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Ulrich Greiner

Wenn der Druck steigt

Erfolg und Leistung sind die letzten Maßstäbe dieser Gesellschaft. Das Netz, das die Gewalt bändigen soll, ist brüchig geworden, die Tradition hat keine Bindekraft mehr. Wo ist der Raum für Muße, Fantasien und Träume? Wozu erziehen wir unsere Kinder?

Der folgende Beitrag erschien im Mai 2002 in der ZEIT, nachdem der 19jährige Schüler Robert Steinhäuser in Erfurt 16 Menschen erschossen und sich dann selber getötet hatte.

Jetzt, nach der Untat in Erfurt, äußert sich Ratlosigkeit in der Wiederholung bekannter Ratschläge: Liebe Fernsehleute, zeigt weniger Gewalt! Liebe Eltern, sprecht mehr mit euren Kindern! Liebe Schulleiter, kontrolliert die Eingänge! Liebe Politiker, tut mehr für die Familien! Guter Rat ist nicht teuer, aber reden wir nicht über Erfurt, reden wir über die Gesellschaft, in der wir leben. Zur Einstimmung zwei Anekdoten aus dem Alltag. Die elfjährige L. kommt häufig mit verweinten Augen aus der Schule, man hat sie gehänselt und herumgeschubst, ihre Klassenkameradin M. tut sich dabei besonders hervor. L.s Mutter unternimmt das Naheliegende und ruft M.s Mutter an, um sich mit ihr zu verständigen. Deren Antwort: "Wenn sich L. nicht wehren kann, dann haben Sie L. nicht stark genug gemacht."

Zweiter Fall: Während einer Elternratssitzung des Gymnasiums in W. moniert der Elternvertreter einer fünften Klasse, bei der letzten Lateinarbeit habe es zwölf Einsen gegeben, das sei nicht in Ordnung. Auf die verwunderte Gegenfrage des Schulleiters antwortet er, er habe sein Kind auf dieses Gymnasium in der Erwartung geschickt, hier werde Leistung verlangt, das übermäßig gute Ergebnis beweise jedoch, dass die Arbeit zu leicht gewesen sei.

Häufig hört man die Ansicht, wir lebten in einer Zeit des laissez-faire und des anything goes, es gebe keine Maßstäbe und keine Verbindlichkeiten mehr. Das stimmt in vielerlei, vor allem in moralischer Hinsicht - nur in einer nicht: Was diese Gesellschaft im Innersten antreibt und zugleich zu sprengen droht, ist ein neuer Leistungswahn, der die alten, alternativen Autonomiefantasien längst abgelöst hat; ist die hysterische Abstiegsangst, die den wohlhabenden Mittelstand um den Schlaf bringt; ist die gnadenlose Jagd nach Vorteilen, die Steuerbetrug und Korruption täglich neu gebiert.

Da alle anderen Götter abgedankt haben, da der Gott der Christen nur mehr an Karfreitagen in Bachs Passionen Laut geben darf, da der Gott der Heiden, der einst in den Künsten, in den Riten, in der Muße seine traditionsmächtige Verführungskraft zeigen konnte, fast restlos allseitiger Vernutzung und Vermarktung preisgegeben ist, bleibt als letzter der Gott des Geldes. Wer ihm nicht dienen will, muss sehen, wo er bleibt. Das letztverbindliche Kriterium alles Sinnens und Trachtens ist der Erfolg, Erfolg bemisst sich in Macht, und da es keine geistige, transzendente Macht von bindender Kraft mehr gibt, zählt nur mehr das hemmungslose Diesseits: Bezüge, Beziehungen, Besitz. Die Ökonomisierung hat alle Lebensbereiche erfasst, die Traditionen und die Institutionen, die Bildung und die Wissenschaften. Sie dringt in die Kapillaren des privaten Lebens ein, verändert die Liebe, die Gefühle und die Fantasien. Das Prinzip der doppelten Buchführung, das Soll und Haben gegeneinander aufrechnet, sickert ein in die Fundamente von Treu und Glauben, von Anstand und Mitleid.

Zugleich wächst allseits ein diffuser Druck. Jeder erfährt ihn, wenn er im zufälligen Innehalten des gesteigerten Tempos gewahr wird. Die Autos, die Züge, die Flugzeuge werden schneller, die Kommunikation beschleunigt, verdichtet sich, die Gleichzeitigkeit des vormals Ungleichzeitigen übersteigt die sinnlichen und kognitiven Kräfte. Ein Zauderer, wer eins nach dem andern tut; ein Faulenzer, wer nicht beim Essen neue Geschäfte anbahnt, beim Warten nicht neue Termine verabredet; ein Umstandskrämer, wer einstweilen, bevor sich das Neue bewährt, am Alten festhält. Unternehmen, die Erfolg wollen und steigende Kurse, reduzieren Arbeitsplätze und erzeugen in ihren Mitarbeitern ein latentes Gefühl der Bedrohung. Keiner soll, damit er sich nicht zurücklehne, seiner Lage sicher sein dürfen. So kommt es, dass immer weniger Menschen immer mehr arbeiten, als wären sie dazu verurteilt, und meist sind sie es auch.

Die im Augenblick unmerkliche, auf lange Sicht dramatische Veränderung erkennen wir nur im Rückblick oder dann, wenn wir Menschen aus anderen Zeit- und Tempozonen begegnen, wenn uns ihre Langsamkeit, Bedächtigkeit nervös macht. Wir treffen sie an den Rändern der ökonomischen Magnetfelder, in jenen Provinzen und Exklaven, die der alles umwälzende Sturm der Erneuerung noch nicht verheert hat. Dann kann es auch sein, dass uns Heimweh anfällt, dass uns plötzlich die Whisky-Reklame für Jack Daniels anrührt, wo alte Männer im Abendlicht langsam die Fässer zu Tal rollen.

Das ist vorbei, wer rastet, der rostet. Allerorten überschütten uns die Propheten des neuen Zeitalters mit dem Vorwurf, zu langsam und zu bequem zu sein, faul am Überkommenen festzuhalten. In einem Leitartikel beklagte kürzlich die FAZ den Mangel an technischer Intelligenz und Leistungsbereitschaft: "Von einer Kultur der Anstrengung ist Deutschland weit entfernt. Vielleicht drückt sich darin auch der Umstand aus, dass das Land nicht in einer Vorkriegs-, Kriegs- oder Nachkriegszeit lebt, sondern in einer Art Nebenkriegszeit. Blut, Schweiß und Tränen fließen anderswo."

Anstrengung und Leistung, Mobilität und Flexibilität sind die Zauberworte der Innovationsfetischisten, Tradition ist für sie ein Problem, Überlieferung eine Last, nietzscheanische Selbstüberbietung das Ziel. Wahr ist aber, dass nicht alle Tugenden an der kriegerischen Front des Wettbewerbs gedeihen. Andere gibt es, die Dauer und Beständigkeit brauchen, emotionale Heimat und Zuwendung, wie sie die Familie ihrem alten Ideal zufolge gewährt hat und kaum noch gewähren kann. Längst ist sie von den zentrifugalen Kräften der Beschleunigung erfasst.

Die Familie, zusammen mit den Institutionen, den überlieferten Werten und Tugenden, bildet das Netz, das die Gewalt bändigt. Gewalt droht immer. Der Krieg aller gegen alle ist der Naturzustand, gegen den sich, so Thomas Hobbes, die Menschen per Vertrag zusammenschließen, um die Gewalt an den Staat zu delegieren. Wenn aber die Macht nichtstaatlicher Kräfte zunimmt, wenn die Institutionen schwach werden und die Traditionen in Vergessenheit geraten, wird das Netz brüchig, und es reißt, sobald der Druck steigt. Er steigt auch in den Familien, wo Gewalt, anstatt gezähmt zu werden, sich jählings Bahn schafft. Erstaunlicher aber als ihr Ausbruch ist ihre relative Seltenheit, sieht man auf das Ausmaß des Selbstzwanges (Norbert Elias) und der Disziplin, den moderne Gesellschaften ihren Mitgliedern abnötigen. Wir sollten nicht so tun, als wären Gewaltfantasien neu, als wären sie nur abhängig von den Bildern, die uns die Medien feilbieten. Es mag sein, dass sie die Aggression eher nach außen als nach innen lenken. Der Schüler Moritz, in Wedekinds an den Schulen wieder häufiger gelesenem und gespieltem Drama Frühlings Erwachen, läuft nicht Amok, er begeht Selbstmord. Zu Beginn sagt er: "Wozu gehen wir in die Schule? - Wir gehen in die Schule, damit man uns examinieren kann. - Und wozu examiniert man uns? - Damit wir durchfallen."

Der Lehrer, den Wedekind als Karikatur des wilhelminisch-autoritären Paukers zeichnet, ist Geschichte, glücklicherweise. An die Stelle von lebendigen Menschen jedoch, die Heranwachsende im Konfliktfall als Kontrahenten begreifen und mit denen sie in Streit treten könnten, ist das scheinbar objektive, unverrückbare Gesetz von Leistung und Erfolg getreten, und die Hilfsbereitschaft der Eltern und Lehrer erstreckt sich darauf, dieses Gesetz annehmbar und passierbar zu machen. Das Individuum ist selten ein Souverän, es begreift sich im Austausch mit den Mustern öffentlicher Wertschätzung. Also sind auch Eltern und Lehrer allzu oft nur Agenten der Maßstäbe, die es ermöglichen, ins allseits Geübte sich einzufügen. Denkbar, dass der Todesschütze von Erfurt mit Gewalt einen Zustand herstellen wollte, in dem Menschen haftbar zu machen wären anstatt Prinzipien.

Wenn der Mensch ausschließlich dadurch definiert ist, dass er Arbeit hat oder Geld hat oder die Zulassung zum Abitur, dann ist er ohne Arbeit oder Geld oder Abitur das schiere Nichts, dann gibt es keinen Sinn mehr außerhalb, dann ist der Druck weiter gegeben worden und ganz unten angekommen. "Sind Gewalt und Sinnlosigkeit nicht zuletzt ein und dasselbe?", fragt Max Horkheimer, zitiert von Peter Handke als Motto zu seinem Roman Die Stunde der wahren Empfindung.

"Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen, / Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben, / Und alle Menschen gehen ihre Wege", sagt Hugo von Hofmannsthal in der Ballade des äußeren Lebens. In welche Welt hinein erziehen wir unsere Kinder? Haben sie noch eine Chance, jenseits der Selbstaggression, wie sie im Suizid, im Drogenkonsum, in Essstörungen sichtbar wird, Gegenwelten und Erinnerungsräume auszubilden? Wenn der Begriff Bildung mehr heißen soll als ein gutes Abitur (jetzt ein Jahr schneller und früher), dann schließt er Selbstbewusstsein und Selbstkenntnis mit ein. Nur der kann sich selbst kennen, der träumen und verweilen darf, der weiß, wo er herkommt. Herkunft ist nie nur biologisch, immer auch kulturell, und wem die geschichtliche Tiefe des kulturellen Raums verschlossen bleibt, wer die Erzählung nicht kennt, die in der Gestalt von Mythen und Märchen, von Gemälden und Büchern, von Oratorien und Liedern auf uns überkommen ist, der wird im traurigsten Sinne des Wortes seines Glückes Schmied, weil er allein mit sich selber bleibt. Der Schriftsteller Ludwig Harig hat einmal gesagt: Nur der erzählende Mensch ist ein Mensch. Und nur der erzählte Mensch ist ein Mensch.

Auf einer Wand des Gutenberg-Gymnasiums zu Erfurt steht der Satz gemeißelt: Lerne um zu leben. Das ist nicht leicht, aber es lohnt jede Anstrengung. Wer wirklich lebt, fragt nicht nach Sinn.

 


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