Home - Bildung - Ist Deutsch noch zu retten?


 

Ulrich Greiner

Ist Deutsch noch zu retten?

Englisch ist die Weltsprache, und sie ist die Sprache der wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Eliten unseres Landes. Ein Versuch, die Lage der deutschen Sprache zu beschreiben.

Immer wieder machen besorgte Geister den Vorschlag, Deutsch als Landessprache in der Verfassung zu verankern. Angenommen, es käme dazu: Welches Deutsch wäre das? Im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel war kürzlich der Bericht über ein Treffen von Verlagsleuten zu lesen, wo es unter anderem »um den zwischenmenschlichen Workflow« gegangen sei, und die Überschrift dazu lautete: Der Wind of Change bläst durch die Branche. Kann schon sein – vor allem aber bläst der Wind of Change durch die deutsche Sprache. In ihrem alten Gehäuse, wo wir uns halbwegs kommod eingerichtet hatten, wird es immer zugiger. Von allen Seiten verschaffen sich die seltsamsten Wörter, die absurdesten Redewendungen unerwünschten Zutritt, und die Sprachschützer, die einst zu den Sonderlingen und Querulanten gerechnet wurden, erhalten wachsenden Zulauf. Deutsche Akademien machen sich Sorgen, Sprachvereine werden gegründet, in den Feuilletons diskutieren Sprachkritiker, und Guido Westerwelle hat vor kurzem eine Kampagne »Deutsch – Sprache der Ideen« eröffnet.

Die Klage über den Niedergang des Deutschen ist so alt wie dieses. Sie wird den Wind of Change kaum aufhalten können. Es empfiehlt sich deshalb ein nüchterner Blick auf die Lage. Sie ist nicht bestimmt durch die mangelnde Beherrschung des Konjunktivs oder das Schwächeln des Genitivs und nicht durch das weidlich verspottete Denglisch, sondern ganz simpel durch die Tatsache, dass Deutsch auf den wichtigsten Gebieten des öffentlichen Lebens, in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, eine schwindende Rolle spielt. Englisch tritt an seine Stelle.

Die Frage, ob der damit verbundene politische und ökonomische Gewinn einen kulturellen Verlust bedeute, der vielleicht gar die Fundamente unserer Sprache untergrabe, ist durchaus umstritten, und naturgemäß hängt die Antwort von den allerempfindlichsten Gefühlen ab. Zeitgenossen mit geringem sprachlichen Sensorium kommen damit leichter zurecht als jene, die Deutsch nicht allein zu Zwecken der Mitteilung benutzen, sondern als Form des Denkens und Dichtens. Gleichgültig aber, ob man die Invasion des Englischen begrüßt oder bedauert: Der Wandel vollzieht sich leise, ist aber dramatisch.

Betrachten wir erstens die Wissenschaft. Der Linguist Ulrich Ammon, Autor des Standardwerks Die internationale Stellung der deutschen Sprache (1991), beziffert in einem Gespräch den Anteil des Deutschen an den wissenschaftlichen Publikationen der ganzen Welt: In den Naturwissenschaften liege er bei einem Prozent, in den Sozialwissenschaften bei sieben, für die Geisteswissenschaften gebe es keine genauen Zahlen. Was nun unser Sprachgebiet betrifft, so schätzt er, dass 80 bis 85 Prozent der deutschen Naturwissenschaftler auf Englisch publizieren, 50 Prozent der Sozialwissenschaftler und 20 Prozent der Geisteswissenschaftler. Für die Welt gilt: Die Wissenschaft spricht Englisch. Aber auch in Deutschland anglifiziert sie sich immer mehr.

Dies wirkt auf unseren Wissenschaftsbetrieb zurück. Einmal dadurch, dass in Deutschland ansässige Verlage immer häufiger nur noch englische Zeitschriftenbeiträge und Buchmanuskripte akzeptieren. Zum andern zeigt sich die Dominanz des Englischen darin, dass sich die Maßstäbe des Akademischen an die der anglofonen Welt angleichen. Man sieht das an der schmerzhaften Implantation der sogenannten Bologna-Reform in das Korpus der deutschen Universität und des in deutscher Zunge immer noch unästhetischen »Bätschelers«; mehr noch aber daran, dass die meisten Förderungsanträge auf Englisch zu erfolgen haben; und schließlich daran, dass es etwa 700 englischsprachige Studiengänge gibt.

Auch hier gilt, dass der Prozess in den Naturwissenschaften und in der Medizin am weitesten fortgeschritten ist, gefolgt von den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Die Geisteswissenschaften wehren sich noch; mit einigem Erfolg einstweilen Germanistik, Archäologie, Theologie und Philosophie sowie einige andere kleine Fächer, in denen das Deutsche aus Gründen der Tradition noch eine Rolle spielt.

Dass zweitens die Wirtschaft Englisch spricht, versteht sich von selbst. Als Thomas Middelhoff, seinerzeit Chef von Bertelsmann, die mehrheitlich deutschen Mitarbeiter dazu anhielt, englisch miteinander zu reden, erntete er hier und da noch Irritationen. Inzwischen haben die meisten deutschen Firmen mit internationaler Betätigung Englisch zu ihrer Corporate Language bestimmt. Was dazu führt, wie Ulrich Ammon bedauernd erzählt, dass Techniker oder Wissenschaftler aus der Dritten Welt, die Deutsch gelernt haben, um in Deutschland etwas zu werden, bei Siemens etwa erfahren müssen, sie hätten besser Englisch gelernt.

Dass nun aber drittens die Politik das Deutsche immer mehr aufgibt, ist mit der Tatsache, dass Englisch die Sprache der Diplomatie ist, nicht vollständig erklärt. Es ist Usus, dass beispielsweise der deutsche Botschafter den deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig mit einer englischen Ansprache eröffnet, selbst wenn die meisten Gäste Deutsche oder Italiener sind. In der Europäischen Union gilt Deutsch als eine der drei Arbeitssprachen, es wird aber nicht angewendet – auch deshalb nicht, weil die deutschen Politiker keinen sonderlichen Wert darauf zu legen scheinen.

Ammon sagt, die Franzosen hätten sich mit ihrer Sprachpolitik zwar nicht beliebt gemacht, aber sie hätten erreicht, dass in der EU an Französisch schwer vorbeizukommen sei. Selbst die Engländer sprächen Französisch, Barroso ebenfalls, Deutsch könne er nicht. »Wenn es eines Tages eine europäische Föderation geben wird, dann wird die Regierungssprache Englisch sein, vielleicht Französisch, sicherlich nicht Deutsch, und dann können Deutsche mit ihrer Regierung nicht mehr auf Deutsch kommunizieren.« Inzwischen bröckelt sogar die letzte Bastion der reinen Deutschsprachigkeit: die Justiz. Der Bundesrat möchte, dass demnächst ganze Zivilprozesse auf Englisch stattfinden, um so die Benachteiligung deutscher Gerichte bei internationalen Wirtschaftsverfahren zu beseitigen.

Viertens schließlich kommt hinzu, dass alle Bereiche unserer Lebenswelt, die als modern oder zukunftsträchtig gelten, anglofon geprägt sind: das Internet, die Computertechnik, die Welt des Konsums, die Pop- und Jugendkultur. Die Wettbewerbsbeiträge des diesjährigen Eurovision Song Contest wurden fast ausnahmslos auf Englisch vorgetragen, und der Moderator sagte selbstverständlich »Jurovischen«, während das Wort früher deutsch oder französisch ausgesprochen wurde.

Je mehr das Englische die Szene beherrscht, desto mehr Menschen müssen oder wollen Englisch lernen, und desto mehr beherrscht es die Szene. Neue Statistiken der EU zeigen, dass nunmehr 90 Prozent aller Schüler in Europa in Englisch unterrichtet werden. Der Anteil steigt auf Kosten des Deutschen und des Französischen. Das betrifft auch unsere eigenen Schulen. Als die ersten Pisa-Ergebnisse eine mangelhafte Sprachbeherrschung erkennen ließen, haben die Bildungspolitiker daraus nicht den Schluss gezogen, den Deutschunterricht zu verstärken, sondern sie haben den Englischunterricht in der Grundschule beschlossen. Auch die Zahl der Englischkindergärten steigt. Derzeit sind es etwa 400.

So weit die Lage. Sie zu schildern ist einfacher, als sie zu bewerten. Denn Sprachpatriotismus gerät rasch unter Ideologieverdacht, oder er wird tatsächlich ideologisch. Versuchen wir also einen pragmatischen Blick auf die Gewinne und Verluste:

Ist es nicht ein Gewinn, dass es neben der babylonischen Sprachverwirrung eine Weltsprache gibt, die (fast) jeder Taxifahrer oder Kellner versteht, ob in Kapstadt, Kathmandu oder Gelsenkirchen? Zweifellos. Der globale Handel, die internationale Politik, die Wissenschaften und auch die Künste könnten ohne diese Weltsprache nicht gedeihen. Dass sie Englisch ist, verdankt sich der Macht Amerikas; dass sie nicht Deutsch ist (was zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorstellbar war), den zwei Weltkriegen, die dem deutschen Ansehen schwersten Schaden zugefügt haben. Die Vernichtungspolitik der Nazis hat außerdem zu einem gewaltigen Verlust an Intellektuellen und Wissenschaftlern geführt, den man durchaus Braindrain nennen darf.

Natürlich kann man fragen, ob Englisch die ideale Weltsprache sei. Es stimmt, dass die perfekte Beherrschung des Englischen äußerst schwierig ist. Hat man zum Beispiel das komplexe grammatische Gerüst der romanischen Sprachen intus, so beherrscht man sie schon nahezu. Ins Englische hingegen kommt man leicht hinein, aber je mehr man drin ist, umso größer werden die Lücken. Das hat vor allem mit dem großen, nicht leicht zu erlernenden Anteil des Idiomatischen zu tun, also der nicht wörtlich zu verstehenden Redewendungen. Der alte Spruch bewahrheitet sich: »English is the easiest language to speak badly.«

Es ist aber schon mehrfach bemerkt worden, dass die internationale Verständigungssprache im strengen Sinn gar nicht Englisch ist, sondern eher »Globalesisch« oder eine neue Lingua franca, wie sie jahrhundertelang das Lateinische gewesen ist, also eine »freie Sprache«, die niemandem gehört, keine territoriale Heimat besitzt und als zweite Sprache zu der eigenen hinzukommt.

Den Vergleich mit dem Lateinischen halten viele für irrig, weil sie sagen, es habe im europäischen Mittelalter längst keine Römer mehr gegeben, während die Vormachtstellung des Englischen Ausdruck eines Sprachimperialismus sei, der den Muttersprachlern einen uneinholbaren Vorsprung sichere. Hier nun hat die Linguistin Barbara Seidlhofer (Wien) ein interessantes Argument. Sie sagt, wenn sich ein Portugiese und ein Pole in Brüssel auf Englisch unterhielten, dann sei ein etwa hinzukommender Engländer überhaupt nicht im Vorteil, weil das Hochenglische und das Lingua-franca-Englische zwei gewissermaßen verschiedene Sprachen seien. »Die Engländer müssen erfahren und lernen, dass die Lingua franca nicht ihre Sprache ist, dass sie nicht ihnen gehört, sondern allen.« Die Forderung, mehr und mehr Sprachen zu lernen, sei irreal, weil das erstens keiner mache und weil er zweitens die Qualität eines Nativespeakers niemals erreichen könne.

Barbara Seidlhofers Forschungsgebiet ist das gesprochene Lingua-franca-Englisch, und sie hat mit Kollegen eine Datenbank eingerichtet, das Vienna-Oxford International Corpus of English, kurz Voice, wo man Mitschriften von englisch geführten Kaffeehausgesprächen oder Konferenzen nicht englischer EU-Bürger findet. Wenn man sich dort über das Gestümpere amüsiert oder selber darin wiedererkannt hat, versteht man Seidlhofers These, es komme in der Lingua franca nicht auf Korrektheit an, sondern auf Angemessenheit. »Wir verwenden verschiedene Sprachen für verschiedene Ziele, wir bilden Zweckgemeinschaften, und in der Lingua franca kommt es einzig darauf an, sich verständlich zu machen, ungeachtet aller Fehler, die nur einem Engländer auffallen.«

Es gibt also keinen Grund, die Engländer um die Dominanz ihrer Sprache zu beneiden. Eher sollte man sie bedauern, denn das Englische wird sich durch den inkompetenten globalen Gebrauch verändern, wahrscheinlich stärker als das Deutsche durch den Einfluss des Englischen. Es gibt auch keinen Grund, die verlorene Weltbedeutung des Deutschen zu beklagen, denn Deutsch war nie eine Weltsprache. Zwar steht es je nach Zählweise auf Platz 10 oder 8 der am meisten gesprochenen Sprachen, was angesichts von vermutlich 6000 Sprachen ziemlich weit vorn ist, aber eben nicht so weit vorn, dass wissenschaftlicher Austausch darin optimal gelingen könnte. Je größer eine Forschergruppe ist, umso produktiver der Austausch von Informationen. Es muss auch für die Geisteswissenschaftler nicht von Nachteil sein, wenn sie gezwungen werden, ihre gelegentlich verschlungene Redeweise durch die Übertragung ins Englische klarer zu machen. Gleichwohl gibt es eine Umfrage, der zufolge ein Viertel der deutschen Wissenschaftler Konferenzen meidet und ein Drittel Publikationsmöglichkeiten ausschlägt, wenn Englisch verlangt wird.

Sind das vorübergehende Schwächen, oder wird da ein prinzipieller Widerstand sichtbar? Florian Coulmas, Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokyo, hat kürzlich in der Neuen Zürcher Zeitung geschrieben: »Schweden, Bangalen und Chinesen haben gewöhnlich keine Hemmungen, sich der englischen Sprache zu bedienen, um ihre Erkenntnisse zu verbreiten. Sie begrüßen die Chance, so am internationalen Wissenschaftsbetrieb teilzunehmen.« In Deutschland und der Schweiz jedoch spielten leicht verstaubte Ideen von der Muttersprache immer noch eine Rolle. Aber: »Unter Wissenschaftlern hat sich herumgesprochen, dass es sich empfiehlt, erst zu denken und dann zu sprechen. Dennoch hält sich hartnäckig die Vorstellung, dass nicht wir denken, sondern die Sprache für uns.« Und Coulmas weist auf Philosophen wie Wittgenstein, Carnap und Popper hin, die, obwohl von Hause aus deutschsprachig, auf Englisch publiziert hätten, »und zwar weil sie erst dachten und dann schrieben«.

Hier stellt sich Coulmas dümmer, als er ist, denn die genannten Philosophen haben das Englische nicht freiwillig gewählt, sondern weil sie emigrieren mussten. Außerdem ist seine sprachphilosophische These, erst komme das Denken, dann die Sprache, ebenso schlicht wie die gegenteilige These. Eher handelt es sich um eine Wechselwirkung: Sprache und Denken beeinflussen sich gegenseitig, und ihr jeweiliges Gewicht hängt vom Gegenstand ab. Bei einem Experiment plane ich zuerst die Versuchsanordnung und beschreibe sie dann, egal in welcher Sprache. In der Literatur begebe ich mich in die Sprache hinein, und ich weiß nicht, wo ich am Ende herauskomme. Das gilt für nicht wenige Felder der Geisteswissenschaften. Die Philosophie Kants, Hegels oder Heideggers wäre anders ausgefallen, hätten sie Englisch schreiben müssen.

Wenn es also Gebiete gibt, wo die Sprache eine erkenntnisleitende Funktion besitzt (was unbestreitbar der Fall ist), dann wäre eine Monokultur des Englischen mit erheblichen Verlusten verbunden. Der Romanist Jürgen Trabant hat auf Coulmas in der FAZ Folgendes entgegnet: »Es gibt wissenschaftliche Betätigungen, die nicht sprachlos Gedachtes, Gemessenes, Gewogenes und Berechnetes als wissenschaftliche Erkenntnis erzeugen, sondern die wissenschaftliche Erkenntnis in Sprache generieren. Wissenschaftliche Arbeiten in den sogenannten Geisteswissenschaften kommen nicht so zustande, dass der Forscher sich zuerst die Ergebnisse denkt und diese dann nur noch bezeichnen und verlautbaren muss. Er schafft mit der Sprache einen völlig aus Sprache bestehenden Gegenstand.«

Wenn nun diese Sprache nicht mehr seine Muttersprache sein kann, erleidet der Geisteswissenschaftler einen Verlust, den Verlust seiner Denkheimat. Dieser Nachteil steigert sich, wenn der Gegenstand selber aus Sprache besteht, also im Fall der Literatur. Romanisten beklagen, dass auf internationalen Kongressen ihres Fachs immer häufiger nur noch Englisch gesprochen werde. Der Germanist und Skandinavist Heinrich Detering berichtet, dass auf norwegischen Ibsen-Tagungen nur Englisch zugelassen sei, wobei Ibsen meist aus englischen Übersetzungen zitiert werde. »Wenn die wissenschaftliche Verständigung über Ibsen den Umstand, dass dieser Dichter seine Dramen in norwegischer Sprache verfasste, für nebensächlich erklärt oder ignoriert, dann ist dem, was in irgendeinem wissenschaftlichen Sinn noch als hermeneutisch beschrieben werden kann, der Boden unter den Füßen weggezogen.« Dieses Gefühl, dass ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen wird, haben nicht wenige Geisteswissenschaftler.

Der zweite, wahrscheinlich schwerer wiegende Verlust besteht darin, dass Wissenschaftler in einer demokratischen Gesellschaft verpflichtet sind, darauf hinzuwirken, dass ihre Arbeit von einer interessierten Öffentlichkeit wahrgenommen und diskutiert werden kann. Die Chancen dazu verringern sich mit der Ausdehnung des Englischen. Es besteht die Gefahr, dass die ohnedies nicht geringe Kluft zwischen der wissenschaftlichen Elite und dem Staatsvolk unüberbrückbar wird. Es hat nicht den Anschein, als würde dieses Problem hinreichend wahrgenommen. Denn die Eliten überhaupt neigen dazu, aus sachlichen Gründen, aber auch zum Zweck des persönlichen Fortkommens, sich immer mehr aufs Englische zu verlegen. Im wohlhabenden und ambitionierten Bürgertum gehört es zum guten Ton, die Kinder auf englische Internate zu schicken. Private deutsche Hochschulen, wo selbstverständlich Englisch gesprochen wird, werden von den besseren Kreisen gerne bevorzugt.

Auch hier steigern sich die Entwicklungen gegenseitig: Je mehr in den Spitzenpositionen von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik (und womöglich bald auch der Justiz) Englisch gesprochen wird, umso mehr sehen sich jene Eltern, die es sich leisten können und die das berufliche Gedeihen ihres Nachwuchses im Auge haben, dazu veranlasst, eine englischsprachige Ausbildung für das Kind zu wählen, die wiederum dazu beiträgt, dass in den Kanzleien und Konferenzräumen, wo auch immer, Englisch gesprochen wird. Dem korrespondiert fatalerweise das Faktum, dass die Sprachfähigkeit in den unteren sozialen Schichten abnimmt, die deutsche wohlgemerkt, und zwar keineswegs nur bei Migrationskindern.

Jürgen Trabant hat daraus kürzlich in der SZ den Schluss gezogen: »Während sich auf der einen Seite der gesellschaftlichen Skala ein erklecklicher Anteil der Menschen als unfähig oder unwillig erweist, in die deutsche Sprachgemeinschaft einzutreten, investiert das andere, obere Ende der Gesellschaft erhebliche Mittel und Anstrengungen in den Ausstieg aus der deutschen Sprachgemeinschaft.« Und er fragte: »Wozu sollen Immigrantenkinder Deutsch lernen, wenn die Arbeitssprache dieses Landes Englisch ist?« Damit bezog er sich auf Günther Oettinger, der einmal gesagt hat, Deutsch bleibe die Sprache der Familie und der Freizeit, die »Arbeitssprache« aber sei Englisch. Trabants düstere Prognose geht noch weiter. Er glaubt Anzeichen dafür zu erkennen, dass die deutsche Hochsprache insgesamt bedroht sei, weil sie von unten her durch das Vordringen von Dialekten und Rudimentärsprachen zurückgedrängt werde, von oben her durch das Englische.

Hat er recht? Seine Rede vom »Ende der deutschen Sprachgemeinschaft« ist übertrieben. Noch spricht (fast) jeder Taxifahrer Deutsch, noch wird in den Bundestagsdebatten, Fernsehsendungen und Stammtischgesprächen auf Deutsch gestritten, und es sieht nicht so aus, als würde sich das in absehbarer Zeit ändern. Ändern allerdings tut sich die deutsche Sprache, und zwar schneller, als es je der Fall war. Das ist nicht überraschend. Warum sollte die Sprache von der allgemeinen Beschleunigung verschont bleiben? Ebendeshalb, weil die sprachlichen Veränderungen so rasch vor sich gehen, dass sie innerhalb einer Generation spürbar werden, wächst eine allergische Nervosität unter jenen, denen am Sprachzustand etwas liegt. Die Frage lautet, ob Dieter E. Zimmer recht hat, der schon 1997 befürchtete (in seinem Buch Deutsch und anders), das Regelsystem des Deutschen werde durch die Invasion des Englischen aufgeweicht, bis das intuitive Verständnis dessen, was sprachlich richtig sei, gänzlich verschwinde. In jedem Fall führe es dazu, dass uns die Sprachzustände der Vergangenheit fremd oder unverständlich würden.

Unzweifelhaft werden uns frühere Sprachformen umso fremder, je länger sie zurückliegen. Grimmelshausens Simplicius ist kürzlich aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts ins Deutsche des 21. übersetzt worden. Und ein großer Schriftsteller wie Christoph Martin Wieland, der im 18. Jahrhundert zu den Mitschöpfern unserer Hochsprache zählte, ist ebenfalls nicht mehr leicht zu lesen. Seinem Werk übrigens merkt man an, wie kunstvoll es die starken Einflüsse des Lateinischen und des Französischen aufgenommen und weiterentwickelt hat. Und man muss sich daran erinnern, dass Deutsch als Sprache der geografischen Mitte fremden Einwirkungen immer ausgesetzt war, und meist zu seinem Vorteil. Gleichwohl kann man nicht wissen, ob die jetzigen Veränderungen nicht doch einer Erosion gleichkommen. Es wird auf Dauer wohl nicht ohne Folgen für die Entwicklung des Deutschen bleiben, wenn alles, was als modern oder schick oder innovativ gilt und den Ton angibt, anglofon geprägt ist: ob »unten« auf der Straße, in den Diskotheken oder im Netz, ob »oben« in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Es scheint dahin zu kommen, dass sich eine rund 250 Jahre währende Epoche, als Deutsch die Sprache der besten Köpfe war, dem Ende nähert.

Man könnte sich immerhin damit trösten, dass von kleineren Sprachen zu lernen sei, wie wenig das geistige oder literarische Leben eines Landes von der Verbreitung der eigenen Sprache abhänge, siehe Ungarn oder Finnland. Das ist aber kein Trost, denn, wie Ulrich Ammon sagt: »Es ist immer bitterer für einen Reichen, arm zu werden, als für einen Armen, arm zu bleiben.« Um im Bild zu bleiben: dass der Reiche sich freiwillig arm macht, ist eine Schande. Die deutsche Hochsprache hat es im 18. und 19. Jahrhundert zur Weltgeltung gebracht – und nicht aus politischen oder ökonomischen Gründen, sondern deshalb, weil in ihr und mit ihr einige der bedeutendsten Werke der Literatur und der Philosophie geschrieben wurden, die bis heute internationale Wirkung haben.

Dass Teile unserer Eliten diese Sprache nicht mehr verstehen und nicht mehr sprechen, hat wenig mit globalen Zwängen zu tun und viel mit Wichtigtuerei und Gedankenlosigkeit. Damit verhalten sich die Eliten unverantwortlich, denn der Zustand einer Sprache hängt am meisten von jenen ab, die Macht und Einfluss haben. An ihrem Sprachverhalten richten sich jene aus, die unten sind und nach oben wollen.

zum Seitenbeginn

blog comments powered by Disqus