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Ulrich Greiner

Stine, wo bist du?

Seit Einführung der Bachelor-Studiengänge geht es an Deutschlands Hochschulen um Workloads, Pflichtmodule und Credit Points. Wohin führt das? 40 Jahre nach seinem Examen in Germanistik und Politik hat sich Ulrich Greiner in die Hamburger Universität gewagt

Alle reden über die Universität, als wüssten sie, wovon sie sprechen. Was ein Kindergarten ist, eine Grundschule, ein Gymnasium, ist wohl klar. Aber die Universität? Nehmen wir an, jemand hätte vor 40 Jahren studiert und er ginge zurück, um nachzusehen, was sie heutzutage so treiben, diese Studenten, und warum sie protestiert haben in diesem Winter, er käme sich vor wie ein Idiot, der nichts weiß und nichts versteht. Dass man »Studierende« sagt, hat der Reporter schnell begriffen, aber als er an der Hamburger Universität den Versuch unternimmt, Näheres über das ominöse »Bologna« zu erfahren, schwirrt ihm bald der Kopf. Was ist ein Credit Point, ein Modul, ein Workload? Was versteht man unter ABK oder CHE? Und wer um Himmels willen ist Stine?

Die Begriffe fallen im ersten Gespräch. Es hätte keinen Zweck, den Professor bei jedem Satz zu unterbrechen. Fremdsprachen lernt man am ehesten durchs Zuhören. Aber dann sagt der Mann: »Es gibt die Universität schon lange nicht mehr, wir haben eine Pluriversität.« Die Fakultäten seien völlig voneinander getrennt. Bei den Medizinern, Juristen oder Betriebswirten gebe es seit eh und je ein strenges Reglement, die Naturwissenschaftler bildeten eine relativ komfortable Welt für sich, und bei den Geisteswissenschaftlern sei die Lage völlig disparat. »Hier auf dem Campus«, ruft der Politologe, »arbeiten mehr als 40.000 Studenten, Professoren, Bibliothekare! Dabei sind die Mediziner noch gar nicht eingerechnet. Das ist eine richtige Stadt. Es hat keinen Sinn, von der Universität zu reden.«

Was tun? Der Reporter beschließt eine kleine Reise in die Geisteswissenschaften, da kommt er schließlich her. Die Suche nach weiteren Gesprächspartnern jedoch gestaltet sich schwierig. Zwar ist die Internetseite der Universität Hamburg professionell gemacht, mit endlosen Verzweigungen, Studienordnungen, Gremien, mit Fotos der Lehrenden, Biografien, Erreichbarkeiten. Aber welche Nummer der Reporter auch wählt, es nimmt keiner ab, E-Mails bleiben unbeantwortet. Später wird er erfahren, dass nur wenige Professoren noch über ein Sekretariat verfügen, dass es auch die alten Institute formal nicht mehr gibt. Bei einer der vielen Reformen hat man eine sogenannte flache Hierarchie eingeführt.

Wozu also telefonieren? Am besten, man geht einfach hin. Auf dem Campus, gruppiert um einen schmächtigen Baum, brennen Grablichter. Holzkreuze stecken in der gefrorenen Wiese. Sie tragen Inschriften wie Jugend, Zukunft, Selbstbestimmung, Freiheit. Das Audimax mit seinem Schildkrötenbuckel sieht verändert aus: Die Glasfenster sind mit bunten Transparenten und Aufrufen zum Streik verhängt. »Wir sind kein Humankapital!« und »Bildung für alle!« steht da, »Nieder mit der Bertelsmann Stiftung und dem CHE!«. Es handelt sich, wie darunter zu lesen ist, um das Centrum für Hochschulentwicklung, das jetzt von Jörg Dräger geleitet wird, dem früheren Hamburger Wissenschaftssenator.

Aus den Plakaten spricht anarchistischer Frohsinn: »Faulenzen statt Lenzen!«, »Astra statt Asta!« (Dieter Lenzen heißt der frisch gewählte Präsident, der sein Amt noch nicht angetreten hat; Astra ist ein Hamburger Bier). Drinnen im Foyer herrscht Gemütlichkeit. Sperrmüllsofas stehen herum, die Garderobe ist eine Kaffeebar. Ein Flattern und Rauschen erfüllt den Raum: Die Warmluftheizung füllt die an den Scheiben klebenden Transparente wie Segel. Ein paar Studenten knien auf dem Boden und pinseln neue Plakate, es riecht nach Farbe. Den Reporter ergreift Rührung. Sieht das nicht aus wie ‘68 seligen Angedenkens? Auch die Stellwände, auf denen zu Arbeitsgemeinschaften eingeladen wird, erinnern ihn an alte Zeiten: Inhalte- und Forderungen AG, Anti-Repressions AG, Winterfest der Liebe AG, Sarkasmus & Polemik AG, Knuddel AG.

Und siehe da: Es gibt sogar Kurse zur Einführung in den Marxismus. Einer findet eben statt. Der Raum ist mit rund hundert Studenten gefüllt. Vorne trägt ein etwa Vierzigjähriger »Zehn Thesen« zur gegenwärtigen Wirtschaftskrise vor. Es sind keine Thesen, sondern weitschweifige, völlig gedankenfreie Paraphrasen marxistischer Kapitalismuskritik. Dass dennoch jeder Hauch von Klassenkampf fehlt, liegt daran, dass der Mann bloß mit dem Mikrofon kämpft und nach Worten ringt. Er ist Lehrbeauftragter an der Freien Universität Berlin. Arme FU! Die Studenten hören stoisch zu. Einige schreiben so intensiv mit, als könnten sie Credit Points fürs Leben gewinnen.

Hinüber zum Hörsaalgebäude: »Einführung in die politische Theorie«. Während sich der Raum allmählich füllt, beschriftet der Professor die Folie und schaltet den Projektor ein. »John Locke, Two treatises of government, Glorious Revolution 1688, Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten« steht auf der Leinwand. Schwungvoll begrüßt der Professor den mit etwa 150 Hörern gut besetzten Saal (»Meine Damen und Herren, meine Lieben«), rekapituliert die vorige Vorlesung über Thomas Hobbes und dessen Vertragstheorie, wonach die Menschen, um den Krieg aller gegen alle zu beenden, ihre Rechte an den Leviathan, also den Staat abgetreten hätten, und setzt nun John Locke dagegen, der insofern gegenteiliger Ansicht ist, als er von unveräußerlichen Rechten spricht, die einem treuhänderischen Staat freiwillig übertragen werden. Woraus sich, wie der Professor hervorhebt, ein Widerstandsrecht ableitet, falls nämlich der Staat seine Pflichten verletzt. Niemand strickt, alle schreiben mit – denn am Ende wird geprüft.

Der Professor, dessen Vortrag mitreißend ist und den Wunsch weckt, häufiger herzukommen, unterbricht sich nun und diktiert zwei Fragen, die in der abschließenden Prüfung beantwortet werden müssen. 1. Wie unterscheiden sich Naturzustand und Vertragskonstruktion bei Hobbes und Locke? 2. Warum kann es nach der immanenten Logik bei Hobbes ein Widerstandsrecht nicht geben, wohl aber bei Locke? Fleißig schreiben alle mit. Als aber nun der Professor auf Kant kommt und dessen philosophische Voraussetzungen prägnant erläutert und als er all dem vorausschickt, das Folgende werde nicht Gegenstand der Prüfung sein, sinken bei nicht wenigen Hörern die Stifte.

In der Vorlesung »Einführung in die Sprachwissenschaft« füllen etwa 400 Studenten den Saal bis auf den letzten Platz. Erster Eindruck: Es sind fast ausschließlich Frauen. Der zweite: Sie stricken nicht mehr. Stattdessen haben sich fast alle, obwohl Hamburg nicht direkt in der Wüste liegt, mit Getränken versorgt. Mineralwasser steht auf den Pulten, überall Plastikbecher mit Kaffee. Die Studentin nebenan wird geraume Zeit benötigen, um eine Mandarine zu schälen und die Stücke von den Fruchtfäden zu befreien. Der Student in der Reihe davor hat seinen Laptop aufgeklappt und sammelt die Eier seiner Hühner ein, er ist Mitglied in Farmville. Offenbar sind einige Studenten nur wegen der Anwesenheitskontrolle da.

Die meisten aber hören aufmerksam zu, und es lohnt sich. Der Professor scheint von seiner Sache erfüllt, er spricht frei und konzentriert. Das Thema heute ist Chomskys generative Transformationsgrammatik, und der Vortragende scheut keine Mühe und keine Erläuterung. Es herrscht absolute Ruhe, nur ab und zu ruft jemand eine Frage dazwischen. Sie wird selbstverständlich beantwortet. Das hätte er sich damals nicht getraut, sagt sich der Reporter. Und jetzt erhebt sich leises Gelächter. Der Professor kommt nämlich auf den russischen Sprachwissenschaftler Fürst Nikolai Sergejewitsch Trubetzkoi und deutet das Lachen falsch, indem er sagt: »Er war wirklich ein Fürst!« Erst als jemand »Buchstabieren!« ruft, begreift er, geht zum Projektor und schreibt den Namen auf die Folie. Auch das ist neu: Die Studenten wollen alles verstehen, weil sie müssen, denn am Ende wird geprüft. Wie oft, so erinnert sich der Reporter, hat er in den Vorlesungen wenig begriffen und heldenhaft mit dem Schlaf gekämpft.

Um die Universität, wie sie heute ist, zu begreifen, studiert er die »Prüfungsordnung der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften«. Dort heißt es: »Studienziel der Bachelorstudiengänge ist die Vermittlung von grundlegenden fachlichen, methodischen und allgemeinen berufsqualifizierenden Kompetenzen, die für die einschlägige berufliche Praxis und ein Master-Studium befähigen. Die Regelstudienzeit beträgt sechs Semester. Der Bachelorstudiengang ist modular aufgebaut. Module können sein: Pflichtmodule, die obligatorisch sind, Wahlpflichtmodule, die aus einem vorgegebenen Katalog von Modulen auszuwählen sind, und frei wählbare Module. Module sind in sich abgeschlossene Lehr- und Lerneinheiten. In Modulen wird eine Teilqualifikation des Qualifikationsziels des jeweiligen Studiengangs vermittelt. Ein Modul schließt grundsätzlich mit einer Prüfung ab. Die Arbeitsbelastung für die einzelnen Module wird in Leistungspunkten ausgewiesen. Dabei entspricht 1 Leistungspunkt einer Arbeitsbelastung von 30 Stunden. Der Gesamtumfang des Studiengangs umfasst 180 Leistungspunkte. Der Erwerb von Leistungspunkten ist an das Bestehen der Modulprüfungen gebunden. Sofern die Fachspezifischen Bestimmungen eine Anwesenheitspflicht bei Lehrveranstaltungen vorsehen, ist die regelmäßige Teilnahme an den für das Modul vorgesehenen Lehrveranstaltungen Voraussetzung für die Zulassung zu einer Modulprüfung. Regelmäßig teilgenommen hat grundsätzlich, wer nicht mehr als 15 Prozent der Lehrveranstaltungen eines Moduls versäumt hat…«

Der Reporter bedauert die Studenten zutiefst und sieht ein, dass er ohne Hilfe nicht weiterkommt. Sie naht ihm in Gestalt von Julia. Julia ist 22 und studiert im sechsten Semester Germanistik. Sie schreibt gerade ihre Bachelorarbeit über den Schriftsteller W. G. Sebald. »Ich hab nicht gleich einen Studienplatz gekriegt, weil ich im Abi nur einen Schnitt von 2,0 hatte. Aber ich musste mich gar nicht förmlich einklagen, musste beim Asta nur ein paar Formulare ausfüllen, die haben das dann für mich geregelt.« Als sie aber die zitierte Prüfungsordnung gelesen habe, sei sie so erschrocken, dass sie erst ein Semester später gestartet sei. »Das war etwas blöde von mir, weil das Ganze im Grunde auch nicht komplizierter ist als das Kurssystem in der Oberstufe. Da haben wir ja auch immer nur Punkte gesammelt.« Modul sei nur ein anderes Wort für Lerneinheit, sagt Julia. »Meistens besteht die aus einem Seminar und einer Vorlesung.« Welche Module in welchem Semester drankämen, sei genau vorgeschrieben. »Aber das war ja in der Schule nicht anders. Theoretisch kann man zwischen verschiedenen Seminaren wählen, aber Stine teilt die dann einfach zu.«

Stine? Julia lächelt über so viel Unwissenheit. Stine ist das Studieninformationsnetz, mit Stine haben die Studenten mehr zu tun als mit jedem Professor. »Bei Stine muss ich mich zu den Modulen anmelden, sie sagt mir, welche ich kriege. Bei Stine habe ich ein Konto, wo ich sehen kann, wie viele Credit Points ich schon habe und welche Noten. Das Notensystem ist wie in der Schule, mit einer Stelle hinter dem Komma, also 2,4 oder 1,9.« Das ergibt an die vierzig verschiedene Möglichkeiten, wenn man die ganz schlechten Ergebnisse weglässt. Aber noch mal nachgefragt: Warum kommt man oft nicht in die Seminare, die man sich ausgesucht hat? »Weil keiner wissen kann, welches Seminar er bekommt, bewerben sich alle um alle Seminare. Und Stine verteilt das dann irgendwie.«

Manchmal, sagt Julia, beneide sie die Studenten von früher. »Die konnten ihre Themen noch frei wählen, hatten noch eine Chance, über den Tellerrand zu gucken.« Aber unglücklich ist Julia keineswegs, sie liebt ihr Literaturstudium und ist sogar Tutorin. An ihrem Professor schätzt sie, dass er die Studenten zum eigenen Denken anregen will. Das ist nicht leicht, weil viele nur darauf aus sind, etwas schwarz auf weiß nach Hause zu tragen. Im Seminar über Hölderlin wollen viele lediglich wissen, welche Textinterpretation nun gilt. Sie starren auf die Prüfungen und die Noten. Ihrem eigenen Urteil vertrauen sie selten, manchmal haben sie auch keins. Julia sieht ein Problem darin, dass alles auf die Messbarkeit von Leistungen zuläuft. »Mit Literatur hat das nicht viel zu tun.«

Der Reporter fasst sich ein Herz und besucht eine »Einführung in die Literaturwissenschaft«, Bereich Anglistik. Es irritiert ihn, dass dieses Seminar für Anfänger in einem Hörsaal stattfindet. Wie soll man hier diskutieren? Der Raum wirkt schäbig, die großen Fenster sind teilweise blind (was heute insofern nichts macht, als draußen grauer Frost herrscht), die Decke zeigt bräunliche Feuchtigkeitsflecken, viele Neonröhren sind tot. Andererseits ist das die passende Umgebung für eines der düstersten Gedichte überhaupt: The Raven von Edgar Allan Poe. Nach knappen einführenden Worten liest der Professor die erste Strophe auf Englisch vor und stellt Verständnisfragen. Diejenigen, die darauf antworten, sitzen in der Regel vorne, sodass man nicht immer alles versteht. Ein Student weiter hinten nimmt an dem etwas mühsamen Gespräch eher geringen Anteil. Wenn er das Gefühl hat, der Professor habe etwas Prüfungsrelevantes gesagt, tippt er es flink in seinen Laptop. Dazwischen spielt er hingebungsvoll Solitaire.

Inzwischen ist der Professor bei der sechsten Strophe (von insgesamt 18) angelangt und fragt, ob der Rabe, der den um seine verstorbene Lenore trauernden Erzähler nächtens heimsucht, nur eingebildet sei oder ein reales Tier. Er steht auf, geht durch den Saal und teilt ihn mit einer Handbewegung in zwei Gruppen. Sie sollen die kontroversen Thesen miteinander diskutieren. In den nächsten zehn Minuten herrscht angeregtes Geplauder, dann sammelt der Professor die Voten ein. Er schließt die Sitzung mit der Bemerkung, jede These habe etwas für sich, und es sei eine Eigentümlichkeit der Poesie, dass sie viele Lesarten zulasse. Schade eigentlich, dass keine Chance bestand, den Gedanken zu vertiefen. Es wäre schön gewesen, wenn jemand auf seiner Position, der Rabe sei nur ein Hirngespinst, hätte beharren können. Aber wie sollte das gehen bei etwa fünfzig Teilnehmern? Da wäre ein Leistungskurs Englisch in einer viel besseren Lage und das Diskussionsniveau vermutlich höher.

Die Studentin Beate erzählt, derart überfüllte Seminare seien keine Seltenheit. Zuweilen gebe es Arbeitsgruppen mit sechs Teilnehmern, und wenn jeder sein notwendigerweise kurzes Referat gehalten habe, sei die Sitzung vorbei. So gehe es das ganze Semester über, denn jeder müsse ja eine Note kriegen. Wie kommt sie mit dem Bachelor zurecht? »Gut, aber mich dürfen Sie nicht fragen, denn ich bin nicht sehr typisch.« Wieso? »Ich bin ja schon fast vierzig und Krankenschwester. Aber ich wollte immer Lehrerin werden, am liebsten in der Grundschule. Vor ein paar Jahren habe ich es schon mal probiert, aber in dem alten Studiensystem fühlte ich mich verloren. Das neue ist viel besser für mich, ich mag es, wenn man mir sagt, was ich tun soll.« Was bemängelt sie? »Dass man keine Wahlfreiheit hat. Manchmal würde ich gerne ein Seminar machen, das mich interessiert, aber wenn das nur ein Wahlmodul ist und kein Pflichtmodul, muss ich das auf eigene Kosten machen.« Auf eigene Kosten? »Ich kriege keine Punkte dafür. Zeitlich ist sowieso alles sehr eng, am Wochenende arbeite ich in der Klinik, denn ich muss ja leben und mein Kind versorgen, da ist für alles andere kein Platz.«

Das Zimmer des Vizepräsidenten befindet sich im alten Gebäude der Universität aus dem Jahr 1911. Es ist ein wahrhaft bescheidenes Zimmer, zwar frisch renoviert, aber das Mobiliar aus hellbraunem Holzimitat kann unmöglich viel gekostet haben. Immerhin gibt es Platz für einen kleinen Besprechungstisch. Auf die Frage nach dem Streik für bessere Studienbedingungen lächelt der Vizepräsident, ein schmaler Fünfziger mit markanten Gesichtszügen, etwas gequält. Das Audimax sei inzwischen geräumt, die Schäden seien geringer als befürchtet. Wie hoch? »Ich schätze einige Zehntausend.« Wer bezahlt das? »Die Universität, wer sonst?« Zwar hat er tapfer (wie Augenzeugen berichten) mit den Studenten diskutiert, um die Lage zu befrieden, aber sie hätten, so findet er nun, utopische Forderungen gestellt, was daran liege, dass man die Zwänge der Universität generell zu wenig begreife.

Worin bestehen die Zwänge? »Was die Studenten vor allem beklagen, ist erstens, dass ihre Wahlfreiheit zu gering ist, und zweitens, dass die Seminare in den Massenfächern zu groß sind. Genau daran können wir wenig ändern.« Weshalb nicht? Der Vizepräsident begreift, dass er es mit einem Unwissenden zu tun hat, und holt zu einem längeren Vortrag aus, in dem unbegreifliche Begriffe wie »Curricularnormwerte« und »Lehrdeputate« vorkommen. Es gibt, sagt der Vizepräsident, in jedem Bundesland eine Kapazitätsverordnung, die der Universität genauestens vorschreibt, wie viele Studenten sie in jedem Fach aufzunehmen hat. Der Reporter stutzt und fragt: »Wenn Sie also mehr Professoren anstellen könnten…?« Der Mann freut sich über den Lernfortschritt und fährt fort: »…dann wäre für die überfüllten Seminare nichts gewonnen, weil wir dann mehr Studenten aufnehmen müssten.«

Augenblicksweise ergreift den Reporter tiefe Verzweiflung. Das also ist die oft zitierte Autonomie der Universität: Sie kann über ihren Etat nicht bestimmen, nicht über ihre innere Verfasstheit, nicht über die Organisation der Lehre – und nicht einmal über die Zahl der Studenten, die sie aufnehmen will. Ist nun die Planwirtschaft, die den Osten zugrunde gerichtet hat, im Westen angekommen? Als hätte der Vizepräsident die Gedanken des Besuchers erraten, fügt er hinzu: »Es gibt momentan die Tendenz, das alte Studiensystem zu verklären. Das war ja nicht besser, im Gegenteil. Wenn man den Studienerfolg daran misst, wie viele einen Abschluss erreichen, hatten wir früher in den Geisteswissenschaften eine Erfolgsquote von 30 bis 40 Prozent. Heute liegen wir deutlich über 60. Früher war es der Universität relativ gleichgültig, was die Studenten später machen würden. Der Bachelor antwortet auf die Tatsache, dass nicht alle Wissenschaftler werden können und wollen. Er bietet ein überschaubares Studium, in dem auch berufspraktische Dinge unterrichtet werden.«

Aber die Proteste waren doch begründet, oder? »Ja, es gibt in der Tat zu viele Prüfungen, was in der Hauptsache daran liegt, dass manche Professoren befürchtet haben, ihr Gebiet verliere an Ansehen, wenn es nicht Gegenstand einer Prüfung sei. Jetzt klagen manche Professoren über die Prüfungslast, das ist aber ihre eigene Schuld. Außerdem ist die Strukturierung zu stark, wir müssen die zeitliche Reihung lockern.« Und die Anwesenheitspflicht? »Bei Vorlesungen ist sie Quatsch«, sagt der Vizepräsident entschieden. »Um aber auf Ihre Frage nach den überfüllten Seminaren zurückzukommen: Sehen Sie, die Universität hat die Pflicht, den Anspruch der Studenten auf Ausbildung durch ein entsprechendes Angebot zu erfüllen, und das macht sie so gut wie möglich. Wenn aber nun einige Seminare nur halb gefüllt sind, dann sind andere überfüllt. Stine versucht das auszugleichen.«

Und wenn der Professor A in dem Studenten B einen begabten Nachwuchswissenschaftler erblickt, kann er ihn überhaupt noch in sein Seminar aufnehmen? »Im Prinzip nicht«, sagt der Vizepräsident ohne Bedauern, »und das wäre auch unfair gegenüber anderen. Stine ist ein gerechter Scharfrichter.« Es komme aber hinzu, dass die kleinen Fächer sozusagen auf Kosten der großen lebten, weil sie häufig unter der Kapazitätsnorm lägen. Heißt das, fragt der Besucher, dass dieses Minus anderswo durch ein Plus aufgefangen werden muss? »Leider«, sagt der Vizepräsident, »aber Sie dürfen das nicht so verstehen, als hätte ich etwas dagegen, schließlich komme ich selber aus einem Orchideenfach, aus der Finnougristik.«

Der Reporter verabschiedet sich in dem Gefühl, mit keinem Präsidenten welcher Universität auch immer tauschen zu wollen, und eilt hinüber in den »Philosophenturm«, um in der achten Etage ein Orchideenfach zu besichtigen: die Altphilologie. Der Blick aus den Fenstern geht weit übers kältestarrende Hamburg. Der Professor hat einen Kollegen dazugebeten, als Vorsichtsmaßnahme vermutlich, denn allen sitzt noch der Erlass der inzwischen resignierten Präsidentin Auweter-Kurtz in den Knochen, die es den Lehrenden untersagt hatte, sich über universitäre Dinge öffentlich zu äußern. Aber das Gespräch verläuft durchaus entspannt und mündet in der Feststellung, dass sich hier oben im Turm nicht allzu viel geändert habe. Schließlich stünden die Anforderungen in der Klassischen Philologie unweigerlich fest, ob mit oder ohne Bachelor. Generell sei es schade, sagt der Latinist, dass der neue Studiengang von einem grundsätzlichen Misstrauen gegen die Studenten geprägt sei, als müsse man sie anleiten und zwingen. Seine Erfahrung sei, dass man mit Vertrauen viel weiter komme. Der Gräzist, angesprochen auf die Berufsbezogenheit des Studiums, zitiert Aristoteles, der gesagt habe, je weniger ein Wissen nützlich sei, umso wertvoller sei es.

Die beiden noch recht jungen Professoren scheinen mit ihrer Lage keineswegs unzufrieden. Ein ähnliches Bild zeigt das folgende Gespräch mit drei Studentinnen der Altphilologie. Gianna (sie ist Italienerin) hat noch den Magister gemacht, findet aber den Bachelor besser: »Ich wusste nie genau, wie gut oder schlecht ich bin, und dann kam das dicke Ende. Jetzt müssen sich die Profs mehr um einen kümmern.« Tun sie das? »Durchaus«, sagt Laura, »außerdem kann man jederzeit zu einem Prof hingehen, im Institut stehen die Türen meistens offen, und wenn man was wissen will, geht man einfach rein und fragt.« Laura, viertes Semester, kommt aus Essen und hat Latein gewählt, weil sie einen großartigen Lehrer hatte, von dem sie die Liebe zur Antike lernte. Was sagt sie zu dem Vorwurf, der neue Studiengang sei schematisch und führe lediglich zu einem Prüfungswissen? »Dass jemand nur wegen der Noten lernt, hat es früher wahrscheinlich auch gegeben. Man kann niemanden dazu zwingen, mit Leidenschaft zu studieren.« Susanne ist im ersten Semester und findet den Bachelor okay. »Ich kenne ja nichts anderes.« Wie groß sind die Seminare? »Acht oder zehn Teilnehmer«, sagte sie, »aber im Nebenfach mache ich Englisch, da sind in einem Seminar 60 Studenten. Man sitzt auf den Tischen und sieht den Professor kaum.«

Wie ist ihre finanzielle Lage? Gianna kriegt kein Bafög, braucht aber auch nur etwas mehr als 500 Euro im Monat, was daran liegt, dass sie in einer WG auf der Veddel wohnt (das ist ein billiges, abgelegenes Quartier im Hafengebiet) und für die Miete nur 200 inklusive bezahlt. Laura wohnt nicht weit von der Universität, für 335 Euro. Die bezahlen ihre Eltern. Sie bekommt 167 Euro Bafög. Susanne hat fünf Geschwister und gibt ihre 450 Euro Bafög zu Hause ab. Sie wohnt noch bei den Eltern. Alle drei arbeiten nebenher, geben Nachhilfe und kellnern, empfinden das aber nicht als Belastung. »Ich kann ja nicht immer nur lesen«, sagt Laura.

Was bemängeln sie? »ABK!«, rufen sie wie aus einem Munde. ABK? »Das bedeutet Allgemeine Berufsspezifische Kompetenzen«, sagt Laura, »das müssen wir machen. Da lernt man zum Beispiel, wie man ein Bewerbungsgespräch führt, und jeder muss dann eine solche Situation vorspielen. Beim fünften Mal hat man kapiert, wie’s geht, aber das wird dann 20-mal gemacht. Kindergarten! Genauso blöd ist das Modul Präsentationsformen, wo man PowerPoint übt. Die meisten kennen das schon aus der Schule und langweilen sich, aber jeder muss jedes Mal hin.« Und was halten sie vom Streik? Die Runde zögert. Laura sagt schließlich: »Der Streik ist gut, weil er aufmerksam macht auf die Situation, sonst wären Sie ja vermutlich nicht hier. Aber ehrlich gesagt haben wir keine Zeit, uns daran zu beteiligen.«

Die Fachschaft Sozialwissenschaften hat ein mit Sperrmüllsesseln und Plakaten gemütlich ausstaffiertes Zimmer. Anders als auf der Insel der seligen Altphilologen herrscht hier, unter drei schon fortgeschrittenen Politologiestudenten, der Geist der Widerspruchs. Simon erzählt: »Vor Weihnachten hat uns der Professor gesagt, wir könnten in den Ferien endlich mal Adornos Dialektik der Aufklärung lesen, ›Aber das macht ihr ja sowieso nicht, weil ihr keine Punkte dafür kriegt‹. Das hat mich geärgert, weil wir überhaupt keine Zeit haben, was Zusätzliches zu lesen, denn jetzt stehen drei Klausuren an. Der Typ kann gut über die Punkte spotten, aber wir brauchen sie und haben keine andere Wahl.« Sebastian fügt hinzu: »Und wir brauchen gute Noten, denn bei den gefragten Praktika kommt es darauf an.« Simon: »Nicht wir sind auf Punkte und Noten fixiert, sondern das System ist es!«

Was Johannes am meisten bedauert, ist das Verschwinden des wissenschaftlichen Impulses: »Es kann doch nicht darum gehen, abfragbares Wissen zu lernen. Man muss denken lernen! Man kommt aber überhaupt nicht zum Denken vor lauter Prüfungen. Bei uns sind es insgesamt 35!« Als der Reporter ungläubig guckt, sagt er selbstsicher: »Ich habe sie genau gezählt. Da wird ein Bildungsbegriff exerziert, der mit Geisteswissenschaft nichts zu tun hat.« Simon: »Der Bachelor ist nichts anderes als eine gigantische gymnasiale Oberstufe. In den Seminaren herrscht eine Schulatmosphäre, wo sich Studenten beliebt machen wollen, indem sie sich dauernd melden.«

Die drei sind versierte Diskutanten und nicht auf den Kopf gefallen. Simon ist Studienstiftler, Sebastian Tutor und Johannes Fachschaftssprecher. Aber ihre Kritik kommt eigentlich recht gut gelaunt daher, genau besehen ist sie ja auch Gegenstand ihres Fachs. Sie begreifen durchaus das Problem, dass es viel mehr Studenten gibt als früher. Gegenwärtig sind es rund zwei Millionen. »Aber müssen denn alle studieren?«, fragt Sebastian. Es ist keine rhetorische Frage, er weiß wirklich keine Antwort darauf, und der Reporter weiß sie auch nicht.

Das Gespräch mit dem Kunsthistoriker findet in einem nahe gelegenen Hotelrestaurant statt. Von hier aus sieht man das eindrucksvolle alte Uni-Gebäude mit seiner Kuppel und die beiden neuen Flügelbauten. Fast abstrakt ragen sie aus der leuchtenden Schneefläche hervor, die Sonne scheint. Der Kunsthistoriker, Anfang 60, ist ein Mann pointierter Sarkasmen, gleichwohl sieht er die Sache ambivalent. »Einerseits«, sagt er, »ist ein abschließendes Urteil gar nicht möglich. Die erste Phase, der Bachelor, ist noch nicht wirklich erprobt. Die zweite, der Master, hat noch gar nicht angefangen. Die dritte Phase, nämlich die Promotion – und Sie dürfen nicht vergessen, dass man den Universitäten das Promotionsrecht gelassen hat –, ist noch gar nicht organisiert. Wenn das mal passiert, kann man die Hoffnung haben, dass wieder ernsthaft akademisch gearbeitet werden kann.« Er trinkt einen Schluck von seiner Cola. »Andererseits beobachte ich, dass sich die Studenten gewandelt haben. Sie sind pragmatischer geworden, haben ein ökonomisches Verhältnis zum Aufwand von Zeit und Arbeit. Sie machen genau das, was von ihnen verlangt wird, und nicht mehr. Im Grunde sind Bologna und Internet zwei Seiten der allgemeinen Beschleunigung: die möglichst schnelle Gewinnung und Verarbeitung von Information.«

Das klingt betont sachlich. Bedauert er nichts? »Schon, ich bedaure, dass es für uns Lehrende und für die begabten Studenten ein bisschen langweiliger geworden ist. Ich bedaure, dass die neue Schicht der Mittelmäßigen, die nichts anderes als Management können, immer mehr die Szene bestimmt. Aber vielleicht geht das nicht anders. Und in einem Punkt gibt es die Autonomie der Universität immer noch: Ich kann lehren und forschen, was ich für richtig halte, und das mache ich auch.«

Zu Hause angekommen, geht dem Reporter das Stimmengewirr im Kopf herum, und ihm wird klar, wie treffend das Wort von der »Pluriversität« ist. Denn die Absichten und die Begabungen der Studenten sind verschiedener kaum denkbar. Was verbindet die Krankenschwester Beate, die Kinder unterrichten will (und den finsteren Poe dafür bestimmt nicht benötigt), mit dem Studienstiftler Simon, der zweifellos eine wissenschaftliche Karriere machen wird? Während Beate sich im festen Rahmen des Studiengangs als geborgen empfindet, fühlt Simon sich belästigt in seinem Drang, den Dingen auf den Grund zu gehen. Während sie froh darüber ist, dass ihr das Wissenswerte als unbezweifelbarer Lern- und Prüfungsgegenstand beigebracht wird, glaubt er an das Humboldtsche »Princip, die Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten«.

Dem Reporter fällt auf, dass er diese Reise voller Misstrauen gegen die Bachelorreform begonnen hat. Und dass ihm Simons Position sympathisch ist, weil sie ihn an die eigene Studienzeit erinnert. Aber haben die vielen anderen Studenten, die rasch auf einen erreichbaren Abschluss hinsteuern, nicht auch ein Recht auf die Universität? Das haben sie, denkt der Reporter, er kann es ihnen nicht streitig machen, indem er sich die alten Zeiten zurückwünscht, als nur ein Bruchteil der heutigen Menge studierte. Solange beide, sowohl ein Simon als auch eine Beate, an ihr Ziel gelangen, ist die Reform, die ja nun neuerdings reformiert wird, akzeptabel. Ihren Weg in eine Welt ohne Module müssen sie sowieso alleine gehen.

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