – „Aber Werther, dieser armselige Wicht, der sich das Leben nahm, das war doch ein Deutscher?“ – „Werther ist eine Romangestalt, und nicht einmal eine besonders gute; ich gehöre nicht zu denen, die für Werther und seinen Verfasser schwärmen. Hingegen möchte ich behaupten, wenn es in Deutschland je einen Werther gegeben hat, war er bestimmt Nichtraucher.“ (George Henry Borrow: Lavengro. Herausgegeben und übersetzt von Fritz Güttinger. Haffmans, Zürich 1987, S. 89f)
4. Februar
Der Bayrische Rundfunk meldet, der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer habe auf der Synodalversammlung in Frankfurt gesagt, dass eine Strafrechtsreform von 1973 Kindesmissbrauch nicht mehr als Verbrechen gewertet habe, und zwar „auf der Basis von sexualwissenschaftlichen Urteilen“. Diese würden davon ausgehen, dass für die betroffenen Kinder und Jugendlichen die Vernehmungen wesentlich schlimmer seien als die im Grunde harmlosen Missbrauchsfälle. Dies müsse berücksichtigt werden, wenn heute über das Verhalten der Kirche in den 1970er und 80er Jahre geurteilt werde, sagte der Bischof. – So im Wesentlichen der Wortlaut der Nachricht. Mit viel gutem Willen kann man ahnen, was Voderholzer sagen wollte. Doch wenn ein Bischof sich öffentlich zu diesem Thema äußert, dann sollte man nicht ahnen müssen. Es ist immer wieder erstaunlich, dass intelligente Kleriker (und eine gewisse Intelligenz muss jemand haben, der sich wie V. habilitiert hat) außerstande sind, die Gesetze öffentlicher Kommunikation zu verstehen und zu beherzigen. Auch der immer wieder vorgebrachte Hinweis, in den sechziger und siebziger Jahren habe man das, was heute Missbrauch genannt wird, ganz anders beurteilt, taugt nicht zur Entlastung. Anders als bei den Grünen, die eine zeitlang die Idee der sexuellen Befreiung auch im Umgang mit Kindern propagiert und praktiziert haben, was sie später bedauerten, war Missbrauch der katholischen Lehre zufolge immer ein Vergehen, und zwar ein doppeltes: Es verstieß gegen das Gebot der Enthaltsamkeit, dem sich die Priester verpflichten, und gegen das Verbot, Unmündige zu Handlungen zu veranlassen oder gar zu zwingen, die eklatant die kirchliche Sexualmoral verletzten.
5. Februar
Pünktlich zum Beginn der Winterolympiade in China zeigte arte eine erschütternde Dokumentation über die Lage der Uiguren. Als die Provinzhauptstadt Urumtschi ins Bild kam, fiel mir plötzlich ein Buch ein, das mich in jungen Tagen begeistert hatte: „Großer-Tiger und Christian“. Es handelt von zwei zwölfjährigen Jungen, einem deutschen und einem chinesischen, die in Peking einen Drachen steigen lassen wollen, als eben der Bürgerkrieg ausbricht. Zufällig werden sie Teil einer geheimen Mission, die sie quer durch die Wüste Gobi bis nach Urumtschi führt. Sie reisen zuerst auf einem Lastwagen, dann, als dieser gestohlen wird, auf Kamelen und Pferden. Sie erleben die Gastfreundschaft der Mongolen und geraten in die Konflikte konkurrierender Stämme. Im einen Fall handelt es sich um Nomaden, dessen Häuptling als Stammesfürst auftritt und der zugleich – als Lama – wie ein Heiliger verehrt wird. Man erfährt eine Menge über die Lebensweise der Menschen, ihre Rituale und ihre Umgangsformen. Alles in allem eine exotische, überaus spannende Abenteuergeschichte. Autor ist der heute vergessene Fritz Mühlenweg, der aus Konstanz stammte und von einer glühenden Leidenschaft für die Mongolei ergriffen war. Dreimal durchquerte er das Land, unter anderem als Teilnehmer der Ostasien-Expedition 1927/28 unter der Leitung von Sven Hedin. 1949 veröffentlichte er den Roman „In geheimer Mission durch die Wüste Gobi“, der in zwei Teilen erschien: „Großer-Tiger und Kompaßberg“ und „Null Uhr fünf in Urumtschi“, später in gekürzter Fassung bei Herder. Die Handlung spielt wohl in den zwanziger Jahren. Die Reiseroute ist auf einer Landkarte im Vorsatzblatt genau angegeben. Auch die handelnden Personen (der Mongolenfürst, die chinesischen Generäle, der Statthalter in Urumtschi) werden genannt. Ob sie authentisch sind, konnte ich nicht herausfinden, da sich die moderne Transliteration erheblich von der alten unterscheidet. Im Übrigen handelt es sich nicht um ein Sachbuch, sondern um einen Abenteuerroman. Doch offenkundig wurde er von einem Mann verfasst, der die Gegend genau kannte, der das Chinesische gut beherrschte und das Mongolische in Ansätzen. Auffällig ist, dass sich der Begriff „Uiguren“ zu Mühlenwegs Zeiten noch nicht durchgesetzt hatte. Er entstand in den zwanziger Jahren. Sinkiang oder Xinijang hieß vordem Ost-Turkmenistan, ein Hinweis darauf, dass die meisten Bewohner dieses riesigen Gebiets kulturell und sprachlich mit den Turkvölkern verwandt sind. Vor denen fürchtet sich das Regime in Peking. Der Islam spielt in den Schilderungen Mühlenwegs nur eine Nebenrolle. Das entsprach vermutlich der damaligen Realität. Urumtschi (nach heutiger Schreibung Ürümqi) hatte zu Mühlenwegs Zeiten kaum hunderttausend Einwohner, heute sind es dreieinhalb Millionen, davon drei Viertel Han-Chinesen, infolge gewaltiger, auch gewalttätiger Umsiedelung und Verdrängung. Die Welt, die ich in diesem schönen Jugendroman kennengelernt hatte, existiert nicht mehr. Gleichwohl war es mir ein Trost, ihn abermals zu lesen, denn die Bilder des Films gingen mir nicht aus dem Kopf: Zwangssterilisierungen, Folter, schärfste Repression, Konzentrationslager, totale Willkür mit dem einzigen Ziel, die Kultur, die Religion dieses Volkes (eigentlich: dieser Völker, denn dort wohnen Nicht-Chinesen unterschiedlicher Provenienz) ein für allemal zu liquidieren. Dass es sich dabei schlicht um Völkermord handelt, ist von einigen westlichen Parlamenten öffentlich vermerkt worden. Vom Bundestag allerdings nicht. Es würde den florierenden deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen erheblich schaden.
7. Februar
Auf der Synodalversammlung haben die Reformkatholiken ihre Forderung nach der Aufhebung des Zölibats, nach der Ordination von Frauen und nach einer grundlegenden Demokratisierung der Kirche abermals bekräftigt. Ich frage mich, warum diese Katholiken nicht zum Protestantismus übertreten. Das evangelische Pfarrhaus hat bedeutende Geister hervorgebracht, die Pastorin ist eine überall anzutreffende Erscheinung und die Bischöfinnen sind weithin bekannt, wenn auch nicht immer zu ihrem Vorteil. Auch sind Mitspracherecht und Mitsprachepraxis in der evangelischen Kirche ganz anders selbstverständlich als in der katholischen. Dass es auch in jener Missbrauch gab und dass auch ihr die Gläubigen abhanden kommen, spricht nicht unbedingt dafür, ihr nachzueifern.
15. Februar
Olaf Scholz bei Putin, Gespräche über die Ukraine-Krise. Wieder, wie schon bei dem Rencontre von Macron und Putin, sah man diesen grotesken Tisch in Form einer gestreckten Ellipse, sechs Meter lang. Die Eigenarten von Scholz – seine Maulfaulheit, sein unbewegliches Gesicht mit den halb geschlossenen Augen, was mich an Westernhelden im Show-Down erinnert – erschienen mir auf einmal als satisfaktionsfähig: Ein Pokerface saß dem anderen gegenüber, und ich war froh, dass Scholz Kanzler ist und nicht Laschet (den ich gewählt hatte). Wobei bislang völlig unklar ist, wer die besseren Karten hat.
17. Februar
Seit vielen Tagen jagt ein Tief das andere und eine Sturmflut die nächste. Man traut sich kaum aus dem Haus. Als ich heute zum Einkaufen ging, hörte ich hinter mir einen betäubenden Lärm, als ob ein schwerer Sattelzug herankäme. Erschrocken dreht ich mich um und sah die Bö eines Orkans, der durch die Rhododendren fegte und die Gipfel der Linden unserer kleinen Seitenstraße in einen ächzenden Tanz versetzte. Kürzlich, bei einem der ersten Hochwasser des Jahres, versammelten sich wie so oft viele Menschen am Hamburger Fischmarkt, um zu beobachten, wie die Ufer und die Straßen von der Sturmflut überspült wurden. Ist das pervers? Nein, es geht um das Erhabene, den delightful horror, von dem Edmund Burke gesprochen hat, um die Lust an einem Schrecken, der noch nicht völlig ernst ist. Dass es wirklich ernst werden kann, zeigten die zahlreichen Artikel und Sendungen zum 60. Jahrestag der Sturmflut in Hamburg, als ein Viertel des Stadtgebietes überschwemmt wurde und mehr als 300 Menschen ums Leben kamen.
20. Februar
Abermals schwere Sturmflut. Der Orkan hat viele Sandstrände der Nordseeinseln weggerissen. Ich war heute in der Abendmesse im Kleinen Michel, die früher mit etwa hundert Menschen gut besucht war, seit Corona immer noch mit etwa sechzig. Heute Abend waren vielleicht dreißig anwesend. Die Leute fürchteten sich offenbar vor dem angesagten dritten (oder vierten?) Orkan, der glücklicherweise bislang ausblieb. Stattdessen seit heute morgen Dauerregen. Traf auf dem Weg in die Kirche, der durch den Neuen Wall führt, niemanden. Die Stadt ist vollkommen menschenleer. An der Rathausschleuse donnerten die Wassermassen der angeschwollenen Alster in das Fleet hinab. Nicht nur die Stürme nehmen zu, sondern auch die gegenseitigen Vorwürfe und Gereiztheiten. Immer mehr Auguren sehen einen Krieg voraus. Es wäre, wie oft gesagt wird, der erste in Europa seit 77 Jahren. Dabei vergisst man allerdings den Krieg in Jugoslawien und auch die Kriege im Baskenland und in Irland.
22. Februar
Pressekonferenz im Kreml, wo Putin die Anerkennung der von den Rebellen besetzten Gebiete im Donbass erklärte. Die Frage eines Journalisten wird von Putin so rekapituliert: „Ob man alle Fragen mit Hilfe von Gewalt lösen oder auf der Seite des Guten bleiben sollte?“ Und Putin antwortet: „Warum denken Sie, dass das Gute immer gewaltfrei sein sollte? Ich sehe das nicht so. Das Gute setzt die Möglichkeit voraus, sich selbst zu verteidigen.“ Mag sein, dass die Übersetzung ungenau war, weil nicht ganz klar ist, was mit dem „Guten“ gemeint sein soll. Wichtig aber das unverhüllte Bekenntnis Putins zur Anwendung von Gewalt im Fall einer notwendigen oder für notwendig gehaltenen Selbstverteidigung.
24. Februar
Der Fall ist nun eingetreten: Die Russen haben die Ukraine überfallen und dringen vom Norden, vom Osten und vom Süden ins Land. Vorbereitende Luftangriffe bis nach Kiew. Die Menschen suchen Schutz in U-Bahn-Stationen. Ich schrieb einen Brief an meine Freundin, die Slawistin B.: „Eine Frage, zu der Du etwas beitragen könntest, geht mir durch den Kopf: Die jetzt beschlossenen Sanktionen setzen voraus, dass 'die Russen' ähnlich reagieren wie wir. Wir wollen keine Einschränkung unseres Komforts hinnehmen, wollen nicht leiden, nicht frieren und hungern. Die Russen sehnen sich vermutlich auch nicht danach, aber sie sind es seit vielen Generationen gewöhnt. Der patriotische, fromme, leidensfähige und leidensbereite Russe steht mir vor Augen, und dieses Bild habe ich weniger aus meinen sowjetischen Reisen (einmal eine Woche Moskau, ein zweites Mal zehn Tage Moskau und eine Woche Frunse bzw. Bischkek) gewonnen als viel mehr aus der russischen Literatur, die ja zu den größten Literaturen überhaupt zählt (wem sage ich das!), wo aber doch auch eine Art Masochismus, Leidenslust eine Rolle spielt. Vielleicht solltest Du darüber schreiben. Wenn ich noch was zu sagen hätte, würde ich Dich darum bitten. Plötzlich sind die Aussichten sehr trübe geworden, auch für uns. Am meisten natürlich für die Menschen, die jetzt in U-Bahn-Stationen Schutz suchen. Es ist nicht schön, wenn die Vergangenheit auf diese Weise wiederkehrt. Es ist schrecklich.“ Die Antwort: „Hab Dank für Deine Zeilen und den Vorschlag, über die Leidensfähigkeit der Russen zu schreiben. Du hast recht: die russische Literatur ist eine Literatur des Leidens. Mir scheint, es gibt heute einen Generationenunterschied: Sehr alte Russen, ältere Menschen, die sich an den Krieg und den Stalinismus erinnern, sind womöglich leidensfähiger und -williger als junge, gebildete und konsumfreudige Russen, die die Sowjetunion nur aus Erzählungen kennen. Die gelenkten russischen Medien haben natürlich schon seit vielen Jahren einen militanten Patriotismus gepflegt. Die meisten Russen, die ich kenne, haben das immer kritisch gesehen. Ich habe aber auch eine Freundin, die im Gespräch über ihre Rente, von der sie nicht leben kann, sagte: 'Dafür will ich wenigstens in einem großen Imperium leben!' Um wirklich herauszufinden, wie leidensbereit die Russen heute sind, müsste ich reisen – das ist zur Zeit wohl nicht unmöglich, aber doch schwierig. Mitte April wollte ich eigentlich in die Ukraine. Eine alte Freundin feiert ihren 90. Geburtstag und wartet sehr auf mich, wie sie mir gestern geschrieben hat. Sie lebt in der Stadt Berdytschiw, mitten im Land. Gestern schrieb sie, sie werde im Falle des Einmarschs einfach auf dem Sofa liegen bleiben. (Freunde und ehemalige Schüler wollen sie dazu bewegen, nach Israel zu fliehen.) Bis gestern zählte ich mich zu den Russland-Verstehern und sogar manchmal auch zu den Putin-Verstehern. Mit dieser Entwicklung habe ich nicht gerechnet.“
1. März
Seit fünf Tagen Krieg. Jeden Abend „Tagesschau“, danach „Brennpunkt“. Mein Vorurteil gegen die fetten öffentlich-rechtlichen Sender wird widerlegt durch eine solide Berichterstattung, die aus vielen Perspektiven das Chaos einzugrenzen versucht. Die Bilder von zerstörten Häusern, Menschen in Kellern und zahllosen Flüchtlingen, die sich nach Westen ergießen, darunter Kinder und weinende Mütter, sind schwer auszuhalten. Im Gegenzug Szenen von Putin und seinen Generälen, steinerne Gestalten aus einer anderen Zeit. Militärisch, das wird immer klarer, hat die Ukraine keine Chance, es wird einen langen, blutigen Bürgerkrieg geben. Wichtiger vermutlich, wie lange sich Putin gegen die Oligarchen seines Landes halten kann. Wenn die Reichen keinen Zugang mehr zu ihren ausländischen Konten haben, könnte es sein, dass sie ärgerlich werden.
3. März
ZEIT-online meldet: „300 ukrainische Waisenkinder sollen morgen in Polen ankommen. Das teilte die Hilfsorganisation Caritas Polen mit. Insgesamt will das Land demnach 2000 Waisinnen und Waisen aufnehmen.“ Es ist nur gerecht, dass nach dem Kampf gegen das generische Masculinum nun auch das generische Femininum attackiert wird. Und es ist eindrucksvoll, dass mitten in einem wirklichen Krieg der Krieg gegen die Grammatik nicht nachlässt.
5. März
Der Krieg geht unvermindert weiter. Immer mehr westliche Medien verlassen nach Strafandrohung gegen unerwünschte Berichterstattung Moskau. Angriff der russischen Luftwaffe gegen ein großes Atomkraftwerk in der Ukraine. Die Reaktoren wurden nicht getroffen. Wachsende Angst vor einem nuklearen Krieg. Große Demonstrationen in vielen europäischen Städten gegen Putin. Rasant steigende Preise für Energie und Rohstoffe. Dramatische Flüchtlingszahlen.
11. März
Heute zum ersten Mal kein „Brennpunkt“ nach der „Tagesschau“, vermutlich hatte man keine neuen seriösen Nachrichten aus dem Kriegsgebiet. Ich verspürte eine absurde Erleichterung, weil ich mich nicht gezwungen fühlte, abermals das Elend der Flüchtlinge mit anzusehen. Dass davon abgesehen geht das Leben seinen normalen Gang, die Krokusse blühen auf den Alsterwiesen, im Garten haben die Kamelien dicke Knospen und bei kaltem Wind und strahlender Sonne zeigt sich überall der Frühling. Das lässt den Krieg noch absurder erscheinen. Nun gibt es immer irgendwo Krieg, aber dieser ist uns doch sehr nahegerückt, und täglich kommen mehr Flüchtlinge. Zweieinhalb Millionen sollen es jetzt sein. In Hamburg sind es schon einige zehntausend. Unsere Freunde H. und B. sammeln Geld für Unterkünfte und billige Hotels. Wir haben gespendet, wobei ich wie immer nicht weiß, ab welcher Summe eine Spende Bedeutung hat und (für mich) angemessen ist. Ansonsten geht das Leben weiter. Vor einigen Tagen sah ich, dass unsere Nachbarin auszieht. Der Mann hat sich von ihr getrennt, die zahlreichen Kinder, eigene und adoptierte, sind längst groß und aus dem Haus. Ich erinnere mich an die zahllosen kleinen Feste, zu denen auch wir und die Kinder geladen waren, immer ein großes Tohuwabohu, und mitten drin unerschütterlich die große schwarzhaarige S., die jetzt eine graue Mähne trägt. Und nun ist das Haus leer, der Kinderlärm verflogen. Wahr ist allerdings, dass nicht allein S. eine alte Frau ist, sondern auch ich ein alter Mann.
11. März
Lesefrucht
„Machen Sie nun Schluß für heute und gehen Sie mit mir hinaus! sagt die Baronin.
Ich räume auf und komme mit. Sie wirkt so bitterlich hilfsbedürftig auf mich, und ich versuche, ihr durch kleine Aufmerksamkeiten wohlzutun. Ich erinnere mich von diesem Spaziergang, daß sie ruhiger wurde, nachdem sie gesagt hatte:
Ach Gott, wie roh ist das Leben, einer frißt den anderen! Wir schlagen einem Huhn den Kopf ab und essen es, wir brauchen Gewalt gegen ein kleines Schwein, töten und essen es. Wir zertreten die Blumen auf den Wiesen. Wir bringen die Kinder zum Weinen, sie sehen uns mit den Augen an und weinen. Ach, wie sich in mir alles umdreht vor Ekel vor dem Leben!
Und doch ist es vielleicht besser als zu sterben.
Ja, und doch ist es vielleicht besser als zu sterben, ich weiß es nicht. Sie sagen da etwas, es ist vielleicht besser als zu sterben.“ (Knut Hamsun, Rosa. Sämtliche Romane und Erzählungen, Paul List Verlag München 1958, Band 2, S. 264f)
12. März
Mein Dienstboten-Büchlein ist erschienen. Martin Mosebach, dem ich ein Exemplar schicken ließ, schreibt: „Lieber Uli, Dein Dienstbotenbuch ist ein kühner Wurf – von einem soziologischen Phänomen bis in den Himmel reichend. Der einzige Bereich, wo Dienen unpeinlich zelebriert wird, ist heute ja tatsächlich die hl. Messe, vorzugsweise in ihrer überlieferten Form. Trägt das auch zu ihrer Fremdartigkeit bei? Du hast einen exemplarischen Essay geschrieben – die Welt an einem Zipfel gepackt und dann weithin ausgerollt. Hab Dank dafür!“
16. März
In der Zeitschrift für Philosophie ein Interview mit dem Historiker Jörg Baberowski, Autor namhafter Bücher über Stalin etc. Er versucht, Putins Absichten zu verstehen und zu erläutern: Die Wiederherstellung des Imperiums. Dazu gehöre zweifellos die Ukraine. B. nennt deren Bewohner „Brudervolk“. Zerfallene Imperien seien nie einfach weg, sondern hinterließen Konflikte. Ethnische, kulturelle Minderheiten seien in Imperien besser geschützt und aufgehoben als in Nationalstaaten. Putin sei keineswegs wahnsinnig, sondern erfüllt von einer Idee, und deshalb werde er keinesfalls einen Atomkrieg riskieren. B.s Voraussage ist insofern nicht beruhigend, als er eingangs zugibt, von diesem Überfall völlig überrascht worden zu sein. Er scheint übrigens nicht sonderlich gut zu gelingen. Experten, sie sich jetzt überall und pausenlos zu Wort melden, staunen über die strategischen Fehler und die schlechte Kampfmoral der russischen Armee. Weil sie nicht vorankommt, führt sie in wachsendem Ausmaß einen Krieg gegen die Zivilbevölkerung, bombardiert Wohnviertel, sogar Krankenhäuser. In den eingekesselten Städten der Ukraine drohen die Menschen zu erfrieren und zu verhungern. Mit der von B. unterstellten Rationalität Putins ist es nicht weit her, wenn er das Land, das er seinem Imperium zuschlagen will, zerstört und die Bevölkerung gegen sich aufbringt.
22. März
Martin Walser schickt sich Postkarten aus dem Schlaf und nennt es „Das Traumbuch“: aparte Miniaturen, oft rätselhaft und gespenstisch, wie Träume halt so sind, dann wieder erstaunlich klar und pointiert. Einmal träumt er sich auf dem Bahnhof, wo er dringend den Zug nach Friedrichshafen kriegen muss. Da kommt ihm Maria Stuart entgegen. Er hört auf zu rennen: „Ich kann nicht an Maria Stuart vorbeirennen. Sie trägt ein Lächeln im Gesicht. Schaut natürlich nicht zu mir herüber. Und weil ihre Bekleidung bis zum Boden reicht, sieht man nicht, wie sie geht. Aber sie schwebt auch nicht, es ist, als werde sie über den Boden geschoben. Hinter ihr Professor Beißner. Der schaut herüber zu mir. Sobald ich an Maria Stuart vorbei bin, renne ich wieder. Die Angst, den Zug nicht mehr zu erreichen, wird übermächtig…“ Das ist hübsch, aber ich frage mich, ob Walser das wirklich geträumt hat. Wer einen Traum aufschreibt, gibt ihm eine Form, die der grammatischen Logik genügt, er literarisiert ihn. Von Ernst Jünger heißt es, er habe sich am frühen Morgen wecken lassen – in jener Phase des flachen Schlafs, da er die tiefsten Träume hatte –, um sie auf der Stelle niederzuschreiben. In der Tat sind manche Traumnotizen seiner Tagebücher von beklemmender Deutlichkeit und Symbolkraft, so wie eben auch bei Walser. Es ist natürlich legitim, den Traum als Quelle der Inspiration zu nutzen. Viele Schriftsteller haben das getan. Im Werk von Botho Strauß zum Beispiel spielt der Traum, wenngleich selten in unmittelbar erzählter Form, seit je eine große Rolle. Er infiltriert den Text, bis dieser selbst zum Traum wird, und das heißt: zum Rätsel. Dem üblichen Verfahren, mit Hilfe der Erzählung so lange Licht in den Traum zu bringen, bis das Rätsel gelöst scheint, misstraut Botho Strauß. Walsers Träume sind stärker bearbeitet, auf eine Pointe hin formuliert. Nicht, dass ich ihn um seine Träume beneidete, aber meine Träume sind chaotischer, und namhafte, erkennbare Figuren tauchen darin höchst selten auf. Walser hingegen trifft nachts Prominente wie Reich-Ranicki, Enzensberger, Unseld, den Tennisspieler Pete Sampras und sogar Hitler. Das schafft nicht jeder. Er ist überhaupt ein Phänomen. Dieser Tage ist er 95 Jahre alt geworden und immer noch hell im Kopf. Ich erinnere mich daran, wie ich einmal vor fast vierzig Jahren eine Veranstaltung mit ihm moderieren durfte. Vor ihm stand eine Flasche Rotwein, der er herzhaft zusprach. Schon vor Beginn hatte er, wie man mir erzählte, eine Flasche vertilgt. Während des Gesprächs packte er mich immer wieder am Arm, um seine Äußerungen zu bekräftigen und eine kumpelhafte Nähe herzustellen. Hinterher saßen wir im Restaurant, und Walser trank abermals zügig seinen Rotwein, ohne irgendwie betrunken zu wirken. Diese Vitalität! Man konnte glauben, ihre Quelle sei der Wein.
31. März
Längeres Telefongespräch mit einem alten Freund, Leutnant der Reserve. Wir redeten über den Krieg. Er erwähnte die Bemerkung des Heeresinspekteurs wenige Tage nach Kriegsbeginn, die Bundeswehr stehe blank da. Hätte er solche Warnungen nicht schon früher äußern müssen? Der Freund wurde wütend: Man müsse die vorherigen Verteidigungsminister wegen Hochverrats anklagen, sie hätten es versäumt, die Bundeswehr für den Verteidigungsfall auszurüsten. Uns allen sei es allzu lange zu gut gegangen, jetzt kämen endlich wieder die wirklich wichtigen Themen auf die Tagesordnung. Ich stimmte ihm zu, aber ich hatte das Gefühl, dass wir uns in eine ungute Genugtuung angesichts des endlich eingetretenen Ernstfalls hineinredeten. Und ich erinnerte mich an Stefan Zweigs Buch „Die Welt von gestern“, wo er die Begeisterung über den Kriegsausbruch 1914 schildert, das Gefühl, endlich gehe es wieder um etwas. Aber ich glaube, die Analogie stimmt nicht. Zwar reden alle vom Ernst der Lage, doch abgesehen davon, dass man über die steigenden Preise klagt, geht alles so weiter wie immer, und die sogenannte woke-Kultur blüht wie nie. Kürzlich sollte die Musikerin Ronja Maltzahn auf einer Veranstaltung von „Fridays for Future“ auftreten und wurde ausgeladen, weil sie Dreadlocks trägt. In der Absage hieß es: „Der Grund ist, dass wir bei diesem globalen Streik auf ein antikolonialistisches und antirassistisches Narrativ setzen, und es daher für uns nicht vertretbar ist, dass wir eine weiße Person mit Dreadlocks auf unserer Bühne haben.“ So die focus-Meldung vom 24. März.
3. April
Hauskonzert bei unseren Freunden, die schon seit einigen Jahren junge Musiker fördern, darunter ein Pianisten-Paar. Wir hatten die beiden schon einige Male gehört. Uns war irgendwie klar, dass sie aus dem Osten kämen, wahrscheinlich Russland, wo ja viele Nachwuchskünstler herkommen. Genauer hatten wir nie gefragt. Diesmal zeigte es sich, dass er aus der Ukraine stammt und dass dieses Konzert dazu diente, Geld für seine Familie zu sammeln. Sie lebt in Lemberg, das heute Lviv heißt, und befindet sich auf der Flucht mit Ziel Hamburg. Plötzlich sah ich diese hübschen, begabten jungen Leute mit anderen Augen.Vorsichtig redeten wir über die jüngst bekannt gewordenen Kriegsverbrechen der russischen Armee in Butscha. Der junge Mann (er mag Mitte Zwanzig sein, hat immerhin einen Lehrauftrag an der Hochschule in Rostock) wirkte betroffen, schien letztlich aber nicht erstaunt und erzählte von früheren Verbrechen in Stalins Zeit, als es darum gegangen sei, die ukrainische Kultur zu vernichten. Vor unserem Gespräch hatte er die letzte Sonate von Prokofjew gespielt und dermaßen auf den armen Flügel eingeschlagen, dass man nicht nur musikalische Gründe dafür vermuten durfte. Prokofjew, so erzählte er mir dann, stamme aus der Gegend um Donezk. Später fiel mir ein, dass der von mir geliebte Joseph Roth in Brody (heute Ukraine) geboren wurde und in Lemberg studiert hat. Die jüdische Kultur, der er entstammte, ist von den Deutschen gründlich vernichtet worden, und jetzt wird die ukrainische von den Russen vernichtet. Mir war nie bewusst gewesen, dass Brody und Lemberg zur heutigen Ukraine gehören. Zu Roths Zeiten waren sie Teil der k.u.k. Monarchie, die Region hieß Galizien.
9. April
Der Bahnhof von Kramatorsk in der Ost-Ukraine, wo Flüchtlinge auf Evakuierungszüge warteten, ist von russischen Raketen beschossen worden, es gab etwa 50 Tote. Die Barbarei nimmt Formen des Wahnsinns an. Russland gleicht immer mehr Mordor, dem Reich des Bösen im „Herrn der Ringe“. Houellebecq führt in seinem jüngsten Roman „Vernichten“, der kurz vor Ausbruch des Krieges erschienen ist, jene Szene aus Peter Jacksons Film vor Augen (Seite 132), wo Aragorn mit seinem Heer vor das Schwarze Tor zieht und ruft: „Lasst den Herrn des Schwarzen Landes herauskommen, er soll seine gerechte Strafe erhalten!“ Als sich das Tor öffnet und das gigantische Heer Saurons sichtbar wird, ruft Aragorn seinen Getreuen zu: „Söhne Gondors und Rohans, meine Brüder, in euren Augen sehe ich dieselbe Furcht, die auch mich verzagen ließe. Der Tag mag kommen, da der Mut der Menschen erlischt, da wir unsere Gefährten im Stich lassen und aller Freundschaft Band bricht. Doch dieser Tag ist noch fern!“ Und am Ende ruft er: „Haltet stand, Menschen des Westens!“ Diese Worte entstammen dem Drehbuch – genau so stehen sie nicht im Roman, doch sie entsprechen seinem Geist. Bei Tolkien kommt das Böse aus dem Osten. Im Westen liegt das Land der Hoffnung. Dorthin segeln am Ende Frodo und die Elben. Mag sein, dass der Engländer Tolkien die Saurons seiner Zeit, dass er Stalin und Hitler vor Augen hatte. Von Oxford aus gesehen kamen beide aus dem finstersten Osten. Eine schöne Weile lang hatte man glauben können, solche Atavismen seien überwunden, die heroischen Zeiten seien überstanden. Nein, alles scheint auf unselige Weise wiederzukehren.
10. April
Seit vielen Tagen nordische Kälte mit Stürmen und heftigen Schauern. Die blühenden Magnolien zittern im Wind. Heute schneite es, aber nur fünf Minuten, dann kam die schon recht warme Sonne, die kurz darauf hinter schwarzen Wolken verschwand. In die katastrophische Stimmungslage – immer noch Corona, immer wieder der Klimawandel und jetzt der Krieg – passt das finstere Wetter wie die Illustration einer schlimmen Prophezeiung. Doch letztlich ist dies ein ganz normaler April. Ich erinnere mich daran, wie ich in Tübingen studierte, ein Dachzimmer im nahe gelegenen Pfrondorf bezog und bei meiner ersten Radfahrt in die Universität von Schneeschauern überrascht wurde. Das war Mitte April 1967.
12. April
Reise nach Sizilien, Palermo, Syrakus, Taormina, Cefalu. Da ich es vermied, die Online-Dienste per Handy abzufragen, trat der Krieg entlastend in den Hintergrund. Einmal sah ich an einem Zeitungskiosk die Schlagzeile „Mariupol“ und das Foto zerstörter Gebäude. Auch ohne mein miserables Italienisch konnte ich leicht verstehen, was der Fall war. Mariupol wird als Symbol in die Geschichte der Kriegsverbrechen eingehen und wird, wie viele ähnliche Symbole, mit ihnen eines Tages im Orkus der Geschichte verschwinden.
14. April
Monreale: Dass dieses Wunderwerk der normannischen Architektur (Ende des 12. Jahrhunderts) noch unzerstört und kaum verändert existiert, ist ein Wunder. Die kunstvollen Mosaiken auf den Wänden erzählen dem, der sie kennt, die biblischen Verheißungen. Alles läuft auf das leuchtende Bild des Pantokrators zu, des Weltenschöpfers und Weltenretters. Als ich davor erschauerte (und später abermals im Dom zu Cefalu, wo ein ähnlicher, vielleicht noch schönerer Gott-Christus seine Arme in segnender Gebärde ausbreitet), dachte ich: Was sagt das über den Glauben dieser Zeit? Es muss das Gefühl gewesen sein, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Der Pantokrator vermittelt einen siegesgewissen Optimismus, der die normannischen Herrscher erfüllt haben muss, sonst hätten sie die exorbitanten Anstrengungen, die zum Bau der Kathedralen in Monreale und in Cefalu notwendig waren, nicht auf sich genommen. Und was, so dachte ich weiter, bedeutet es für die Geschichte des westlichen Christentums, dass an die Stelle des auferstandenen Siegers der am Kreuz leidende Christus getreten ist? Und er leidet ja immer sichtbarer, bis hin zu jenem von Holbein gemalten Bild, wo der Tote keineswegs so aussieht, als könnte er jemals unversehrt wieder auferstehen. Dieses Bild spielt im „Idioten“ Dostojewskis eine zentrale Rolle. Der Fürst Myschkin (der Idiot) besucht seinen Widersacher Rogoshin in dessen düsterem Haus, wo in einem Raum mehrere Bilder hängen, darunter eine Kopie von Holbeins gemartetem Christus. Er kenne das Bild, sagt der Fürst, er habe das Original im Ausland gesehen und könne es nicht mehr vergessen. Ich zitiere aus der Übersetzung von E. K. Rashin (Piper 1977):
„Aber wie ist's, Lew Nikolajewitsch, ich wollte dich schon lange fragen, glaubst du an Gott?“ fragte plötzlich Rogoshin, nachdem sie ein paar Schritte weiter gegangen waren. „Wie sonderbar du fragst und … mich ansiehst!“ sagte der Fürst unwillkürlich. „Dieses Bild liebe ich zu betrachten“, sagte Rogoshin nach kurzem Schweigen, als hätte er seine Frage vergessen. „Dieses Bild!“ rief der Fürst unter dem Eindruck eines plötzlichen Gedankens ganz erschrocken aus, „dieses Bild! Aber vor diesem Bilde kann ja manch einem jeder Glaube vergehen!“
Die orthodoxe Kirche verehrt vor allem den auferstandenen Christus, weniger den gekreuzigten.
18. April
Fahrt mit dem Mietwagen von Palermo nach Syrakus. Die Autobahn schneidet sich elegant einen Weg durch die engen und immer steiler werdenden Täler des gebirgigen Inneren. Sie führt über Betonpfeiler, die alle Pässe und Niederungen auf Brücken überwinden – eine Meisterleistung der Ingenieurskunst. Traurig allerdings, dass die Betonkonstruktion auf weiten Strecken völlig marode, teilweise zusammengebrochen ist. Meist kann man nur einspurig fahren, und die Beschilderung ist ebenso überraschend wie absurd. Ich erinnerte mich an die neuen Wohnhochhäuser in Palermo, alle mit Balkons ausgestattet, und viele davon mit grünen Netzen unterfangen, damit durch die herabbrechenden Bauteile niemand verletzt würde. Man sagt, die Macht der Mafia in Sizilien sei geschwunden. Mag sein. Doch dass viele Baufirmen sträflich arbeiten, kann jeder sehen. Hinter Enna, der abenteuerlich hoch gelegenen Stadt in der Mitte der Insel, erschien vor unseren Augen plötzlich ein gewaltiger schneebedeckter Kegel: der Ätna!
19. April
Syrakus. Zur Vorbereitung hatte ich das legendäre Buch „Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802 „von Johann Gottfried Seume endlich gelesen. Es ist amüsant, weil der Autor eine freche Schnauze hat, und lehrreich, weil er die die sozialen und politischen Umstände aufmerksam, zuweilen sarkastisch schildert. Auf Sizilien hat er einen protestantischen Blick, der an den Kunstschätzen und den Sehenswürdigkeiten wenig interessiert ist, sondern vor allem den Niedergang der Landwirtschaft und das Elend der Bevölkerung missbilligend wahrnimmt. Auch dem Dom von Syrakus und dem hinreißend schönen Platz davor gewinnt er nichts ab, im Gegenteil erregt die Tatsache, dass die Kirche, errichtet zwischen den Säulen eines griechischen Tempels, alle Baustile seitdem vereinigt, bis hin zu der grandiosen barocken Fassade, sein Unbehagen. Er hatte sich, wie er erzählt, in den unwegsamen Tälern und Gebirgszügen des Inneren der Insel verirrt und dann einen Maultiertreiber gemietet, der ihn nach Syrakus brachte. In ihrem schönsten Teil liegt die Stadt auf der Insel Ortigia, etwa 50 Meter vom Festland entfernt. Obwohl sie vom Tourismus lebt, wirkt sie lebendig und authentisch. Was man von Taormina nicht sagen kann. Wie die Theaterkulisse eines übermäßig fantasievollen Bühnenbildners schwingt sich die Siedlung an den Steilhängen entlang. Der lange Corso und die schmalen Gassen treppauf, treppab sind vom Touristenstrom erfüllt. Nun ist es überflüssig, dass Touristen Touristen Touristen nennen, und ein Ort wie Taormina würde ohne sie gar nicht existieren.
28. April
In der ZEIT ein Streitgespräch über die Frage, ob „die Russen“ ein anderes Verhältnis zur Gewalt haben als „wir“. Das hatte die Politikwissenschaftlerin Florence Gaub in einer Talkshow behauptet und wurde nun mit Jens Siegert von der Böll-Stiftung konfrontiert. Natürlich musste sofort der Vorwurf des Rassismus einvernehmlich abgeräumt werden. Dabei geht es nicht um so etwas wie Rasse, sondern um eine andere kulturelle Tradition. Zur russischen gehört, worin sich die Diskutanten einig waren, die Stalin-Verehrung und die Weigerung, für dessen Verbrechen Rechtfertigung oder gar Wiedergutmachung einzufordern; zur westeuropäischen gehört ein Postheroismus, der allen Formen von Gewalt widersagt. Diese programmatische Friedfertigkeit wird von vielen Russen als Schwäche verstanden. Der einzige Denker, der das Heroische immer wieder begründet hat, war meines Wissens Karl-Heinz Bohrer. Seine Verteidigung der englischen Position im Falklandkrieg (1982) hat damals wütende Reaktionen hervorgerufen – und auch mich irritiert. Jetzt sehe ich: Eine Gesellschaft, die derart antiheroisch ist wie die deutsche, hat kein größeres Problem, als den möglichen Tod deutscher Soldaten unter allen Umständen verhindern zu müssen. Um die russische Mentalität zu verstehen, lohnt immer wieder die Lektüre Dostojewskis. Nach dem oben zitierten Gespräch verabschiedet sich der Idiot. Schon im Treppenhaus wendet er sich noch einmal um, und erzählt Rogoshin, wie er im Gasthof einer Kreisstadt übernachtet habe:
„Dort hatte sich in der vorhergegangenen Nacht ein Mord zugetragen, und so wurde natürlich, als ich eintraf, nur von diesem Mord gesprochen. Zwei vollkommen nüchterne und bejahrte Bauern, zwei alte Bekannte, oder man kann sogar sagen, zwei gute Freunde, hatten am Abend Tee getrunken und wollten in einem kleinen Stübchen übernachten. Der eine aber hatte in den zwei Tagen, die sie schon in der Stadt waren, bemerkt, daß der andere eine silberne Uhr an einer Glasperlenkette trug, die er früher an ihm nicht gesehen hatte. Dieser Mann war durchaus kein Dieb, er war sogar ein ehrlicher Kerl und für einen Bauern durchaus nicht arm. Die Taschenuhr aber gefiel ihm dermaßen und ihr Besitz erschien ihm so verlockend, daß er sein Messer nahm und, als sich der Freund abwandte, leise hinterrücks an ihn heranschlich, die Augen zum Himmel aufschlug, sich fromm bekreuzigte und inbrünstig betete: 'Gott, verzeihe mir um Christi willen!' – um darauf den Freund mit einem einzigen Stoß niederzustechen wie einen Hammel und ihm die Uhr aus der Tasche zu nehmen.“
Rogoshin kann sich über diese Geschichte vor Lachen und Begeisterung kaum beruhigen.
2. Mai
Im Körberforum Klavierabend mit der ukrainischen Pianistin Olena Kushpler. Sie spielte Musik des ukrainischen Komponisten Valentin Silvestrov, der jetzt im Alter von 83 Jahren aus seiner Heimatstadt Kiew nach Berlin geflohen ist. Die Stücke aus den Jahren 2001 und 2002 leben von einem extremen Reduktionismus, von der romantischen Sehnsucht nach dem Zauberton, der unter die Oberfläche des alltäglichen Getöses dringt und die Sekunde der wahren Empfindung ermöglicht. Die leise, tropfenförmige Abfolge der Töne, oft inspiriert durch Motive der Klassiker (Schubert, Wagner), unterbrochen durch lange, bedeutungsvolle Pausen, kam mir eher ambitioniert als gelungen vor. Doch war der Abend aus einem ganz äußerlichen Grund ein Ereignis. Zum ersten Mal seit vielen Jahren konnte man wieder einer solchen Versammlung, die etwa 150 Menschen zählte, ohne Impfausweis und ohne Maske beiwohnen. – Wikipedia zitiert im Beitrag über Silvestrov folgende Bemerkung von ihm: „Unter dem Sowjetregime war es so, dass ein falscher Akkord genügte und man wurde verfolgt. Damit hatte man eine gewisse Bedeutung, selbst wenn es im negativen Sinne war. Heute kann man den richtigen oder den falschen Akkord wählen und überhaupt niemand nimmt Notiz davon.“ Silvestrov ist nicht der erste, der diese Dialektik am eigenen Leib bitter verspürt hat.
5. Mai
Bis vor kurzem wusste kaum jemand, was eine Panzerhaubitze ist. Jetzt, da der Krieg sich immer länger und immer schrecklicher hinzieht, schießen die Militärexperten aus dem Boden. Intellektuelle, die sich vordem niemals zu militärischen Fragen geäußert hätten, geben nun ihre entschiedenen Ansichten dazu öffentlich bekannt und finden, dass die Lieferung solcher Waffen an die Ukraine eine dritten Weltkrieg wahrscheinlicher mache. Kassandra war vermutlich die erste Intellektuelle.
8. Mai
Immer wieder höre ich von dem Erfolg der Netflix-Serie Bridgerton und mache mit zwei Folgen einen Versuch. Verglichen mit Downton Abbey oder The Crown finde ich die Bilder und Kostüme aufgedonnert, die Dialoge uninspiriert, die Schauspieler mäßig. Doch F., die eine versierte Serienzuschauerin ist, sagt, es gehe nicht um die irgendwie realitätsnahe Darstellung des englischen Adels zu Beginn des 19. Jahrhunderts, sondern um ein Spiel mit Klischees, die durch zahllose ähnliche Serien in Umlauf seien. Dass die englische Königin Charlotte dunkelhäutig ist und nicht wenige der Hauptfiguren geradezu schwarz, stört mich. Das Colourblind Casting sieht diversity auch dann vor, wenn es allen Intuitionen widerspricht. F. sagt, man gewöhne sich rasch an die Farbigkeit einiger Darsteller. Sie hat recht. Nach vier oder fünf Folgen sehe ich das nicht mehr und finde nun auch die Schauspieler interessant. Stattdessen sehe ich Menschen der Jetztzeit: Ihre Körper kommen aus dem Fitness-Studio, ihre Gesichter zeugen von gesunder Ernährung. Wenn die sexuelle Gier sie packt, reißen sie einander die Kleider vom Leib, und wenn kein Bett in der Nähe ist, vögeln sie schon mal im Treppenhaus. Nun weiß ich nicht, wie englische Adlige um das Jahr 1804 herum sexuell miteinander umgegangen sind – vermutlich ein bisschen anders, als man es heutzutage in solchen Filmen sehen kann. Da die Menschen in Bridgerton absolut gegenwärtig denken und fühlen, wirken sie, als wären sie zu einer Zeitreise verurteilt worden und müssten sich nun der strengen Moral und den bizarren Ritualen einer längst vergangenen Zeit, die sie kaum verstehen, gegen ihre Gewohnheit unterwerfen. Zum Ausgleich dürfen sie prachtvolle Schlösser bewohnen und sich in wunderbare Gewänder kleiden. Daraus entsteht der Reiz der Serie.
9. Mai
Lesefrucht
„Jedes Zeitalter hat seine Vorlieben unter den vorhergegangenen Perioden, und das nennt man dann Renaissance oder Romantik oder Klassizismus oder sonstwie … an solchen Kehren leben ganze Völker und Kulturkreise dicht an irgend einem früheren Abschnitte, ja tatsächlich viel näher als am Jüngstvergangenen. Gebärden und Fühlweisen und Denkweisen kehren wieder und selbst die Landschaft wird in der wiedererwachenden Art von ehemals gesehen: jedoch auch diesmal ist's ja etwas gänzlich neues, Frisches – und so wird es auch erlebt! – denn eigentliche Wiederholungen gibt es nicht. Jedesmal aber muß die ganze Vergangenheit neu geordnet und gesichtet werden, da ja jedesmal ihr Schwerpunkt, nach welchen sich alles richten muß, anderswohin verschoben ist: nämlich in eine andere Gegenwart und das heißt aber zugleich auch in einen anderen jetzt tiefinnerlich verwandten und höchst gegenwärtigen Teil der Vergangenheit. Deshalb ist jede echte Geschichtsschreibung Geschichte der Gegenwart, mag sie auch jeweils mit Römerzeiten oder dem hohen Mittelalter oder irgendeiner anderen Zeitspanne sich befassen. Nein, die Vergangenheit ist nichts Festliegendes, wir gestalten sie immer neu. Die ungeheuren Massen ihrer Tatsachen sind nichts, unsere Auffassung davon aber alles. Darum muß jede Zeit von neuem Geschichte schreiben.“ (Heimito von Doderer: Die Dämonen, S. 109)
11. Mai
Der Krieg geht unvermindert weiter. Mariupol offenbar vollständig zerstört. Gleichwohl meldet die ukrainische Seite Erfolge. Ob sie stimmen, weiß man nicht. Der Krieg ist auch die Küche der Gerüchte. So gibt es Vermutungen, Putin leide an Parkinson oder gar an Krebs. Die Hoffnung, es treffe zu, ist ebenso erbärmlich wie die Lage.
12. Mai
Der russische Theater- und Filmregisseur Kirill Serebrennikow, der schon seit Jahren von Moskauer Behörden schikaniert und drangsaliert wird, ist jetzt (einstweilen oder endgültig?) in den Westen emigriert. Peter Kümmel führt in der ZEIT (12. Mai) ein Gespräch mit ihm, wo S. sagt: „Die Propaganda sickert wie Gift ins Volk ein. Man hört ein paar Minuten lang zu und denkt: Ja, der Krieg muss sein, man muss diese 'Faschisten' bombardieren.“ Kümmel fragt: „Was ich unfassbar finde, ist, dass die russische Propaganda den Leuten erzählt, die Ukrainer seien nur raffinierte Betrüger, die all die Angriffe auf Krankenhäuser, Kindergärten, Wohngebiete nur faken – sie seien also gar keine Opfer, sondern abgefeimte Theaterspieler.“ Antwort: „Ja, es wird den Zuschauern eingeredet, das seien Schauspieler und sie täten nur, als ob. Butscha, alles Fake! Was für eine wahnsinnige Propaganda-Lüge. Ich wuchs in den letzten Jahren der Sowjetunion auf, und das war ein wirklich verrotteter Staat. Korruption und Alkoholismus waren allgegenwärtig, die Leute spürten, dass sie hier keine Zukunft hatten. Aber an jedem öffentliche Gebäude hingen riesige Transparente, Plakate mit der Aufschrift 'Frieden'. Wir brauchen Frieden für die Welt! Die Ideologie der Sowjetunion war sehr heuchlerisch. Einerseits bestand Einigkeit darüber, dass der Krieg das Allerschlimmste ist, etwas, das nie mehr passieren darf. Andererseits führte man Krieg in Afghanistan. Es gab beides zugleich. Aber man hat sich für den Krieg geschämt, man hat es vermieden, über ihn zu sprechen. (…) Die Russen schienen mir immer ein friedliebendes Volk zu sein. Jetzt ist es für mich extrem deprimierend, wie schnell friedliche Menschen aller Generationen in Russland sich neu besannen und zu Kriegsbegeisterten wurden. Das ist eine erschreckende Veränderung der Natur eines ganzen Volkes. Oder vielleicht hatte ich keine Ahnung, wie dieses Volk ist, und verweilte in romantischen Illusionen.“ – „Warum ging das so schnell? Das kann doch nicht nur die Propaganda bewirken…“ – „Es kommt auch das Gefühl der imperialen Unterlegenheit dazu. Die Russen fühlen sich unterdrückt, betrogen, isoliert, verlassen vom Westen, von Amerika. Sie sind verbittert. Sie fühlen sich als Verlierer, und jetzt bietet ihnen die Macht eine Revanche. Für ihr schlechtes Leben in den Neunzigerjahren, den heutigen niedrigen Lebensstandard machen sie den Westen verantwortlich. Und wir kommen zur Wiederholung des alten imperialen Wahnsinns: 'Wir holen das wieder zurück, was uns gehört, koste es uns, was es wolle.'“ – „Es geht auch um Rache?“ – „Auf jeden Fall. Rache am Westen.“ – „Gibt es irgendeine Chance auf Widerstand gegen Putin aus der russischen Gesellschaft heraus?“ – „Nein. Das Volk unterstützt das Regime. In Russland funktioniert Widerstand nicht.“
16. Mai
Deniz Yücel, der im vergangenen Herbst neu gewählte Präsident des PEN, hat die Politisierung des Vereins, dem ich durch die Fürsprache Elsbeth Wolffheims angehöre, rüde vorangetrieben, indem er eine Flugverbotszone für die Ukraine forderte. Einige Mitglieder sahen darin einen Verstoß gegen das Friedensgebot der PEN-Charta und verlangten seinen Rücktritt. Der Streit eskalierte. Bei der Jahrestagung in Gotha gab es wüste und peinliche Beschimpfungen, Yücel gewann eine Kampfabstimmung äußerst knapp, trat dann mit der Begründung zurück, er wolle nicht Präsident dieser „Bratwurstbude“ sein. Die Metapher war daneben, machte aber wegen ihrer Deftigkeit weithin die Runde. Dass der Präsident des PEN auf geradezu schmerzhafte Weise sich einer vulgären Sprache bedient, scheint viele nicht zu stören. Es ist ja auch dieser Verein nicht der Versammlungsort nachdenklicher Schriftsteller, sondern die Heimat unmaßgeblicher, ideologisch angetriebener Schreiber, wie eben auch Yücel. Er ist weder „Poet“ noch „Essayist“ noch „Novellist“, sondern ein Journalist, der gerne Krawall macht. Die Theorie, es handele sich bei all dem um einen Konflikt zwischen Alten und Jungen oder zwischen Traditionalisten und Erneuerern, scheint mir falsch. Das Problem des PEN (wie übrigens auch der Hamburger Akademie) besteht in der Dominanz des Mittelmaßes. Gute, sehr gute Autoren haben in der Regel keine Lust und keine Zeit, an dem zeitraubenden Gewese eines solchen Vereins mitzuwirken. Derartige Institutionen können von Glück sagen, wenn sich namhafte, seriöse Gestalten in ihnen engagieren. Das Problem erinnert mich an eine Bemerkung des Generals Kurt von Hammerstein über Offiziere: „Ich unterscheide vier Arten. Es gibt kluge, fleißige, dumme und faule Offiziere. Meist treffen zwei Eigenschaften zusammen. Die einen sind klug und fleißig, die müssen in den Generalstab. Die nächsten sind dumm und faul; sie machen in jeder Armee 90 Prozent aus und sind für Routineaufgaben geeignet. Wer klug ist und gleichzeitig faul, qualifiziert sich für die höchsten Führungsaufgaben, denn er bringt die geistige Klarheit und die Nervenstärke für schwere Entscheidungen mit. Hüten muss man sich vor dem, der gleichzeitig dumm und fleißig ist; dem darf man keine Verantwortung übertragen, denn er wird immer nur Unheil anrichten.“ Wahr ist leider, dass die Dummen und Fleißigen in den meisten Institutionen die Mehrheit bilden.
18. Mai
Ich lese Uwe Tellkamps neuen Roman „Der Schlaf in den Uhren“ mit höchst gemischten Gefühlen. Vor allem dort, wo er an seinen grandiosen Roman „Der Turm“ anknüpft und den Alltag in den letzten Jahren der DDR schildert, gewinnt er literarische Höhe. Der Versuch jedoch, im vereinigten Deutschland eine Wiederkehr autoritärer Machtstrukturen zu entdecken, die jetzt allerdings in einem Netzwerk von Medien und Parteien moderner und effektiver organisiert sind, ist unplausibel und oftmals schwer verständlich. Man spürt den Zorn und die Verbitterung des Autors, bleibt aber über sein Ziel im Dunkeln. Die Dokumentation in 3sat (Der Fall Tellkamp - Streit um die Meinungsfreiheit am 12. Mai) war zwar ersichtlich um Fairness bemüht, litt aber an einer hektischen Bebilderungswut. Wenn Tellkamp an der Elbe entlang geht und seine Gedanken äußert, dann bleibt das Bild nicht bei ihm, sondern schwenkt ständig zwischen den Panoramen Dresdens hin und her; wenn Monika Maron in ihrem Ferienhaus auf dem Land zur Meinungsfreiheit befragt wird, dann wartet die Kamera nicht auf ihre Antwort, sondern blendet Marons Versuche, ihren Hund einzufangen, dazwischen, gerade so, als wäre die Regie nur an visueller Abwechslung interessiert und nicht an einem ernsthaften Diskurs.
25. Mai
Veranstaltung in der Akademie zu meinem Dienstboten-Buch. Mosebach und ich auf dem Podium, sehr angenehme, gute Moderation von Jan Bürger. Es fällt mir immer schwer, meine eigenen Auftritte zu beurteilen, doch die überaus freundliche Reaktion des Publikums ließ darauf schließen, dass der Abend nicht misslungen war. Leider war er mit etwa 25 Gästen schwach besucht. Wir hatten nicht bedacht, dass der Himmelfahrtstag oder Vatertag bevorstand und viele Menschen sich ein langes Wochenende gönnen würden.
1. Juni
Der Krieg geht mit wachsender Brutalität weiter. Heute haben die USA zugesagt, weitere schwere Waffen zu liefern, darunter Raketenwerfer. Es ist von Giftgasangriffen der Russen die Rede. Das zögerliche, widersprüchliche Verhalten der Bundesregierung erntet Kritik. Ein totales Öl-Embargo scheitert am Widerstand Ungarns. Der Beitritt Schwedens und Finnlands zur Nato scheitert am Widerstand der Türkei. Und was die Deutschen am meisten beschäftigt, ist die wachsende Inflation, die jetzt bei acht Prozent liegt. Die Medien schüren die Angst vor überfüllten Zügen wegen des 9-Euro-Tickets. Die FAZ amüsiert sich über diese bizarre Subventionspolitik: einerseits den Nahverkehr so zu verbilligen, dass man quasi gratis quer durchs Land reisen kann, und gleichzeitig die Steuer auf Diesel und Benzin herabzusetzen. Man dürfte, um das alles auszunutzen, gar nicht mehr zu Hause bleiben, sondern müsste pausenlos unterwegs sein. Was ohnehin das Ideal einer beschleunigten Gesellschaft ist.
2. Juni
Längeres Telefongespräch mit Mosebach, wo er unter anderem von seinem neuen Roman erzählte, der im Herbst erscheint, unter der Obhut Alexander Fests, der Rowohlt Richtung dtv verlassen hat, nach letztlich sinnlosen Kontroversen mit den oftmals unfähigen Chefs des Hauses Holtzbrinck. Sein Roman sei streng genommen „nur“ eine Novelle, was er eigentlich nicht möge. Auf Nachfrage plädierte er für ein offenes, jeder Ab- und Ausschweifung zugeneigtes Schreiben. Und als ich Doderers „Dämonen“, die ich gerade abermals lese, ansprach, reagierte er begeistert. Es gehe darum, im Sinne Doderers das Erzähltempo möglichst gering zu halten, so wie er es in seinem Roman „Krass“ probiert habe. Stimmt. Und ich muss zugeben, dass ich diese Idee, als ich das Buch las, nicht wirklich kapiert hatte. Das allerdings wollte ich ihm nicht sagen. Irgendwie kamen wir auf Enzensberger, und Mosebach sagte mir, dass der nun 92-jährige sich dem Ende zuneige und im Rollstuhl sitze. Diese Vorstellung will mir nicht in den Kopf. Ich kann mir HME nur als hüpfend vorstellen.
6. Juni
Mit unseren Freunden, die an der Alster wohnen, Paddelfahrt in ihrem Kanu durch die Alsterfleete. An diesem Pfingstmontag waren die Wasserstraßen so voll mit Stehpaddlern und Booten aller Art, dass man an manchen Stellen trockenen Fußes das Wasser hätte überqueren können, wie weiland Jesus. Dass nicht weit von uns ein mörderischer Krieg herrscht, konnte man angesichts des luxuriösen Treibens leicht vergessen, und es mag sein, dass dies, jedenfalls nebenbei, das Ziel vieler der Vergnügten gewesen ist.
7. Juni
In der NZZ eine Beitrag des katholischen Publizisten Bernhard Meuser, wo er darauf aufmerksam macht, dass an die Stelle der alten theozentrischen Theologie ein anthropozentrische getreten ist. Wegbereiter dieser Wende sei Karl Rahner gewesen. Dessen Grundgedanken beschreibt Meuser so: „Um von Gott heute etwas sagen zu können, müsse man vom Menschen reden, dessen tiefstes Geheimnis eben Gott sei. Rahner empfahl, den Teppich des Glaubens transzendentaltheologisch, also gewissermaßen von Rückseite her, zu lesen. Alle Theologie habe von nun an Anthropologie zu sein und umgekehrt.“ Die transzendentale Bindung jedoch, auf die Rahner großen Wert legte, sei heute weitgehend verschwunden, so Meuser. „Gott wird zur segnenden Randfigur unseres Tuns; er ist ethisch nicht mehr konstitutiv.“ Wenn ich die Verlautbarungen der Reformkatholiken höre, kann ich Meuser nur recht geben.
8. Juni
Wetter sehr wechselhaft, Sonne, Regen, viel Wind, recht kühl – also ein normaler Juni. Aber die Rosen! Ihre Pracht nähert sich dem Höhepunkt. Ständig bin ich dabei, neue Stützstäbe anzubringen. Es sind hilfsbedürftige Pflanzen. Jetzt, da die Tage immer länger werden und die Temperaturen freundlich sind, wächst alles im ungehinderten Trieb, und der Gärtner müsste täglich an die Arbeit, wenn er seine Ideale verwirklichen wollte.
11. Juni
In Berlin wurde ein neuer PEN-Club gegründet, der „PEN Berlin“. Leitende Figur ist offenbar Deniz Yücel, assistiert von Eva Menasse. Namhafte Schriftsteller sind dabei, darunter Christian Kracht und Daniel Kehlmann. Zu den Zielen des Vereins zählt die „Inklusion“, also auch die gendergerechte Sprache. Es könnte sein, dass Yücel, der den alten PEN als Bratwurstbude bezeichnete, eine neue gegründet hat.
18. Juni
Verabschiedung Michael Naumanns als Direktors der Barenboim-Said-Akademie, zugleich Präsentation des Sammelbandes, wo etwa siebzig Weggenossen Erinnerungen zum Besten gaben, darunter auch ich. Im Pierre-Boulez-Saal spielten junge Absolventen der Akademie ein Streichquartett von Webern sowie Schuhmanns Klavierquintett Es-Dur op. 44. Die Darbietung erste Klasse. Kurzes Dankeswort von Naumann, der gebeugt wie ein alter Mann, der er ja ist, zum Mikrophon ging und etwas hinfällig wirkte – ebenso Barenboim. Auch er wirkte erschöpft. Ein trauriger Anblick. Beim Empfang trat meine alte Schwäche wieder hervor, Menschen nicht zu erkennen, so etwa Verena Luyken, die sichtlich pikiert war, und Karin Graf, die nunmehr wie eine wohlwollende Matrone wirkte und mir mein zögerndes Erkennen nicht verübelte. Nettes Gespräch mit ihr und ihrem Mann Sartorius über Syrakus. Peter Schneider klagte über seine Geldprobleme, Thomas E. Schmidt höhnte über die ZEIT, Wolf Lepenies freute sich, dass ich ihn erkannte und auf ihn zuging. Als ich Tage später mit Joffe telefonierte, sagte er, Naumann sei schwer krank gewesen. Er, Joffe, sei nicht nach Berlin gekommen, weil er an der Schulter operiert worden sei. Außerdem möge er Veranstaltungen nicht, bei denen er, ähnlich wie bei Klassentreffen, registrieren müsse, wie alte die anderen geworden seien – und er leider auch. Da hat er unbedingt recht, und so war dieses Abschiedstreffen auch eine Art Memento mori. Joffe sagte, dass er sich innerlich von der ZEIT verabschiedet habe. Giovanni habe aus einem high-brow-Organ eine middle-brow-Zeitung gemacht. Der Erfolg gebe ihm recht, aber ihn interessiere das Blatt kaum noch. Er schreibe jetzt für die NZZ. Das sollte ich auch tun.
19. Juni
Der Weg vom Hilton am Gendarmenmarkt bis zum Schloss, das nunmehr Humboldt-Forum heißt, ist wahrlich nicht weit, aber bei 37 Grad Hitze doch so anstrengend, dass wir die kühlen Innenräume dieses seltsamen Konglomerats aus nachgemachtem Schloss, moderner Architektur und ethnologischen Sammlungen gerne aufsuchten, obwohl ich am Ende nicht ganz verstanden habe, was das Ganze soll. Die Kuratoren sind offenkundig von starken antikolonialistischen Wiedergutmachungswünschen erfüllt, während die extrem unterschiedlichen Objekte aus Afrika, Asien und Südamerika eine völlig andere, zumeist schwer verständliche Sprache sprechen. Erstaunlich, dass wir zeitweise die einzigen Besucher zu sein schienen. Es war ein wirklich heißer Sonntag, und da in Berlin ja nie etwas fertig wird, blies ein Wüstenwind den Staub der Baustelle über den Schlossplatz. Abend Besuch der „Elektra“ in den Lindenoper, wo wir noch nie waren. Relativ kleines Haus, recht hübsch, gute Akustik. Es war die alte, hoch eindrucksvolle Inszenierung von Patrice Chéreau. Grandiose Sänger. Die Musik von einer geradezu wütenden Aggressivität. Ging mir sehr nahe.
20./21. Juni
Grand Hotel Heiligendamm, Abschiedsgeschenk von Giovanni. Wunderbares Zimmer mit Blick auf Strand und Seebrücke, großes Schwimmbad, das gesamte Interieur entschlossen luxuriös. Überall die schönsten Blumenarrangements. Und doch wirkte die Szenerie etwas leblos. Das Ensemble der insgesamt sieben Häuser scheint wie vom Himmel herabgefallen, die berühmten weißen Villen am Ufer frisch angemalt und weitgehend unbewohnt.
28. Juni
Michel Krüger las bei Felix Jud. Es war ein herzliches Wiedersehen, nach langer Zeit. Er wirkte wie früher, natürlich älter geworden, aber vital und witzig. Ein wahres Wunder nach seiner offenbar weitgehend überstandenen Leukämie. Er las aus einem Büchlein „Strandbad“, angefüllt mit schönen, humorvollen, nachdenklichen Erinnerungen an seine Jugend in Berlin. Er ist schon ein ganz besonderer Bursche. Seltsam: Danach wollte man essen gehen, der Buchhändler Robert Eberhardt, ein smarter, nicht unsympathischer junger Mann, offenbar der neue Geschäftsführer, sagte mir, Erika Hegewisch lade zu einem Essen, wolle aber nicht, dass zu viele Gäste dabei seien. Es ging nicht ums Geld, sondern darum, dass Hegewisch mit ihrem Michel allein sein wollte. Wir standen unten an der Tür, Petra Kipphoff, die beiden Garbes, ich und sonst noch jemand, als Hegewisch die Treppe runterkam, an uns vorbeiging und laut zu allen „Auf Wiedersehen!“ sagte. Das war sehr deutlich. Also setzte ich mich auf mein Rad und fuhr nach Hause. Ich erinnerte mich daran, dass Erika uns damals vor etwa zwanzig Jahren ihr Haus auf Rhodos zur Verfügung gestellt hatte. Öfter waren wir in ihrem Haus im Leinpfad eingeladen gewesen, noch in der Zeit, als es Klaus H. schlechter ging. Jetzt ist ein böses altes Weib aus ihr geworden. Vielleicht war sie immer schon böse.
30. Juni
Evelyn hatte mich gebeten, eine Glosse zu einer Bildseite über aufgelassene Kirchen zu schreiben. Ich erwähnte dort auch die von meinem Vater erbaute Kirche St. Christophorus in Frankfurt-Preungesheim, die abgerissen werden soll. Mein Beitrag fand großes Gefallen, Giovanni schickte mir eine lobende Mail.
2. Juli
Sah den vielgelobten Elvis-Film von Baz Luhrmann. Er war laut und grell, ohne die grandiose Sangeskunst wirklich zu vergegenwärtigen. Dem Drehbuch zufolge war Elvis das Opfer eines ruchlosen Managers, der ihm das Geld aus den Taschen zog und verspielte, ihn einem gewissenlosen Arztes auslieferte und mit Aufputschmitteln vollpumpen ließ. Tom Hanks spielte diesen schmierigen, sentimentalen Typen so überzeugend, dass es schwer auszuhalten war. Zu Hause versuchte ich, die alten Platten zu hören, und merkte zu meinem Erschrecken, dass sie für mich jeglichen Reiz verloren hatten. Es war wie ein schwaches Echo aus fernen Jugendtagen.
3. Juli
Ich hatte Martin W. mein Büchlein geschickt. Daraus entspann sich die folgende Korrespondenz:
„Lieber Ulrich, dass ich mich so spät für das Buch bedanke war Vorsatz: Ich wollte es erst lesen. Das habe ich nun getan und ich bedanke mich erstens für das Geschenk und zweitens für eine unterhaltsame, kurzweilige und zugleich lehrreiche Lektüre. Von der Dienstmagd zu den himmlischen Heerscharen, darauf muss man erst einmal kommen. Respekt. Was nun den Staat als zunehmend geforderte Fürsorgeeinrichtung und als Adressat einer Vielzahl von Partikularinteressen betrifft, die er möglichst gleich und jetzt und zu hundert Prozent verwirklichen soll, so glaube ich, dass dieser Zustand nicht allein auf das Zerfasern von Familien und Familienverbänden zurückzuführen ist. In der Wählerforschung haben wir schon in den 1970er Jahren einen bedenklichen Bedeutungsverlust der Milieus festgestellt, also Kirchen, Gewerkschaften, Vereine, Nachbarschaften. Für viele war das eine Befreiung aus verkrusteten Strukturen und sozialen Zwängen. Einerseits ein Akt der Freiheit. Andererseits stellte sich aber auch bald die Frage, wer die Funktionen übernimmt, die bislang die Milieus erledigten. Die Antwort schälte sich langsam heraus: der Staat. Der beste Beleg dafür sind die von Wahlperiode zu Wahlperiode immer detailreicher gewordenen Wahlprogramme und Koalitionsvereinbarungen. Da geht es nicht mehr darum, den Staat als den Löser der großen, strategischen Probleme zu verstehen, sondern er wird zum Erfüller auch noch der abseitigsten Ansprüche. Regierungsprogramme strömen heutzutage Angstschweiß aus: Bloß keinen vergessen. Der Staat macht sich zum Diener für alles und jeden. Das Bizarre dabei ist, dass wir ideologisch weniger Staat wollen. Der soll sich raushalten aus unserem Laben. Aber zugleich wollen wir eine Regelungsdichte, die auch noch Minimalinteressen befriedigt. Und läuft es nicht so, wie es uns passt oder geschieht etwas, das uns Angst macht, dann schreien wir nach dem Staat und beschimpfen ihn zugleich, dass er nicht schon längst etwas unternommen hat. Der gegenwärtige Staat als Diener ist ein armes Schwein. – Ein anderer Punkt: Die Diener, vor denen man sich nackt zeigen kann, weil sie keine Personen sind und keine Gesichter haben. Gut, dass diese Zeiten vorbei sind und selbst der Hochadel gelernt hat, Menschen als Menschen zu nehmen. Ich befürchte allerdings, dass wir auf eine neue Spielart dieser Gesichtsblindheit zusteuern. Das Heer der Paketboten und Essenslieferanten, das, wie von Dir richtig beschrieben, überwiegend aus Migranten besteht, wird immer gesichtsloser. Nicht weil sie es so wollen, sondern weil sie von den Herrn und Damen so wahrgenommen, also faktisch nicht gesehen werden. Es bildet sich eine Spezies heraus, die es für ihr selbstverständliches Recht hält, zu jeder Zeit mit Essen und mit Waren versorgt zu werden, ohne ihr warmes Nest verlassen zu müssen. In Wien lebte in unserer Nachbarwohnung eine gelegentlich wechselnde Anzahl junger Menschen aus dem Dunstkreis der Uni. Ihnen allen gemeinsam war ein stetiger Strom von online-Paketen und die fast tägliche Lieferung von Pizza oder Nasi Goreng. Und das in einem Stadtviertel, in dem man alles das im Umkreis von 500 Metern kaufen konnte. Was mich aber wirklich erschreckt hat ist, dass die, die sich die Gesundheit ruinieren, um all diese Pakete zu liefern, von den Belieferten kaum bis gar nicht wahrgenommen werden. Wie ich darauf komme? Das Trinkgeld. Die Boten scheinen es kaum noch zu bekommen. Als zum ersten Mal einer von denen das Paket für die Nachbarn bei uns abgeben wollte, habe ich es genommen und ihm ein Trinkgeld gegeben. So wie der mich erst ungläubig angeguckt und dann sich gefreut hat, passierte ihm das eher selten. Wir haben dann noch ein paar Worte gewechselt. Als ich von der Nachbarin das Trinkgeld zurück haben wollte, hat sie es mir zwar gegeben, war aber doch extrem irritiert. Der Bote, so der unausgesprochene Vorwurf, wird doch schon von Amazon bezahlt. Dem Boten, der einen Dienst erweist, wird so auch noch die Würde genommen, ihn als Menschen zu erkennen und, durch das Trinkgeld, seinen Dienst anzuerkennen.
Nun habe ich schon zu viel geschrieben. Aber noch ein Nachtrag zum Staat: Ich bin mal gespannt, wie der sich unter dem Druck des Krieges Russlands gegen die Ukraine, der damit für Europa einhergehenden Bedrohung und der am Horizont flackernden chinesischen Aggressivität zurück verwandelt in den Staat, den wir brauchen, um solche Großkrisen zu bewältigen. Irmgard schrieb, dass ihr im Sommer in die USA wollt. Viel Spaß und Godspeed. Genießt das Land, solange es noch nicht ganz auseinandergefallen ist (worauf Putin und Xi dringlich warten). Mit dieser ermunternden Note. Erneuter Dank für das Buch. Viel Spaß auf dem Dampfer. Bleibt gesund. Und kommt doch mal in Brüssel vorbei.“
Meine Antwort:
„Herzlichen Dank für Deine gründliche Lektüre und Deine lobenden Worte! Das Thema ist weit größer als mein schmales Büchlein, das war und ist mir bewusst, aber gerade diese Beschränkung aufs Glossenhafte hat mich gereizt. In Sachen Staatsfixiertheit sind wir uns einig. Ich glaube, das Problem wird zunehmen. Dass der Opferstatus erstrebenswert ist, hat sich herumgesprochen. Interessant ist, was Du über die neuen Unsichtbaren sagst. Das kommt bei mir leider nicht oder fast nicht vor. Der Briefträger ist ja eine anerkannte Respektsperson, der Unsrige kriegt immer was zum neuen Jahr. Der Pizza- oder Paketbote ist das nicht. Wir bestellen ganz selten Sachen online und Pizza fast nie. Doch weil wir im Erdgeschoss wohnen und meist zu Hause sind, klingelt man oft bei uns, und wir nehmen die Pakete dann an. Das kann am Tag bis zu dreimal passieren, und jedesmal sind es andere Dienste, andere Boten. Und dann wundern sich die Leute, wenn die kleinen Läden zumachen. – USA: kein schönes Thema. Wir sahen kürzlich den Film „Elvis“, kann ich nicht unbedingt empfehlen, lang, laut, schrill - und doch interessant. Solltet ihr vielleicht doch gucken.“
Martin W.:
„Elvis werden wir uns wohl ansehen. Der ist schließlich Teil unserer wilden Jugend. Damals sehnten wir ja noch die große Freiheit herbei und glaubten, sie ins Land geholt zu haben. Tja, und wo sind wir? In einem Land, in dem eine Biologie-Doktorandin von der Humboldt(!!)-Universität ausgeladen wird, weil sie über das Prinzip der Zweigeschlechtlichkeit in der Biologie reden will, was „kritische Jurist*innen“ für einen Affront gegen die queere Gemeinde halten. Da der Herr auf diese Woke-Irren offensichtlich kein Hirn regnen lässt, dröhne ich mir den Frust über diese schöne, neue Welt gelegentlich mit Elvis, Freddy Mercury, den Stones, den Beatles und gelegentlich auch mit Jacques Brel weg. Und hänge den Zeiten nach, als wir uns noch in verräucherten Kneipen die Köpfe heiß geredet haben über … ach was! – Wäre ich noch jung und Soziologe würde ich mich intensiv mit den neuen Unsichtbaren beschäftigen. Aber ich bin weder das eine noch das andere. Dafür lese ich gerade von W.G.Sebald „On the Natural History of Destruction“. Das schmort schon seit Jahren – komischerweise in der englischen Fassung – in meinem Bücherregal. Das Original auf Deutsch war, glaube ich, Luftkrieg und Literatur. Da wir gerade mal wieder einen Krieg haben, dachte ich mir, es wird Zeit, das Büchlein zu lesen. Lohnt sich, macht einem aber nicht gerade Mut. Sebald würde vermutlich gar nicht erst an die Humboldt-Universität eingeladen. Was haben wir in der 68er Bewegung an den Unis falsch gemacht, dass sich da heute Weicheier, Feiglinge und Sesselfurzer breit machen.“
Meine Antwort: „da muss ich Dir doch widersprechen. Der Fall Vollbrecht erinnert mich stark an meine Studentenzeit. 1967 war ich in Tübingen, und ich weiß noch, dass wir dort vom Sechs-Tage-Krieg mehr erschüttert waren als von dem Tod Ohnesorgs. 1968 in Frankfurt war alles anders. Hans-Jürgen Krahl und die beiden Wolff-Brüder spielten da eine große Rolle. Die Goethe-Universität hieß jetzt Karl-Marx-Universität, das Deutsche Seminar hieß Walter-Benjamin-Institut. Und es begannen die Go-Ins und Sit-Ins, Vorlesungen wurden gestört, Seminare gesprengt. Abweichende Meinungen, die dem herrschenden Neomarxismus nicht entsprachen, wurden nicht geduldet. Der Schweizer Germanist Martin Stern, der auf einen Lehrstuhl berufen werden sollte, zog es dann vor, als eine Kampagne gegen ihn losgetreten wurde, in Basel zu bleiben. Als mein verehrter Lehrer Paul Stöcklein sich angesichts der aggressiven Studenten an die Nazi-Zeit erinnert fühlte und dies öffentlich bekundete, verstand ihn niemand, ich übrigens auch nicht. Waren wir nicht auf der richtigen Seite? Der Bund Freiheit der Wissenschaft, den man neu gründen müsste, erregte unseren Spott. Ich war nie aktiv, fand „die Linken“ halb plausibel, halb schrecklich. Freunde und ich gründeten die USL, die unabhängige Studentenliste und errangen einen Sitz. Immerhin, aber das wars. Aus den Linken von damals sind heute die Woke-Fanatiker geworden. Der Unterschied freilich: Die Uni-Leitungen damals waren rechts oder bürgerlich, heute sind sie linksgrün. Seltsam nur, dass gerade die Universitäten so oft zum Ort des Fanatismus geworden sind und werden. Die Gender-Ideologie spielt eine ähnliche Rolle wie damals der Marxismus, der eigentlich keiner war, sondern ein antiautoritäres Gehabe, und dies ziemlich frei von historischen Kenntnissen. Wie lange hat es gedauert, bis diese Verirrungen überstanden waren? 20 Jahre, 30? So lange mindestens werden wir mit den Genderisten leben müssen.“
Martin W.: „da hast Du auch wieder Recht. Ich möchte aber vier Bemerkungen machen:Viele von uns, ich eingeschlossen, waren schon 71/72 auf dem Weg in die Sozialdemokratie und weit weg von fanatisierten Vorlesungsstürmern. Was Du in Frankfurt gemacht hast, habe ich innerhalb der linken Bewegung in Aachen mitgegründet, die Unabhängige Hochschul Union (UHU) 1969, die mehrere Jahre die Mehrheit im Studentenparlament so wie den Asta gestellt hat. Da kann Dir Irmgard das eine oder das andere erzählen. Wir haben damals jedenfalls schon Konfrontation mit Kooperation verbunden und Hochschullehrer, deren Meinung wir nicht teilten, haben wir nicht vom Hof gejagt, sondern haben den streitigen Diskurs gesucht. Frankfurt war eben nicht überall. Für die Mehrheit von uns war die 68er Bewegung einerseits gewiss auch eine Art der Befreiung aus der Gräue der stark rechtslastigen Adenauer-Republik. Zugegeben, wir haben vieles historisch nicht so ganz begriffen. Aber der entscheidende politische Impuls war ein gemeinschaftlicher. Wir hatten die ganze Gesellschaft im Blick – oder glaubten es zumindest. Es ging um Umbau und um Reform von Staat und Gesellschaft. Einiges davon hat sich ja dann in der Reformpolitik der darauf folgenden Jahre realisiert. Wenn auch mit vielen Fehlern behaftet und in weiten Bereichen dilettantisch ausgeführt, so war unser Ansatz doch universalistisch. Die heutigen Bewegungen sind dagegen nicht universalistisch sondern identitär Sie wollen den Staat nicht besser (und stärker) machen, sondern nutzen ihn als Vehikel zur Durchsetzung ihrer gesellschaftlichen Partikularinteressen. Am Ende haben wir es mit einer zerbröselnden Gesellschaft zu tun. Der Partikularismus, den wir zunehmend in den Gesellschaften der westlichen Welt beobachten können (leider auch sehr stark in Frankreich), ruiniert unsere Staaten. Er befördert den dekadenten Niedergang dieser Gesellschaften, von dem die Diktatoren der Welt glauben, dass er unvermeidlich ist und auf den sie ihr Geld setzen. Auch das hat zu Putins Entschlossenheit beigetragen, zum kriegerischen Landraub aufzubrechen. Fanatismus scheint ein Zug in vielen Jugendbewegungen zu sein. Damit muss man leben. Anders als 68 erleben wir aber heute einen servilen, vorauseilenden Gehorsam von Uni-Leitungen o.ä., wenn nur irgendein Grüppchen ein Flugblatt verbreitet. Das habe ich in den 68er Jahren so nirgendwo erlebt, dafür habe ich mich (als AstA-Vorsitzender) aber auf vielen Podien mit Ministern und Hochschulleitungen über den richtigen Weg gefetzt – woraus übrigens einige gute Bekanntschaften entstanden sind. Die Schreckstarre, in die heutige Verantwortlich verfallen, wenn ihnen nur ein paar Triggerworte aus dem Genderbrei entgegengeschleudert werden, zeugt von einer verbreiteten Charakterschwäche.
Ich würde mal sagen, dass wir in den kommenden Jahren mengenweise Gender-Lehrstühle an deutschen Unis sehen werden, aber keine oder nur sehr, sehr wenige, die sich mit militärischen oder geostrategischen Fragen oder mit dem weltweiten Trend zu modernisierten Tyranneien beschäftigen. Aber natürlich gebe ich zu, dass es die Kinder der 68er sind, die jetzt an den Unis bestimmen. Kein schönes Ergebnis.“
5. Juli
Las Doderers „Dämonen“ und lese jetzt die von Dostojewski. So unähnlich die Romane auch sind, so gibt es doch zwei direkte Bezugspunkte. Einmal sind es „die Unsrigen“, die bei Dostojewski so bezeichnet werden, ein lose Gruppe von Anarchisten, Umstürzlern, Ränkeschmieden, Fantasten. „Die Unsrigen“ bei Doderer sind Freunde, die einander aus Sympathie verbunden sind, sich in alkoholischen Ausschweifungen ergehen und die Zeitläufte in spielerischer und verspielter Distanz betrachten, so dass sie das nahende Unheil zwar ahnen oder gar sehen, aber nicht willens oder imstande sind, sich ihm entgegenzustellen. Schließlich ist es der Erzähler, der bei Dostojewski nur „G–ff“ heißt (in der Piper-Ausgabe Seite 120), bei Doderer ebenso, manchmal auch „Geyrenhoff“. Gemeinsames Thema ist das Problem, dass inmitten scheinbar friedlicher Umstände das Böse hervorbricht, dass plötzlich die Dämonen auftauchen, die bösen Geister.
9. Juli
Widersprüchliche Nachrichten vom Krieg. Es scheint den Russen gelungen, den gesamten Donbass zu erobern. Immer wieder Raketenbeschuss ziviler Ziele inmitten der Ukraine. Die öffentliche Erregung konzentriert sich vor allem auf den drohenden Wegfall des russischen Gases.
10. Juli
Christian Lindner, Finanzminister und FDP-Chef, hat die zehn Jahre jüngere Journalistin Franca Rehfeldt geheiratet (oder umgekehrt), und zwar in der St.Severins-Kirche in Keitum. Beide sind sie schon vor geraumer Zeit aus der protestantischen Kirche ausgetreten, sei es, um Geld zu sparen, sei es, um den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen, was sie aber nicht hinderte, eine der ältesten Kirchen Norddeutschlands als Kulisse zu missbrauchen und sich den Segen der zuständigen Pastorin zu erschleichen. Es gibt Menschen, die gerne Vorteile sammeln. Außerdem weiß man nicht, ob das Hufeisen über der Tür gegen Ungemach hilft,. Schaden kann es jedenfalls nicht. Die Braut kam in ihrem Porsche, der CDU-Vorsitzende Merz mit seinem Privatflugzeug, der Festredner Sloterdijk mit dem Zug. Anschließend feierte man in der Sansibar. „Wasser predigen und Champagner trinken“, schrieb die taz.
17. Juli
Eine Hitzewelle lastet über weiten Teilen Europas. In den Nachrichten sieht man brennende Wälder, hört von den Toten in den Großstädten und von den evakuierten Menschen in den Strandgebieten. Eine anhaltende Trockenheit auch in Deutschland verdirbt die Ernte und behindert den Schiffsverkehr. Alle Medien berichten von der Katastrophe, der Klimawandel scheint nun wirklich in gefährliche Nähe gerückt. Zugleich wächst die Furcht vor der Gaskrise. Putin spielt virtuos mit der allmählich sich aufbauenden Panik wegen eines möglicherweise kalten Winters, in dem die Warmduscher und die Schreibtischhocker schrecklich leiden werden. Die nunmehr überall sogenannte Ampelkoalition macht einen konfusen Eindruck. Ob die Atommeiler über den 31. 12. 2022 hinaus Strom erzeugen dürfen, ist ebenso umstritten wie die Frage, ob und welche Kohlekraftwerke wieder in Betrieb gehen sollen. Die Grünen, derzeit die sichtbarste und hörbarste Kraft, setzen auf Windräder. Doch selbst die wütendsten Stürme werden werden nicht genug Strom erzeugen können. Freunde haben sich schon mit Infrarot-Strahlern versorgt. Anstatt darüber zu spotten sollten wir vielleicht froh sein, wenn wir sie an frostigen Tagen besuchen dürfen – vorausgesetzt, es gibt dann genug Strom.
20. Juli
Im Kino: „Eine Sekunde“ von Zhang Yimou. Die Schwertkampf-Filme, die ich von ihm kenne, sind Wunderwerke einer Choreografie der Farben und Bewegungen. In „Hero“ wird die dieselbe Geschichte mehrmals erzählt und jedesmal in einer anderen Farbe, und in „House of the Flying Daggers“ gibt es knallbunte Szenen (wie am Anfang), dann herbstliche warme mit goldenem Laub, wo die Liebenden sich begegnen, dann kalt-grüne im Bambuswald, wo sich der dramatische Knoten schürzt, und schließlich die weite Wiese, die zum Schauplatz des letzten Kampfes wird. Dass die in einem dichten Schneegestöber immer weißer werdende Wiese dann von rotem Blut getränkt wird, ist der Gipfel des radikalen Ästhetizismus. In „Eine Sekunde“ nun gibt es zwei Stunden lang keine hellen Farben, nur Schattierungen von Braun und Grau. Das Braun der Wüste erscheint in einem allenfalls schmutzigen Ockergelb, die Kleider der armen Bauern mal in einem Graugrün oder Schwarzbraun. Der Film, dessen suggestiver Kraft ich mich nicht entziehen konnte, spielt in den sechziger Jahren, hat mit der Kulturrevolution zu tun und kreist in der Hauptsache um die Vorführung eines heroischen Propagandafilms in einem ärmlichen chinesischen Dorf. Die Geschichte der anfangs scheiternden, am Ende gelingenden Projektion ist verknüpft mit dem schrecklichen Schicksal zweier Menschen, eines jungen Waisenmädchens, von der eigentlich nichts zu sehen ist als die immens ausdrucksvollen Augen, und eines der Haft entflohenen Mannes. Zweierlei fiel mir auf: Einmal die groben, unhöflichen, lautstarken Umgangsformen der Menschen miteinander (sie erinnerten mich an meine lang zurückliegende Reise nach Shanghai und Peking), und dann die unübersteigbare Fremdheit, die Rätselhaftigkeit der von Zhang Yimou komponierten Kunstwerke. Die Frage, inwieweit er oppositionell ist oder im Sinne des Regimes agiert, führt nicht zum Kern des Problems. Die idealistische Vorstellung, letztlich ein Erbe unseres 19. Jahrhunderts, dass die Kunst eine alle Menschen und alle Kulturen verbindende Kraft besitze, scheint mir im Grunde ein Irrtum.
24. Juli
Nach langwierigen Verhandlungen unterzeichnen russische und ukrainische Delegierte in Istanbul ein Abkommen, das den Export ukrainischen Getreides sichern soll, um die Hungersnot in Afrika zu lindern. Am Tag darauf schlagen russische Raketen in Odessa ein, wo die Getreidespeicher liegen und auf die Verladung warten. Wie soll man mit jemandem verhandeln, der Wortbruch und Lüge für normale Umgangsformen hält?
25. Juli
Sogar in Hamburg ist es heiß und trocken, aber die Nächte sind angenehm kühl. Ab und an regnet es, gerade genug für den Garten. Dann wieder brennt die Juli-Sonne. Es fällt auf, dass sich die Mädchen und Frauen noch luftiger, noch verwegener kleiden als in früheren Jahren. Sah kürzlich auf dem Eppendorfer Baum ein hübsches Kind mit langen Beinen und kurzem Rock, dazu ein Oberteil, das den Bauch frei ließ, was derzeit unter jungen Frauen Mode ist. Ihre stolzen Brüste schaukelten sichtbar im knappen Gewebe. Sie mochte 17 oder 18 sein. Der Typ an ihrer Seite, vielleicht ihr Freund, war im gleichen Alter, und ich fragte mich, wie junge Männer mit derart naheliegenden Reizungen umgehen. Ein solches Ausmaß an Selbstbeherrschung wurde mir, als ich in diesem Alter war, keineswegs abverlangt. Mag sein, dass der heutige Mann solchen Offerten gegenüber (die im Ernst nicht so gemeint sind) langsam abstumpft oder beim eigenen Geschlecht Trost sucht. Es sind aber nicht nur die jungen Mädchen. Heute auf dem Parkplatz am Baumarkt kam mir eine etwa 50-jährige Frau entgegen, die lediglich ein Hemdhöschen trug, wie man sie früher kleinen Kindern zum Spielen anzog. Unter dem fast durchsichtigen Stoff waren ihre frei schwingenden Brüste leicht zu erkennen. Sie bemerkte meinen Blick (noch waren wir voneinander entfernt, ich bog dann zum Eingang ab), schaute an sich herab und schien mit dem Resultat recht zufrieden. Es sind aber solche Exhibitionismen – abgesehen von den Mädchen, die ihre Wirkung noch erproben – wohl eher Phänomene der Unterschicht, so wie einmal Harald Schmidt die Programme von RTL oder Vox „Unterschichtsfernsehen“ genannt hat.
1. August
Lesefrucht
„Ein menschlich Gleichgesinntes, ein Brüderliches ist mir freilich unwillkürlich (…) Was aber eine solch freudige und natürliche Zuwendung vom Sozialen, wie wir es heute verstehen, durchaus unterscheidet, ist die völlige Unlust, ja Abneigung, irgend jemandes Lage zu verändern oder, wie man sich ausdrückt, zu verbessern. (…) Die Lage eines Menschen bessern wollen, setzt einen Einblick in seine Umstände voraus, wie nicht einmal ein Dichter ihn besitzt, einer Figur gegenüber, die aus seiner eigenen Erfindung stammt.“ (Rilke in einem Brief an Hermann Pongs; Wolfgang Leppmann: „Rilke, sein Leben, seine Welt, sein Werk“. Scherz Verlag, Bern, München 1981, S. 221)
8. August
In der Stadt sieht man Plakate, auf den die SPD für eine „Queere Rathausführung“ wirbt. Auf der Fassade eines Hauses am Jungfernstieg, das den Flagshipstore (so sagt man vermutlich) von Nivea beherbergt, kleben die Regenbogenfarben des Christopher-Street-Days, darunter die Aufschrift „Nivea für alle!“ Es leuchtet ein, dass der Konzern niemandem vom Kauf seiner Produkte ausschließen will. Dass der ZEIT-Verlag von seinem im Zentrum gelegenen Bürogebäude ab und an die Regenbogenfahne wehen lässt, geht schon einen Schritt weiter. Die offizielle Teilnahme der Kölner Bürgermeisterin und des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten an Aufmärschen der Schwulen, Lesben und „Queeren“ bedeutet einen entschiedenen Schritt in eine Welt, in der alles gleich gültig und gleichgültig geworden ist. Wenn dann von den Ecktürmen des Reichstags die Regenbogenfahne weht, wird die Vorstellung, dass etwas „normal“ sei, von Staats wegen endgültig aufgegeben. Das Grundgesetz verspricht den „Schutz von Ehe und Familie“, und damit waren vermutlich weder schwule noch lesbische Ehen gemeint. Aber die Verfassungsväter waren alte weiße Männer, denen man einen solchen Lapsus heute nicht mehr durchgehen ließe.
12. August
Der Krieg zieht sich hin, und es ist völlig unklar, wird immer unklarer, welche Seite die Oberhand hat. Die Nachrichten dazu sind widersprüchlich und auf erwartbare Weise in den Hintergrund getreten, da die Nachrichten weitgehend von der Hitzewelle bestimmt sind, die fast ganz Europa versehrt. Im Süden und Osten Englands wurde der Notstand ausgerufen, weil es an Wasser mangelt. Der Rhein ist derart ausgetrocknet, dass die Schiffe kaum noch fahren können und schweres Gut wie etwa Kohle nicht mehr an Ort und Stelle kommt. Die Hitze ist so groß, dass der möglicherweise kalte Winter kaum jemandem in den Sinn kommt. In Hamburg sind die Temperaturen immer noch moderat. Sah heute auf dem Weg nach Hause am Straßenrand einen kleinen Jungen, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, der seine Hand in den lockeren Hosenbund steckte und hingebungsvoll, traumverloren mit seinem Schniepel spielte. Die Mutter stand ein paar Schritte entfernt, telefonierte (seltsam, dass Mütter ständig zu telefonieren scheinen), bemerkte gleichwohl den Fehlgriff ihres Sprösslings und befahl ihm mit scharfer Stimme „Nimm die Hand aus der Hose!“ Die bürgerlichen Reflexe sind offenbar keineswegs ausgestorben, jedenfalls in Eppendorf nicht.
13. August
Attentat auf Salman Rushdie irgendwo im Staat New York. Ein 24-jähriger Mann stürzte auf das Podium eines Veranstaltungsraums und verletzte den Schriftsteller mit mehreren Messerstichen schwer. Es ist 33 Jahre her, dass die Fatwa gegen Rushdie erlassen wurde. Damals war ich Feuilletonchef. Arno Widmann, zuständig bei der taz, brachte die Idee auf, deutsche Zeitungen sollten die inkriminierten Passagen gemeinsam drucken. Nach Gesprächen mit Werner Kilz von der SZ nahm ich davon Abstand, weil niemand wissen konnte, inwieweit eine solche Aktion die Lage Rushdies verschlimmern würde. Der Abdruck scheiterte vor allem daran, dass der englische Verlag eine Genehmigung verweigerte. Der deutsche Verlag Kiepenheuer & Witsch zögerte, die fertige Übersetzung zu publizieren. Reinhold Neven DuMont sagte mir, das Landeskriminalamt habe ihm mitgeteilt, es gebe keine Chance, das Verlagsgebäude am Rand von Köln wirksam zu schützen. Daraufhin erschienen die „Satanischen Verse“ in dem eigens gegründeten Artikel-19-Verlag, zu dem mehr als hundert Herausgebern zählten, auch ich. Wer den Islam kritisiert lebt gefährlich. Er wird von den Islamisten bedroht, von den Linken und Grünen als islamophob gebrandmarkt.
14. August
Heute im Gottesdienst die Lesung folgender Lukas-Stelle: „Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen! Ich muss mit einer Taufe getauft werden und wie bin ich bedrängt, bis sie vollzogen ist. Meint ihr, ich sei gekommen, um Frieden auf der Erde zu bringen? Nein, sage ich euch, sondern Spaltung. Denn von nun an werden fünf Menschen im gleichen Haus in Zwietracht leben: Drei werden gegen zwei stehen und zwei gegen drei; der Vater wird gegen den Sohn stehen und der Sohn gegen den Vater, die Mutter gegen die Tochter und die Tochter gegen die Mutter.“ (12,49) Eine fast gleichlautende Passage findet sich bei Matthäus.
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