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Ulrich Greiner
Schief wie Pisa
Was heißt und zu welchem Ende betreiben wir Bildung?

Vortrag zum Jubiläum 475 Jahre Hermann-Tast-Schule in Husum am 13. Mai 2002

Ich bedanke mich herzlich für diese Einladung. Es ist eine große Ehre für mich, zu Ihnen sprechen zu dürfen, noch dazu aus einem so feierlichen und bedeutenden Anlass. Und ich möchte Ihnen allen, den Schülern, den Lehrern, den Eltern und den Ehemaligen, meinen Respekt und meine Hochachtung ausdrücken. In dieser beschleunigten Zeit, in dieser Turbo-Welt, in der wir alle leben, muss es als Sensation gelten, dass diese Schule noch immer existiert, und nicht nur existiert, sondern modern und lebendig ist und sich dennoch ihrem Herkommen verpflichtet weiß. Diese Verpflichtung drückt sich in dem Anspruch aus, dem die Hermann-Tast-Schule gerecht zu werden versucht, gerade auch mit dieser Jubiläumsfeier. Ich hoffe, dass ich selber diesem Anspruch Folge leisten kann.

Die Hermann-Tast-Schule, so kommt es mir vor, ist geradezu mega-alt. Meine eigene Schule, das altsprachliche Heinrich-von-Gagern-Gymnasium zu Frankfurt am Main, wurde 1888 gegründet, also gewissermaßen vorgestern. Und die auf ihr Alter sehr stolze Gelehrtenschule des Johanneums in Hamburg, wo meine beiden Töchter zur Schule gehen, ist eine jüngere Schwester der Hermann-Tast-Schule, sie stammt aus dem Jahr 1529. Damals wurden viele solcher Schulen gegründet. Wie und weshalb, dazu will ich später noch etwas sagen.

475 Jahre: Amerika, das von uns Europäern entdeckte Amerika ist bloß wenige Jahre älter als die Hermann-Tast-Schule, und mit der Entdeckung der neuen Welt veränderte sich die alte dramatisch. 1521 kam der Kakao nach Europa, 1526 die Kartoffel, drei Jahre später der Tabak. Es gab bis dato, bitte stellen Sie sich das vor, weder Chips noch Schokoladenpudding noch Zigaretten. Damals eroberten die Türken Wien, deutsche Truppen plünderten Rom, Luther übersetzte die Bibel, der Bauernkrieg wurde blutig niedergeschlagen, der Spanier Alvarado entdeckte Hawaii, zum ersten Mal wurde die Erde umsegelt, die Menschen merkten zu ihrer Überraschung, dass sie eine Kugel ist, und der polnische Astronom Kopernikus fand heraus, dass die Erde sich um die Sonne dreht - nicht umgekehrt, wie man damals glaubte, und damit war ein ganzes Weltbild in Frage gestellt.
Dies alles geschah zu der Zeit, in der diese Schule gegründet wurde, es war eine wild bewegte, eine aufregende Zeit, in der das bisherige Wissen auf den Kopf gestellt wurde, in der die vertraute Lebens- und Denkweise in Bedrängnis geriet, es herrschten Krieg, Not und Elend, politisches Chaos, und zugleich wurde das ganze Land von einer geistigen Revolution erfasst, nämlich von der Reformation Martin Luthers, was bedeutete, dass sich der Einzelne auf sich selber gestellt sah, auf sich und sein Verhältnis zu Gott, er musste die Frage nach Schuld und Verantwortung selber beantworten, er musste selber lernen, denken und forschen. Wissen und Bildung waren nun nicht mehr allein das Privileg der Mönche und der Fürsten. In der protestantischen Bewegung wurde das moderne Individuum geboren.

Was ich hier andeute, das sind allenfalls Stichworte, die den Abgrund der Zeit nicht überbrücken. Kein Mensch kann 475 Jahre zurückdenken, und es ist schwer, sich die damalige Zeit vorzustellen. Noch wusste man damals nicht, was mit der Kartoffel anzufangen sei. Es wird berichtet, die ersten Wagemutigen hätten das Grünzeug verspeist. Erst als ihnen übel wurde, kamen sie darauf, die Knollen zu kochen und zu essen. Pommes mit Mayo waren noch nicht erfunden, es gab weder Nintendo noch Microsoft, es gab weder Kühlschränke noch Autos noch Flugzeuge, kein Telefon und keine Zentralheizung, es gab weder Bro'Sis noch Britney Spears, kein Fernsehen, kein Radio, keine Zeitung, selbst die ZEIT gab es noch nicht. Es müssen schreckliche Zeiten gewesen sein.
Leben wir in einer besseren Zeit? Ist die Hermann-Tast-Schule heute eine bessere Schule als die von damals? Hätten Sie lieber damals gelebt? Ich nehme an, jeder von Ihnen würde anders darauf antworten, aber ich stelle diese Fragen nicht, um eine Antwort zu kriegen - wobei ich übrigens glaube, dass es keine wirkliche Antwort darauf gibt. Ich frage aus einem anderen Grund. Wir müssen nämlich, um die Anfänge der Hermann-Tast-Schule mit der heutigen Situation zu vergleichen, zunächst unsere eigene Zeit verstehen und begreifen. Wir müssen, um sagen zu können, wer wir sind, angeben können, woher wir kommen. Wir sind immer auch die, die wir gewesen und geworden sind. Dieses Gesetz gilt für jede Gesellschaft, jedes Volk, jeden Staat, so wie es für jeden Einzelnen von uns gilt. "Je suis mon passé", sagte der Schriftsteller und Philosoph Sartre, ich bin meine Vergangenheit.

Was das bedeutet, können Sie sich ganz leicht klar machen. Angenommen, Sie sind zu einem Schüleraustausch in den Vereinigten Staaten, sagen wir in irgendeiner Stadt in Montana, und Sie verlieben sich in ein Mädchen - ich hoffe, die Mädchen verzeihen mir, dass ich die Geschichte so rum erzähle. Nehmen wir an, dieses Mädchen heiße Sophie, mit Nachnamen Hustvedt. Nach der ersten Eiskrem und nach den ersten Küssen fragen Sie das Mädchen: Woher kommt eigentlich dieser seltsame Name Hustvedt? Und Sophie antwortet: Meine Urgroßeltern sind aus Norwegen eingewandert, der Vater meiner Mutter kann immer noch nicht gut Englisch, mein Vater aber stammt von Österreichern ab, und er heißt Auster. Einige von Ihnen merken vielleicht, dass diese erfundene Geschichte Ähnlichkeit mit lebenden Personen hat: Es gibt eine sehr gute amerikanische Schriftstellerin, die Siri Hustvedt heißt und norwegischer Abstammung ist, sie ist verheiratet mit dem bekannten amerikanischen Schriftsteller Paul Auster, und beide haben eine Tochter, die Sophie heißt.

Sophie, und ich meine jetzt die von mir erfundene Sophie, ist sehr blond und sieht in der Tat immer noch sehr norwegisch aus, Sophie also fragt Sie nun: Und woher kommst Du? Und Sie antworten: Aus Husum. Wo ist Husum? Das liegt ganz in der Nähe von Norwegen. Was von Montana aus betrachtet gar nicht so falsch ist. Und dann erzählen Sie - Sie müssen sich ja revanchieren - , wer Ihre Eltern und Ihre Großeltern und Urgroßeltern sind und woher die kommen. Und dann sagen Sie, dass Sie auf die Hermann-Tast-Schule gehen, dass es da ziemlich doofe Lehrer gibt, dass aber die Schule 475 Jahre alt ist. Da staunt Sophie, sie weiß nur, dass die Amerikaner ihre Unabhängigkeit 1776 erklärt haben, aber sie merkt, obwohl sie im Rechnen nicht sehr stark ist, dass das viel weniger Jahre her ist als 475 Jahre. Und jetzt, weil sie sich ein bisschen im Hintertreffen fühlt, fragt sie: Wer war Hermann Tast? Ich kann nur hoffen, dass Sie sich der Frage gewachsen zeigen. Ich kann Sie aber trösten: Wenn Ihre Affäre an der schwachen Antwort scheitern sollte, dann war es wohl nicht die große Liebe.
Die Frage also, wer jemand ist, lässt sich nicht beantworten ohne einen Blick auf sein Werden, seine Herkunft, seine Geschichte. Sie können sich das leicht vor Augen halten, wenn Sie an Menschen denken, die infolge eines Unfalls oder einer Krankheit unter Gedächtnisverlust leiden. Diesen bedauernswerten Menschen fehlt ein wichtiger Teil ihrer Persönlichkeit. Was aber für den Einzelnen gilt, das gilt für die Gemeinschaft erst recht, sei es eine Schule oder eine Stadt oder ein ganzes Land. Wir können über Husum keine vernünftige Auskunft geben, ohne etwas über die Entwicklung und Entstehung dieser Stadt zu sagen. Allgemeiner gesprochen: Wir wissen nichts, wenn wir nichts von unserer Geschichte wissen.

Friedrich Schiller war einer, der diesem Gedanken immer wieder Ausdruck gegeben hat. Er hielt vor ziemlich genau 213 Jahren seine akademische Antrittsrede - am 26. Mai 1789 in Jena. Er hatte dort eine übrigens nicht bezahlte Professur für Geschichte. Der Titel seiner berühmt gewordenen Rede lautet: "Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?" Darin zeigt er seinen künftigen Studenten, wie wir alle auf den Schultern unserer Vorfahren stehen. Er sagt: "Selbst in den alltäglichsten Verrichtungen des bürgerlichen Lebens können wir es nicht vermeiden, die Schuldner vergangener Jahrhunderte zu werden; die ungleichartigsten Perioden der Menschheit steuern zu unsrer Kultur bei, wie die entlegensten Weltteile zu unserm Luxus. Die Kleider, die wir tragen, die Würze an unsern Speisen, viele unsrer kräftigsten Heilmittel, und ebenso viele neue Werkzeuge unsers Verderbens - setzen sie nicht einen Kolumbus voraus, der Amerika entdeckte, einen Vasco de Gama, der die Spitze von Afrika umschiffte?"

Aus dieser Tatsache leitet nun Schiller nicht allein die Notwendigkeit ab, die Geschichte zu kennen, deren vorläufiges Endprodukt wir sind, sondern auch die Verpflichtung, unseren Nachkommen diese Kenntnis zu überliefern. Er sagt nämlich: "Unser menschliches Jahrhundert herbeizuführen haben sich - ohne es zu wissen oder zu erzielen - alle vorhergehenden Zeitalter angestrengt. Unser sind alle Schätze, welche Fleiß und Genie, Vernunft und Erfahrung im langen Alter der Welt endlich heimgebracht haben. Aus der Geschichte erst werden Sie (damit meint er seine Studenten, aber uns alle) lernen, einen Wert auf die Güter zu legen, denen Gewohnheit und unangefochtener Besitz so gern unsre Dankbarkeit rauben. Und welcher unter Ihnen könnte dieser hohen Verpflichtung eingedenk sein, ohne daß sich ein stiller Wunsch in ihm regte, an das kommende Geschlecht die Schuld zu entrichten, die er dem vergangenen nicht mehr abtragen kann? Ein edles Verlangen muss in uns entglühen, zu dem reichen Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen, auch aus unsern Mitteln einen Beitrag zu legen, und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Dasein zu befestigen."

Unser fliehendes Dasein zu befestigen - das ist ein schönes Bild für unsere tägliche Not: die Not der Beschleunigung. Mancher von Ihnen mag finden, dass Beschleunigung ihre Vorteile habe. Zweifellos. Ein Auto mit starker Beschleunigung ist sicherlich besser als ein langsames, denn beim Überholen kommt es eben darauf an. Man kann sich allerdings fragen, weshalb man eigentlich überholen muss. Der Zug von Hamburg nach Frankfurt benötigte früher fünf Stunden, jetzt dreieinhalb. Das ist sicherlich ein Gewinn. Man kann sich allerdings fragen, worin dieser Gewinn besteht. Die Antwort scheint einfach: Der Gewinn, den die Beschleunigung einbringt, ist ein Zeitgewinn. Das Seltsame ist bloß, dass Zeit an sich abstrakt ist. Was mache ich mit gewonnener Zeit?
Gewonnene Zeit, das zeigt die Erfahrung, ist niemals freie Zeit. Derjenige, der von A nach B gerast ist und dadurch eine Stunde gewonnen hat, verwendet diese Stunde nicht, um sich der Muße hinzugeben, denn sonst hätte er auch langsamer fahren und die Fahrt genießen können, sondern er verwendet sie dafür, um von B rasch nach C zu fahren. Zeitgewinn bedeutet also zugleich Zeitvernichtung, denn die gewonnene Zeit wird benutzt, um etwas anderes oder mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Das Ziel ist die zeitliche Verdichtung funktionaler Tätigkeiten. Wir fahren mit dem Zug, wir essen im Speisewagen, wir telefonieren und wir arbeiten am Laptop. Das kommt uns ganz selbstverständlich vor. Historisch gesehen ist es revolutionär, denn wir tun vier Dinge zur gleichen Zeit, die man früher nacheinander verrichtet hätte: Wir bewegen uns fort, wir essen, wir tätigen Geschäfte, wir schreiben einen Bericht.

Der Philosoph Hermann Lübbe spricht in diesem Zusammenhang von "großräumigen Prozessen kommunikativer Verdichtung"1 , und er sagt: "Die Menge der Beziehungen zwischen den Elementen eines Systems wächst in einem quadratischen Verhältnis zur Menge dieser Elemente"2 Mit anderen Worten: Die Beschleunigung und Verdichtung unserer Tätigkeiten erzeugt eine wachsende Menge von Dokumenten und Daten, sie führt zu einer gigantischen Menge von Akten, Publikationen und Büchern. In seinem Aufsatz "Über die Bibliothek der Zukunft" schreibt mein Kollege Dieter E. Zimmer, seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts verdoppele sich der schriftliche Output in den Naturwissenschaften alle zehn Jahre, und er schließt daraus: "Selbst die üppigst bemessene Bibliothek wäre dieser Masse nicht gewachsen, wenn alles auf gebundenem oder geleimtem Papier stünde. Irgendwann ließe es sich nicht mehr bezahlen und aufstellen, und dieses Irgendwann käme schneller, als man meint, denn es handelt sich um ein exponentielles Wachstum. Zudem ließe sich in diesem Informationsmassiv nichts mehr auffinden. Die Wissenschaft würde an ihrer eigenen Produktivität ersticken."3

Zimmers Hoffnung richtet sich auf die Digitalisierung der Bibliotheken, auf die Erschließung des gewaltigen Wissensbestandes durch Rechenzentren. Seine Hoffnung ist nicht unbegründet: Wer eine moderne Bibliothek benutzt, der erlebt, welch segensreiche Erleichterung der Computer bewirken kann. Zugleich aber speichert der Computer nicht nur Daten, sondern er selber produziert sie neu. Wenn Sie zum Spaß das Stichwort "Bildung" bei Google eingeben, dann finden Sie 1,9 Millionen Adressen; das ist fast so schlecht wie keine einzige Adresse.
"Überhaupt hat der Fortschritt das an sich", sagt Johann Nestroy, "dass er viel größer ausschaut, als er wirklich ist." Wir können auch sagen: Jeder Fortschritt erzeugt etwas Neues, und durch das Neue veraltet etwas anderes. Je schneller also ständig Neues entsteht, um so schneller wächst die Menge des Veralteten. "Der Fortschritt", sagt Hermann Lübbe, "ist eine vergangenheitserzeugende Kraft. Zur Neuerungsrate verhält sich die Alterungsrate genau komplementär. Mit dem Tempo der Änderung unserer Lebensverhältnisse verfremden sich unsere Herkunftswelten, und es bedarf expliziter Anstrengungen ihrer Vergegenwärtigung, um sie aneignungsfähig zu halten."4

Wenn wir von jemandem sagen, er sei gebildet, dann ist doch mindestens damit gemeint, dass der Gebildete seine Herkunftswelt kennt, dass er also historisches Bewusstsein und historische Kenntnis hat. Damit hat es eine doppelte Bewandtnis:

Erstens kann historisches Bewusstsein nicht frei sein von der Mühe und oft auch dem Schmerz der Erinnerung.
Zweitens sind historisches Bewusstsein, historische Kenntnis um so notwendiger und zugleich um so schwieriger zu erlangen, je mehr Geschichte sich hinter uns auftut.

Zum ersten: Der Mensch neigt dazu, das Unangenehme zu vergessen. An das Schöne denken wir gern zurück, und gut erinnern wir uns daran, wie cool wir in einem bestimmten Augenblick gewesen sind. Historisches Bewusstsein aber besteht eben darin, die eigene Geschichte nicht eindimensional, sondern plastisch zu sehen, also auch die Versäumnisse, die Fehlentscheidungen und die Niederlagen.

Einige von Ihnen kennen vielleicht Steven Spielbergs Science-fiction-Film "A.I.". A.I. bedeutet Artificial Intelligence, und damit ist ein Junge gemeint, der ganz so aussieht wie ein wirklicher Mensch, in Wahrheit aber eine Maschine ist. Für diejenigen unter Ihnen, die den Film nicht gesehen haben, will ich kurz den Hintergrund erzählen. Es gibt da ein Ehepaar, dessen Sohn im Koma liegt, aus dem er wahrscheinlich nie mehr erwachen wird. Die verzweifelten Eltern besorgen sich nun den Prototyp einer neuen Generation künstlicher Menschen. Der künstliche Junge gleicht dem wirklichen in jeder Hinsicht, nur ist er hübscher, intelligenter und ungleich folgsamer, zugleich aber wirkt er seltsam flach. Das kommt, weil er noch keine Erinnerung hat. Technisch gesprochen: Auf seiner Festplatte sind noch keine Erfahrungen gespeichert. Mittels eines Schlüsselwortes kann die Frau in dem Jungen die auf Abruf eingebaute Zuneigung auslösen. Das tut sie, und der künstliche Junge liebt sie.

Der Zufall fügt es aber, dass der wirkliche Junge aus dem Koma erwacht und wieder gesund wird. Jetzt ist der künstliche Junge fehl am Platz. Der Vertrag, den das Ehepaar mit dem Lieferanten geschlossen hat, schreibt vor, dass der Replikant bei Nichtgefallen an das Wissenschaftszentrum zurückzugeben ist, wo er dann verschrottet wird. Aber die Frau hat den Replikanten lieb gewonnen, und so setzt sie ihn im Wald aus. Als der Junge merkt, dass die Mutter weg ist, erlebt er seine erste und schmerzliche Erfahrung, und die weitere Geschichte des Films handelt von der Suche nach der verlorenen Mutter. Er sucht nach seiner eigenen Vergangenheit, er wird, obwohl er nur ein Replikant ist, zum wirklichen Menschen, eben durch die Erfahrung des Schmerzes.

Wir können also beobachten, wie Bewusstsein entsteht. Die erste Bedingung von Bewusstsein ist, ein Gedächtnis zu haben. Wer Gedächtnis hat, erinnert seine Geschichte, vielleicht auch eine traurige Geschichte, und nur der, der sie kennt und bekennt, ist ernst zu nehmen und unser Zeitgenosse.

"Du musst nicht glauben, dass wir unseren Schlafplatz mit jemandem teilen, der nicht sagen will, welcher Familie er entstammt." Das sagt Akka von Kebnekajse. Ich hoffe doch sehr, dass Sie wissen, wer das ist.
Wer wird Millionär? Ich gebe Ihnen vier Alternativen.

A: Akka von Kebnekajse ist die schwedische Eisläuferin, die in Salt Lake City den 5. Platz belegte.
B: Akka von Kebnekajse ist der wirkliche Name der schwedischen Popgruppe Abba.
C: Akka von Kebnekajse ist die Kusine des Prinzen Hamlet.
D: Akka von Kebnekajse ist die Wildgans in Selma Lagerlöfs Roman "Nils Holgersson".

Es geschieht am Abend des ersten Tages, nach der Verwandlung von Nils Holgersson in einen Däumling. Den ganzen Tag über ist Nils auf dem Rücken des weißen Gänserichs mitgeflogen, und er hat vor lauter Staunen über diesen wunderbaren Blick vom Himmel auf die Erde hinab seine Schande ganz vergessen, die Schande, dass er für seine Bosheit gegen den Kobold schwer bestraft worden ist und dass er nicht weiß, wann er sich je wieder unter den Menschen blicken lassen darf. Jetzt aber, da er sich müde und elend fühlt und da sich die Gänse draußen auf dem Eis zum Schlafen niederlegen, kommt Akka von Kebnekajse auf ihn zu und sagt, nachdem sie sich gravitätisch vorgestellt hat: "Du musst nicht glauben, dass wir unseren Schlafplatz mit jemandem teilen, der nicht sagen will, welcher Familie er entstammt." In diesem Augenblick erwacht in Nils Holgersson der Stolz, und obwohl er sich seiner Geschichte schämt, erzählt er, wer er eigentlich ist. Er nimmt also den Schmerz der Erinnerung auf sich, er nimmt die Schuld auf sich - und das ist der Anfang seiner Rückkehr unter die Menschen und seiner Heimkehr zu den Eltern.

Historisches Bewusstsein, historische Kenntnis aber sind um so notwendiger und zugleich um so schwieriger zu erlangen, je mehr Geschichte sich hinter uns auftut. Erinnern wir uns an Schillers Bemerkung: Wir sind die "Schuldner vergangener Jahrhunderte", und es gehört sich, dass wir, wie er sagt, "an das kommende Geschlecht die Schuld entrichten, die wir dem vergangenen nicht mehr abtragen können". Das ist die eine Seite. Und die andere ist, dass es nur so gelingen kann, ich zitiere nochmals Schiller, "zu dem Vermächtnis, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen, auch aus unsern Mitteln einen Beitrag zu legen, und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Dasein zu befestigen". Das klingt, wie ich zugebe, sehr anspruchsvoll, aber die Sache wird einfacher, wenn wir die notwendige Unterscheidung zwischen Wissen und Bildung treffen.

Wir leben, wie oft gesagt wird, in einer Wissensgesellschaft, was zunächst nur bedeutet, dass die Informationsmenge, die theoretisch gewusst werden kann, unendlich groß ist und ständig wächst. Daher kommt es, dass immer neue Wissensgebiete in die Schule drängen, immer neue Themen und Fertigkeiten Zuwendung verlangen. Nahezu alles, was die beschleunigte Informationsgesellschaft um- und antreibt, ob Computer oder Mode, Umwelt oder Globalisierung, Internet oder Fernsehen, erhebt Anspruch auf Berücksichtigung in Lehre und Forschung. Was Schüler heute kennen und können sollen, ist, verglichen etwa mit den friedlichen Sechzigern, geradezu monströs. Da verlangen rasende Modernisten die völlige Umstellung des Unterrichts aufs Internet, da wird, etwa in Hamburg, deutsche Geschichte auf englisch unterrichtet. Plötzlich erscheint es einleuchtend, angesichts der Verbreitung dieser Sprachen, Chinesisch oder Spanisch zu lernen; und wäre es nicht vernünftig, den letzten Endes nicht brauchbaren Kunstunterricht durch das Fach Wirtschaftskunde zu ersetzen?

Ich glaube, hier werden Wissen und Bildung miteinander verwechselt, und das ist der größte Mangel der gegenwärtigen, durch die Ergebnisse der Pisa-Studie entfachten Bildungsdebatte. Natürlich müssen Schüler rechnen, schreiben und lesen können, das bezweifelt ja niemand, das gehört zu den Voraussetzungen. Und natürlich muss man darüber nachdenken, wie es gelingen kann, die wachsenden sozialen Unterschiede durch kluge Förderung auszugleichen. Es ist betrüblich, dass uns nun koreanische oder finnische Schulen als Bildungsmuster vorgehalten werden. Aber es ist auch ein bisschen komisch, zumal ich aus Hamburg höre, dass die Schüler dort, die an dem Test teilgenommen haben, die Sache gar nicht ernst genommen haben. Es stand in ihren Augen nichts auf dem Spiel, und vielleicht spricht das für ihre Realitätstüchtigkeit.

Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich glaube, dass die Pisa-Studie ein ziemlich seriöses und aussagekräftiges Unternehmen ist. Sie erzählt uns eine Menge über den Zusammenhang von sozialer Herkunft, Lebensweise, Schulorganisation und grundlegenden Fertigkeiten. Sie betrifft also nur zu einem kleinen Teil den Unterricht selber. Ich glaube aber, dass die Pisa-Debatte ziemlich schief geführt worden ist, und zwar so schief, dass sie inzwischen, anders als der berühmte Turm, umgekippt ist, umgekippt in die Forderung nach verschärfter Leistung und Wissensvermittlung. Dabei ist es vollkommen ausgeschlossen, dass die Schule auch nur einen nennenswerten Bruchteil des tatsächlich möglichen Wissens vermitteln kann. Das hat sie nie gekonnt, und das ist auch nicht ihre Aufgabe. Es ist ebenfalls nicht ihre Aufgabe, jedenfalls nicht ihr vordringlichste Aufgabe, den Schülern Kulturtechniken wie den Umgang mit Computer und Internet beizubringen. Derlei muss sich nebenbei ergeben, im Zusammenhang mit einem übergeordneten Unterrichtsziel. Es gehört ja auch nicht zur Aufgabe der Schule, den Schülern das Autofahren beizubringen.

Derzeit aber wird so getan, als wäre die Schule in der Hauptsache dazu da, den Erfordernissen des Arbeitsmarktes gerecht zu werden und berufsnahe Fertigkeiten auszubilden. Die Wirtschaftsverbände haben das Wissen als Ressource entdeckt und fordern hoch qualifiziertes und hoch motiviertes Menschenmaterial. Aus ihrer Sicht ist das vollkommen verständlich, aber ich denke, es wäre ein Fehler, wenn sich die Schule dem unterwerfen wollte. Erstens nämlich, weil sich der Arbeitsmarkt ständig ändert, und zweitens, weil hier eine Verwechslung von Bildung und Ausbildung vorliegt. Das Gymnasium kann sich nicht auf berufliche Ausbildung einlassen, weil das Sache der Unternehmen ist und bleiben muss, und weil niemand die Konjunkturen des Marktes vorhersagen kann. Es ist zum Beispiel absehbar, dass wir in Kürze einen deutlichen Lehrermangel verkraften müssen, in manchen Fächern ist er schon jetzt sichtbar. Dabei hatten sich Generationen von Studenten längst daran gewöhnt, das Lehrerstudium als brotlose Kunst anzusehen.

Der Modernisierungsdruck, dem die Schule ausgesetzt ist, kommt aber leider vor allem aus dem ökonomischen Verwertungsinteresse. Dieses Interesse ist legitim, zumal wir ja alle von der wirtschaftlichen Prosperität abhängen. Die Dominanz dieses Interesses aber führt dazu, dass die Schule als ein Dienstleistungsunternehmen betrachtet wird, das aus seiner etatistischen Tradition heraus in ein wirtschafts- und marktförmiges Denken überführt werden soll.

Der Bildungsexperte Eckhard Nordhofen bemerkt dazu: "Die Schulen werden einem Qualitätsmanagement unterzogen, treten untereinander in einen gewissen Wettbewerb, betreiben eine Personal-und Organisationsentwicklung, die den Rezepturen vom McKinsey folgt, sie lernen, sich mittelfristige Ziele zu setzen, treffen mit ihrem Personal Zielvereinbarungen, die evaluiert werden können, haben ein Budget zur Verfügung, das sie in gewissem Umfang selbst bewirtschaften können, bilden eine Corporate Identity aus und entwickeln ein umfeld- und marktorientiertes Schulprogramm. In England und den USA ist die Industrialisierung der Bildungsinstitutionen schon seit langem ins Werk gesetzt worden, die Ergebnisse allerdings sehen nicht so aus, dass sie zur Nachahmung einladen."5 So weit Nordhofen.

Ein paar Dinge aus dieser Zukunftsbeschreibung sind ja schon Wirklichkeit, und gegen diese Entwicklung wäre nichts zu sagen, wenn sie nicht völlig frei von irgendeiner Bildungsidee wäre. Die einzige Vorstellung, die ich dahinter erkennen kann, ist der Wunsch nach Funktionalität, nach Brauchbarkeit, nach Leistung. Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang, an die Katastrophe von Erfurt zu erinnern. Sie liegt nun mehr als zwei Wochen zurück, aber sie steckt uns allen noch in den Knochen. Erfurt ist eine Stadt, die ähnlich groß, ähnlich alt und ähnlich schön ist wie Husum. Das Gutenberg-Gymnasium dort gilt als eine gute Schule, und Robert Steinhäuser entstammte einer guten Familie.

Warum also diese schreckliche, diese beispiellose Tat? Ich glaube nicht, dass man sie erklären kann, so wie man eine Wirkung physikalisch aus einer Ursache erklärt. Die menschliche Seele ist nicht selten unergründlich. In der ersten Szene von Büchners Drama "Dantons Tod" sagt Julie: "Du kennst mich, Danton." Und Danton entgegnet: "Ja, was man so kennen heißt. Du hast dunkle Augen und lockiges Haar und einen feinen Teint und sagst immer zu mir: lieb Georg. Aber (er deutet ihr auf Stirn und Augen) da da, was liegt hinter dem? Geh, wir haben grobe Sinne. Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren."

In diesem Sinn also können wir Robert Steinhäuser nicht kennen. Aber wir wissen, dass seine Tat ein Rachfeldzug war. Der Anlass: Zum zweiten Mal war er nicht zum Abitur zugelassen worden. Dieser Anlass, und darauf will ich hinaus, kann nur in einer Gesellschaft Bedeutung haben, die geistige oder gar religiöse Werte für gering erachtet und nichts anderes kennt als Erfolg und Leistung und Karriere. Wenn aber der Mensch ausschließlich dadurch definiert ist, dass er Arbeit hat oder Geld oder die Zulassung zum Abitur, dann ist er ohne Arbeit oder ohne Geld oder ohne Abitur das schiere Nichts, dann gibt es keinen Sinn mehr außerhalb. Wer sich aber für ein Nichts halten muss, für den ist es nicht schwer, andere ins Nichts zu befördern.
Deshalb müssen wir darauf bestehen, dass es neben und über der materiellen Macht von Geld und Karriere noch andere Mächte gibt: auf der privaten Seite Tugenden wie Liebe und Treue und Anstand, die ökonomisch gesehen ziemlich unnütz sind; und auf der öffentlichen Seite die Werte der kulturellen Tradition. Sie zeigen uns, dass wir nicht allein sind, sie zeigen uns in den großen Erzählungen der Menschheit, was unsere Vorfahren erlitten und erkannt haben.

Es gibt also einen guten Grund, in der Schule auch das scheinbar Unnütze zu erlernen und am scheinbar Unpraktischen - und das Unpraktische besteht aus Dingen wie Geschichte und Ästhetik - wesentliche Erfahrungen zu machen. Für nicht wenige übrigens ist die Schule dafür die letzte Chance, denn nachher im Berufsleben gibt es oft nichts anderes als das Gebot unmittelbarer Effizienz. Deshalb sollte die Schule auch ein Raum sein, wo der Mensch, der Schüler in all seinen Fähigkeiten angesprochen, also nicht als Roh-stoff betrachtet wird, der optimal für die dürftigen Bedürfnisse des Arbeitsmarktes zugerichtet wird.

Immerhin können wir, wenn wir auf den traditionellen und in Resten noch vorhandenen Bildungskanon des Gymnasiums blicken, leicht sehen, dass er immer noch viele Dinge enthält, die überhaupt nicht brauchbar oder verwertbar sind, jedenfalls nicht zu einem sofort einleuchtenden Zweck.

Was bringt es zum Beispiel, singen zu können oder Geige spielen zu können? Ich will ja niemandem zu nahe treten, aber die Wahrscheinlichkeit, dass aus denjenigen unter Ihnen, die derlei an der Hermann-Tast-Schule gelernt haben, später ein Placido Domingo oder eine Anne-Sophie Mutter wird, ist eher gering. Wozu also? Wozu alte Sprachen, wozu Latein oder gar Griechisch? Das ist doch verlorene Zeit. Und schließlich: Was bringt es, den "Faust" zu lesen oder "Effi Briest" oder "Harry Potter"? In derselben Zeit könnten Sie einen Programmierkurs belegen oder ein Projekt für "Jugend forscht" ausarbeiten, das würde Ihnen bei Ihrer späteren Karriere bestimmt nicht schaden.

Wozu also? Nun, es könnte immerhin sein, dass es Ihnen etwas bedeutet, Literatur zu lesen und zu verstehen. Es könnte sein, dass es Ihnen Freude bereitet, Geige zu spielen. Es könnte sein, dass ein gelungenes Schulkonzert für alle Beteiligten nicht nur einen Spaß, sondern eine große innere Bereicherung, eine Vertiefung des Empfindens und Verstehens bedeutet. Dieser Gedanke leuchtet Ihnen vielleicht ein, er hat aber zweifellos keinen benennbaren Marktwert.

Der Marktwert aber kann unmöglich das Kriterium für Bildung sein. Wenn der Begriff Bildung überhaupt einen Sinn hat, dann verknüpft er sich doch mit der Idee, den ganzen Menschen in all seinen Fähigkeiten auszubilden; und zum ganzen Menschen gehört zweifellos die Fähigkeit, Schmerz ebenso zu empfinden wie Glück; die Fähigkeit, zwischen Schön und Hässlich, zwischen Gut und Böse unterscheiden zu können; schließlich die Fähigkeit, ein gutes, ein richtiges, ein verantwortliches Leben zu führen, und zwar an dem Platz, wo man hingehört.
Das ist nicht schwer, aber es ist nicht leicht. Denn Voraussetzung dafür ist etwas wie Selbstbewusstsein, Selbstkenntnis. Sich selber kann man nur kennen, wie ich am Anfang gesagt habe, wenn man annähernd weiß, wer man ist, und das wiederum heißt, dass es gelingen muss (wieder zitiere ich Schiller), unser fliehendes Dasein an der unvergänglichen Kette der Überlieferung zu befestigen.

Das Medium dieser Überlieferung ist die Historiographie, und die umfasst nicht allein die großen wissenschaftlichen Werke, sondern auch die Mythen, die Märchen, die Dramen und die Epen. Der Schriftsteller Ludwig Harig hat einmal gesagt: Nur der erzählende Mensch ist ein Mensch. Und nur der erzählte Mensch ist ein Mensch. Die Literatur - und auf andere Weise die Malerei, auf wieder andere die Musik - die Literatur ist die Geschichte des erzählenden und des erzählten Menschen.

Andra moi enepe mousa …, so beginnt die Odyssee, eine der ältesten und folgenreichsten Mythen der Menschheit. Erzähle mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, der so weit geirrt, nach des heiligen Troja Zerstörung.

Ik gihorta dat seggen…, man hat mir erzählt … - so beginnt das Hildebrandslied, das erste Dokument der deutschen Literatur.

Uns ist in alten maeren wunders vil geseit / von heleden lobebaeren, von grozer arebeit. Das ist der Anfang des Nibelungenliedes: In alten Geschichten wird uns Wunderbares erzählt, von rühmenswerten Helden und von großer Mühsal.

In einem bei Jena gelegenen Dorfe erzählte mir der Gastwirt… So beginnt Kleist seine berühmte "Anekdote aus dem letzten preußischen Krieg".

Ich könnte Ihnen Dutzende solcher Anfänge vorführen, die alle nur das Eine zeigen und beweisen: Dass die Literatur sich fortpflanzt von Bericht zu Bericht, dass jeder Erzähler sich auf einen anderen Erzähler beruft und selber ein Glied wird in der unvergänglichen Kette der Überlieferung. Denn der Erzähler verkörpert, was Vladimir Nabokovs Roman im Titel trägt: "Erinnerung sprich!"

Ist die Kette der Überlieferung, die Schiller meint, wirklich unvergänglich? Das ist eine Hoffnung, aber keine Gewissheit. Sie kennen diesen Satz:
Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.

Das ist der Anfang von Kafkas Roman "Der Prozess", und dieser Anfang ist zugleich der Anfang totalitärer Systeme, die den Menschen seiner Erinnerung berauben und zum Objekt der Verfügung machen. Bei Kafka gibt es keinen Erzähler mehr, keinen Erzähler, der sich auf einen anderen Erzähler beruft, es gibt nur den anonymen Vorgang, der sich im schalltoten Raum abspielt.

Was bei Kafka eine existenzielle Dimension hat, wird bei George Orwell politisch. Winston Smith, der Held seines Romans "1984", ist Angestellter im so genannten Wahrheitsministerium. Seine Aufgabe besteht darin, Zeitungsberichte umzuschreiben, also rückwirkend zu verfälschen. Seine Freundin Julia ist jünger als er, sie ist unter dem Regime des Großen Bruders aufgewachsen, sie hat keine historische Kenntnis mehr. Eines Tages sagt er zu ihr: "Ist dir klar, dass die Vergangenheit tatsächlich ausgelöscht worden ist? Alle Dokumente sind entweder vernichtet oder gefälscht worden, jedes Buch hat man umgeschrieben, jede Gemälde neu gemalt, jedes Denkmal, jede Straße und jedes Gebäude umbenannt, jedes Datum geändert. Die Historie hat aufgehört, zu existieren. Es gibt nur eine endlose Gegenwart, in der die Partei immer recht hat."6 Später schließen sich Winston und Julia einer Geheimorganisation an, die den Großen Bruder entmachten will. Bei ihrem ersten konspirativen Treffen stoßen sie auf das Gelingen der Revolte an:
Er füllte die Gläser. "Worauf sollen wir trinken?" fragte er, "auf den Untergang der Gedankenpolizei? Auf den Tod des Großen Bruders? Auf die Menschlichkeit? Auf die Zukunft?" - "Auf die Vergangenheit", sagte Winston, "die Vergangenheit ist wichtiger."7

Weshalb ist die Vergangenheit wichtiger? Wer keine Vergangenheit hat, der hat auch keine Zukunft. Und zuweilen kann man den Eindruck gewinnen, als bräuchten wir den Zwang des Großen Bruders gar nicht, als würden wir freiwillig darauf verzichten, unsere eigene Geschichte zu kennen und die Tradition zu sichern, manchmal sieht es wirklich so aus, als wäre uns das "reiche Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit", von dem Schiller spricht, so ziemlich egal.

Längst ist es nicht mehr selbstverständlich, dass die großen Werke der deutschen Literatur gelesen und gekannt werden. Goethe und Kleist, Hölderlin und Rilke werden zu Namen, die keiner mehr kennt. Längst ist uns zum Beispiel die Bibel so fern gerückt, dass wir ganze Epochen der Kunstgeschichte nicht mehr verstehen, die Bilder und ihre Bedeutung nicht mehr lesen können. Dasselbe gilt für die großen Werke der Antike. Von Sophokles ist uns der Ödipus-Komplex erhalten geblieben, und Hermes ist eine Handtaschenfirma. Kürzlich sollte ein etwa 14 Jahre altes Mädchen einen literarischen Text vorlesen, und sie sprach von den "preußischen Dschankern". Ich verstand sie nicht. Meinte sie Junkies? Nein, gemeint waren die preußischen Junker.
Einige von Ihnen denken jetzt wahrscheinlich: Da beschwert sich mal wieder einer über Verfall und Niedergang. Ich weiß nicht, ob ich mich beschwere. Ich wüsste auch gar nicht, bei wem ich mich beschweren sollte, denn die Schule lebt ja nicht im luftleeren Raum, sie reagiert auf die Gesellschaft, für die sie schließlich da ist. Unsere Gesellschaft aber scheint so sehr mit ihrer glanzvollen Gegenwart beschäftigt, dass sie keine Zeit mehr hat, sich zu erinnern. Sie scheint des Glaubens, je länger etwas zurückliege, um so weniger sei es von Bedeutung.

Es gehört zu den großen Irrtümern unserer Zeit, dass wir geneigt sind, Maßstäbe der Technik und der Wirtschaft auf alle anderen Sphären auszudehnen. Demnach wäre die traditionelle Bildung veraltet, so wie der Vergasermotor oder das Drehscheibentelefon veraltet sind. In geistigen Dingen aber gibt es kein Veralten. Es gibt nur das Vergessen. So wie der Balkan gewissermaßen vergessen worden war. Plötzlich erinnerte man sich an den grandiosen Roman "Die Brücke über die Drina" von Ivo Andric. Man las ihn und sah, dass man ihn schon längst hätte lesen sollen, weil da alles schon gesagt war, man sah, dass Ivo Andric die jugoslawische Katastrophe vorausgesehen hatte.

Wenn ich für historisches Bewusstsein plädiere, so werden Sie mir vielleicht ein seltsames Faktum entgegenhalten: die Tatsache nämlich, dass es noch nie so viele Bibliotheken und Archive, noch nie so viele Ausstellungen und Denkmäler, so viele historische Romane, Biografien und Gedenktage gegeben hat. Das stimmt. Aber was folgt daraus? Die schöne Tatsache, dass uns alles zugänglich ist, führt zu der traurigen Tatsache, dass uns alles gleich gültig ist, womit ich meine: Alles hat dieselbe Gültigkeit, es ist also alles egal. Die Geschichte wird zum Event oder zur Show, sie hat keine wirkliche Bedeutung für uns. Was ich im Gegensatz dazu meine, ist ein Verständnis für unser eigenes Herkommen. Wir mühen uns, fremde Kulturen, neuerdings etwa den Islam, zu verstehen. Aber wir verstehen kaum uns selber.

Ein Beispiel: Derzeit wird viel von Europa geredet, aber wenn Europa mehr bedeuten soll als nur der Euro, wird man nach dem fragen müssen, was alle Europäer miteinander verbindet. Die Antwort ist nicht schwer, und hier folge ich dem Latinisten Manfred Fuhrmann, der in mehreren glanzvollen Büchern auf die simple Tatsache aufmerksam macht, dass Europa aus zwei Wurzeln stammt: aus der Antike und aus der jüdisch-christlichen Religion. In seinem jüngsten Buch über "Europas kulturelle Identität" bemerkt Fuhrmann einleitend: "Die Völker Europas haben sich stets als die Erben und Nachfolger der antiken Völker angesehen. In diesem Sinn soll hier von Europa als einer relativ selbständigen Gegebenheit die Rede sein, die sich in permanenter Orientierung am Vor- und Gegenbild der Antike entfaltet hat. Europa hat sich von Anfang an auf eine Kultur eingelassen, die nicht homogen, nicht in sich stimmig und nicht aus einem Guss war. Es knüpfte hiermit an den Zustand an, den Antike in ihrer letzten Phase erreicht hatte. Die Mischung aus griechisch-römischen und jüdisch-christlichen Elementen gelangte von der Spätantike ins Frühmittelalter, um von dort aus die Reise durch die Folge späterer Epochen anzutreten."8

Fuhrmanns Buch trägt den lapidaren Titel "Bildung", und dort finden wir auch eine Definition dessen, was Fuhrmann unter Bildung versteht: "Bildung ist eine Form des Bewahrens, wie die Religion oder die Moral, das heißt, sie hat neben anderem den Zweck, Tradition zu sichern."9 Damit, so fährt Fuhrmann fort, sind zugleich bestimmte Inhalte gemeint, nämlich die christlichen und die humanistischen. Wer so argumentiere, sagt Fuhrmann, mache sich unbeliebt und gelte als dünkelhaft, die moderne Bildungsdiskussion jedoch sei in der Regel inhaltsleer und abstrakt.

Mir scheint, dass Fuhrmann recht hat, und wahrscheinlich fällt es Ihnen leichter, ihm zuzustimmen, wenn wir die Unterscheidung zwischen christlicher Religion und christlicher Kultur beachten. Der persönliche Glaube an Gott ist eine Sache für sich und irgendwelchen Beweisgängen nicht zugänglich. Die Tatsache jedoch, dass wir die Erben einer christlichen Kultur sind, bedarf keines Beweises, sie ist evident, die Hermann-Tast-Schule ist ja selber ein Zeugnis dafür. In seiner "Geschichte des gelehrten Unterrichts in Deutschland", die unter dem Titel "Latein und Europa" erschienen ist, erzählt Fuhrmann, wie es zur Gründung der lutherischen Schulen gekommen ist. Mit der Zurückdrängung des Bildungsmonopols der katholischen Kirche und mit der Abschaffung der Klöster entstand ein Vakuum, das Luther und Melanchthon rasch zu füllen versuchten. Im Verein mit tatkräftigen Bundesgenossen wie Johannes Bugenhagen oder Hermann Tast wurden damals überall neue Schulen gegründet, die so genannten Gelehrtenschulen, die zumeist in der Verantwortung der Städte standen. Die Unterrichtssprache war natürlich Latein, und natürlich waren es die Texte der Antike, an denen das Sprachverständnis geschult wurde.
Der Begriff Bildung ist in meinen Augen nicht sinnvoll denkbar ohne eine damit verbundene Bildungsidee. Die letzte große Bildungsidee war die des Humanismus und dann, umgesetzt von Wilhelm von Humboldt, die des Neuhumanismus. Es ist sehr die Frage, ob es ratsam ist, eine gute alte Idee wegzuwerfen, bevor man eine neue hat. Man spricht gelegentlich in pädagogischen Diskussionen von Orientierungswissen und meint damit die Reduktion von Komplexität zugunsten des Erlernens grundlegender sozialer und kultureller Techniken. Deshalb hat die humanistische Bildung noch immer ihre Bedeutung - gerade indem sie am scheinbar unnützen, bloß historischen Gegenstand fundamentale Formen des sprachlichen und moralischen Weltverständnisses lehrt. Und die überlieferten Formen dieses Weltverständnisses liegen noch immer in der Antike begründet: Damals zum Beispiel ist zum ersten Mal über das Tragische und das Komische nachgedacht worden, und die großen Gestalten wie Ödipus oder Elektra, Antigone oder Medea oder Kassandra haben die Weltliteratur bis auf den heutigen Tag befördert und herausgefordert.

Ich glaube deshalb, dass es noch immer sinnvoll ist, Gymnasien zu haben, an denen Latein und Griechisch unterrichtet wird. Ich weiß aber, das ich damit zu einer verschwindenden Minderheit zähle. Nun ist allerdings, wie Sie wohl zugeben werden, die Zahl der Anhänger einer Idee noch nie ein Argument für oder gegen die Qualität dieser Idee gewesen. Sie alle kennen vermutlich die Sendung "Wer wird Millionär?" Der Publikumsjoker, den die Kandidaten von Fall zu Fall in Anwendung bringen, ist riskant: Manchmal hat das Publikum recht, manchmal nicht, und besonders bei schwierigen Fragen hat es sehr oft nicht recht. Das Thema Bildung aber ist wohl eher eine schwierige Frage.

Natürlich muss die Schule auf eine veränderte Welt reagieren - aber doch nicht so, dass sie sich dieser Welt umstandslos anpasst. Bildung ist immer auch der Gegenort zum aktuellen Getriebe, sie muss es sein, heute mehr denn je. Denn die berühmte "invisible hand", von der der große Ökonom Adam Smith gesprochen hat, die unsichtbare Hand des Marktes, sie regelt wohl alles in allem unser Wirtschaftssystem am besten, aber Fragen der Moral und der Kultur kann sie nicht regeln. Im Gegenteil: Unser Wirtschaftssystem, dessen Prinzip die ständige Innovation ist, kann auf Dauer nur funktionieren, wenn es in der Kultur ein beharrendes Gegenüber findet. Die tätige Aneignung und also Bewahrung dieser Kultur: das ist Bildung.

Bildung hat folglich auch die Aufgabe, der Beschleunigung das Verweilen und die Muße entgegenzusetzen; die Zukunftseuphorie mit der Erinnerung zu konfrontieren; der Erforschung des Neuen die Besinnung auf das Überlieferte gegenüberzustellen. Es ist nämlich so: Wenn überlieferte Muster der Deutung und Identifikation nicht mehr gekannt werden, ist ein jeder auf sich allein gestellt, dann ist ein jeder seines Glückes Schmied, im trostlosesten Sinn der Redewendung.

Mich beschleicht nun der schreckliche Verdacht, dass ich Ihnen dauernd etwas erzähle, was sie ohnehin wissen, wovon Sie sowieso überzeugt sind. Ich wohne zwar, das kann kein Zufall sein, in Hamburg in der Husumer Straße, aber die Wahrheit zu sagen: Ich kenne Husum kaum und die Hermann-Tast-Schule auch nicht. Es kann also gut sein, dass ich Eulen nach Athen getragen habe, beziehungsweise Möwen nach Husum.
Was die Eulen und Athen betrifft, so will ich Ihnen zum Abschluss eine kleine Geschichte erzählen. Sie steht in den "Lieblosen Legenden" von Wolfgang Hildesheimer und handelt von einem Mann, der aus heiterem Himmel beschließt, eine Eule nach Athen zu tragen. Er geht in eine Zoohandlung in irgendeiner deutschen Stadt. Der Händler sagt ihm, dass Eulen sehr empfindlich sind und eine derart weite Reise kaum überstehen. Er empfiehlt ihm statt dessen einen Kauz.

Der Mann, obwohl sehr gebildet, ist praktischen Dingen nicht abgeneigt und kauft den Kauz samt Käfig. Im Abteil des Zuges, der ihn nach Athen bringen soll, begegnet er einem Reisenden, der zwar auch gebildet ist, aber leider ein typischer Besserwisser. Der Reisende sagt: Aha, ich sehe, Sie wollen eine Eule nach Athen tragen! Aber das, was Sie da in Ihrem Käfig haben, ist keine Eule, sondern ein Kauz! Unser Mann jedoch hat sich nach dem Kauf des Vogels noch einmal über Aristophanes gebeugt und die Wörterbücher studiert und kann dem Besserwisser antworten, dass "Kauz" in der Tat die korrekte Übersetzung von "glaux" ist. Die berühmte "glaukopis Athene" des Homer, die gewöhnlich die "eulenäugige Athene" genannt wird, wäre also eigentlich die "kauzäugige Athene". Der Besserwisser verstummt, unser Mann kommt in Athen an, geht zur Akropolis, entlässt seinen Vogel und sieht, was zu erwarten war: Weit und breit kein Kauz, von einer Eule ganz zu schweigen.
Die scheinbar unnütze Tat des Mannes war also nicht vergeblich. So hoffe ich denn, dass auch mein Vortrag nicht vergeblich war. Ich bedanke mich für Ihre Geduld und wünsche Ihnen und der Hermann-Tast-Schule eine glückliche Zukunft.


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