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Ulrich Greiner

Schönheit kann man lernen

Ein Plädoyer für das Unnütze

Naina, so nennt sich eine Siebzehnjährige aus Köln, hat eine veritable Bildungsdebatte ausgelöst, als sie im Netz bekannte, Gedichte analysieren zu können, aber keine Ahnung "von Steuern, Miete oder Versicherungen" zu haben. Unsere Bildungsministerin Johanna Wanka hat denn auch mitteilen lassen, sie finde Nainas Beitrag erfreulich und sei dafür, "in der Schule stärker Alltagsfähigkeiten zu vermitteln". Da war er wieder, der ewige Vorwurf, dass die Schule nicht auf das Leben vorbereite, sondern die armen Kinder mit unnützen Gedichten behellige.

Was ist nützlich? Diese Frage beschäftigt Naina, sie beschäftigt auch die bestallten Pädagogen und die Eltern. Die Antwort ist klar: Lesen, Schreiben, Rechnen in der Grundschule; Naturwissenschaften und Ökonomie an den Gymnasien, dazu Verkehrssprachen wie Englisch und Spanisch. Sozialkunde ist von Vorteil, Sport lüftet den Kopf. Alles, was anwendbar ist und ertüchtigt, erscheint uns als nützlich. Und was spräche dagegen, den Schülern beizubringen, wie man eine Steuererklärung macht?

Ob die These von einer immer komplexeren Lebenswelt wirklich zutrifft, ist gar nicht die Frage. Das Gefühl, es verhalte sich so, ist dominant, und es bestimmt das Aufgabenfeld der Schule. Dieses vergrößert sich ständig. Kulturtechniken wie der Umgang mit dem Computer und dem Netz, mit Medien, Mode und Werbung sind Themen der Curricula. Die Schule dient der Vorbereitung auf den Beruf, und die meisten Berufe, in denen man Geld verdienen kann, erfordern technisch-ökonomische sowie kommunikative Fertigkeiten.

Wo aber bleibt das Schöne? Eine seltsame Frage, die heute kaum jemand mehr versteht. In den alten Schulen jedoch, wo man Griechisch und Latein, Musik und Kunst studierte, wo man Homer und Shakespeare, Horaz und Molière las, wo man Gedichte von Schiller oder Mörike auswendig lernte, war das gar keine Frage. Es gehörte dazu. Nein, ich rede nicht von der Feuerzangenbowle, die dazu diente, eine schwarze Pädagogik zu vergolden, sondern Von der Nützlichkeit des Unnützen.


So lautet der Titel einer Streitschrift des italienischen Literaturprofessors Nuccio Ordine (erschienen im Graf Verlag). In der Einleitung schreibt er, er wolle den Begriff der Nützlichkeit "in einem anderen, viel universelleren Sinn verstehen und darüber nachdenken, was es mit der Nützlichkeit jenes Wissens auf sich hat, dessen Wert vollkommen losgelöst ist von jeder Zweckbestimmtheit". Ordine wendet sich gegen das ökonomische Nützlichkeitsdenken, und er befürchtet, dass es "nach und nach unser Erinnerungsvermögen auslöschen und damit den Geisteswissenschaften und den alten Sprachen den Garaus machen wird, ebenso wie der Fantasie und der Kunst".

Wie weit dieses Denken in unsere Köpfe vorgedrungen ist, erkennt man daran, dass sich die scheinbar nutzlosen Fächer mit unmittelbaren Zwecken rechtfertigen. Latein, so die Begründung, diene dem Erlernen grammatischer Strukturen und erleichtere den Erwerb des Englischen. Frühzeitige Musikerziehung sei gut für den Mathematikunterricht. Kunstunterricht stabilisiere die Psyche. Wer so argumentiert, begibt sich in eine Begründungsfalle, aus der er nicht mehr herauskommt. Denn leicht ließe sich entgegnen, Latein sei ein Umweg, die Zeit für das Übersetzen von Horaz wäre besser verwendet, wenn man sie gleich ins Englische investierte.

Auch die Schulbehörden sind von solchem Zweckdenken beherrscht. Über den Sinn der Fächer Deutsch, Kunst, Musik und Literatur vermerken die "Kernlehrpläne" des Landes Nordrhein-Westfalen:

"Innerhalb der von allen Fächern zu erfüllenden Querschnittsaufgaben tragen insbesondere auch die Fächer des sprachlich-literarisch-künstlerischen Aufgabenfeldes im Rahmen der Entwicklung von Gestaltungskompetenz zur kritischen Reflexion geschlechter- und kulturstereotyper Zuordnungen, zur Werteerziehung, zur Empathie und Solidarität, zum Aufbau sozialer Verantwortung, zur Gestaltung einer demokratischen Gesellschaft, zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen, auch für kommende Generationen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung, und zur kulturellen Mitgestaltung bei. Darüber hinaus leisten sie einen Beitrag zur interkulturellen Verständigung, zur interdisziplinären Verknüpfung von Kompetenzen, auch mit gesellschafts- und naturwissenschaftlichen Feldern, sowie zur Vorbereitung auf Ausbildung, Studium, Arbeit und Beruf."

Die armen Lehrer! Goethes Werther, Eichendorffs Taugenichts müssten unter der Last dieser Aufgaben zusammenbrechen, wollte man sie ernst nehmen – was allerdings schwerfällt. Darf man jemandem glauben, der ein derart elendes Deutsch schreibt?

Ein Lehrer des Altgriechischen, den ich einmal fragte, wie man sein Fach begründen könne, entgegnete: "Das können Sie gar nicht begründen, es ist schön!" Es fällt übrigens auf, dass die Freunde der alten Sprachen nur noch für eine halbierte humanistische Bildung eintreten. Griechisch spielt fast keine Rolle mehr.

Das Schöne kann man nicht begründen, es ist evident. Wer ihm begegnet, sieht sich überwältigt, er will davon erzählen. Wer Mozart zum ersten Mal hört oder Botticelli zum ersten Mal sieht, wer die vollkommene Rundung des Pantheons betritt, wird, wenn er nicht vollkommen stumpf ist, eine Ahnung davon bekommen, was Schönheit ist. Das heißt aber auch: Man muss ihr begegnen, sie erkennen können. Das erfordert historische Kenntnis, ein geübtes Auge und Ohr. Darauf hinzuwirken sollte gute Schulen beschäftigen.

Die Macht der Schönheit verhandelt Jean-Léon Gérôme in seinem Bild Phryne vor den Richtern (1861). Es erzählt von der berühmtesten Hetäre der Antike, die wegen Gotteslästerung vor Gericht gebracht wurde und – als ihr Verteidiger plädierte, wer so schön sei, könne unmöglich schuldig sein, wobei er ihr zum Beweis das Gewand vom Leibe riss – freigesprochen wurde. Falls die Geschichte nicht wahr ist, so ist sie gut erfunden. Bei Gérôme wird die klassische Epoche, die Schönheit für etwas Heiliges hielt, nur noch zitiert, in schwüler und zweideutiger Apotheose.

Der Gedanke begegnet uns bei dem Hegelianer Karl Rosenkranz, der in seiner Ästhetik des Häßlichen (1853) sagt: "Das Schöne ist die göttliche, ursprüngliche Idee." Und gleich zu Beginn bemerkt er: "Die Hölle ist nicht bloß eine religiös-ethische, sie ist auch eine ästhetische. Wir stehen inmitten des Bösen und des Übels, aber auch inmitten des Häßlichen. Die Schrecken der Unform und der Mißform, der Gemeinheit und der Scheußlichkeit umringen uns in zahllosen Gestalten." Rosenkranz konnte von Glück sagen, dass er jene Hölle der Bilder nicht kannte, die auf unsereins mit allen technischen Mitteln einstürmt. Er war auch deshalb in einer glücklichen Lage, weil er noch ungeschwächt an der Idee des Kunstschönen festzuhalten vermochte.

Dieser Idealismus ist uns abhandengekommen. Doch ist Schönheit als Idee nicht verschwunden. Selbst dort noch, wo dem Hässlichen als ihrem Gegenbild gehuldigt wird wie in vielen künstlerischen Zeugnissen der Moderne, spielt sie eine ästhetisch bedeutende Rolle – als Figur der Abstoßung. Die Erscheinungsformen der Schönheitsidee wandeln sich je nach Kultur und Epoche, ihre Formgesetze aber bleiben dieselben. Das lässt sich erlernen und sollte zentraler Gegenstand schulischer Bildung sein.

Die französische Kathedrale begreift man erst dann, wenn man etwas von der Theologie des Lichtes, die ihr zugrunde liegt, gehört hat; die Kunst der Fuge erst dann, wenn man weiß, was eine Fuge ist; die Bilder Caspar David Friedrichs erst dann, wenn man etwas von ihrer transzendentalen Idee, die zugleich eine politische Dimension hat, versteht. Schönheit als philosophisch-ästhetische Kategorie lässt sich lehren und erlernen. Das ist auch deshalb notwendig, weil die Konsumwelt mit ihren Verheißungen lockt. Was als schön zu gelten hat, zeigen uns die Produzenten, indem sie uns mit Waren versorgen, deren Schönheit mit dem Preis zu- und mit ihrer Marktpräsenz abnimmt. Schön ist nur das je Allerneueste. Näher betrachtet, handelt es sich bloß um das Gefällige. Das Gefällige ändert sich, das Schöne bleibt.

Zur Tragik des Schönen gehört, dass es Aggressionen hervorruft, zuweilen sogar den Wunsch, es zu vernichten. Herman Melvilles Novelle Billy Budd hat diesen finsteren Mechanismus zum Gegenstand. Sie spielt 1797 auf einem Schiff der englischen Flotte, man befindet sich im Krieg mit Napoleon. Im Kern erzählt sie von dem jungen Matrosen Billy Budd, dessen Schönheit den Offizier Claggart zutiefst berührt. Claggart ist hässlich, und er weiß es. In Benjamin Brittens Oper (1951), deren Libretto von E. M. Forster stammt, lautet Claggarts Arie: "O Schönheit, o Lieblichkeit, wäre ich dir doch nie begegnet! Hätte ich doch in meiner Welt bleiben dürfen, in der Erbärmlichkeit, aus der ich kam! Ich hätte jenen Frieden gefunden, den man in der Hölle findet. Nun aber leuchtet das Licht in die Finsternis, die Finsternis begreift es, und sie leidet."

Das spielt an auf den Prolog des Johannes-Evangeliums. Claggart, der sich außerstande sieht, dieses Licht in sich aufzunehmen, fährt fort: "Ich bin dazu verurteilt, dich zu vernichten. Ich will dich ausradieren vom Antlitz der Erde."Claggart befördert eine Intrige, an deren Ende Billy Budd gehenkt wird. Brittens Oper ist eine Verbeugung vor dem unbegreiflich Schönen.

Dem Hass auf das Schöne begegnen wir im Vandalismus der Sprayer, die jede renovierte Fassade markieren; in der Wut der Fundamentalisten, die Bildnisse gegnerischer Kulturen in die Luft sprengen. Vielleicht hat es noch nie eine Zeit gegeben, in der das Schöne solcher Verachtung und Wut ausgesetzt war. Schönheit jedoch verlangt von uns, die Welt mit Ehrfurcht und Aufmerksamkeit zu betrachten. Ob ihr Studium dazu beitragen kann, uns zu besseren Menschen zu machen, wie Literaturprofessor Nuccio Ordine glaubt, ist ungewiss. Sicherlich macht es uns klüger, und deshalb sind die scheinbar unnützen Schulfächer, die es derzeit schwer haben, so wichtig. Und was Steuern sind, wird Naina früh genug lernen.

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