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Eckhard Nordhofen Jeder kennt jeder das Böse auf den ersten Blick. Mehr, als es uns lieb ist, machen wir Bekanntschaft mit Schmerzen, Leid, Verletzungen des Leibes und der Seele. Das Böse ist geradezu definiert als das, was uns nicht lieb ist. Philosophie, die Kunst des zweiten Blicks, entlarvt jedoch die Täuschungen des ersten Blicks und eröffnet eine neue Perspektive. Odo Marquard nennt Sie „Bonum durch Malum“: Das Gute braucht das Böse, um gut sein zu können. Ein Mann sitzt vor dem Fernseher, und hat plötzlich einen Krampf im Bein. Er steht auf, um durch Fußbewegungen den Krampf zu lösen, verliert plötzlich das Bewusstsein, schlägt hin, trifft mit dem Kopf auf die harte Kante des Glastisches und zieht sich eine üble Platzwunde zu. Niemand käme auf die Idee, eine solche Wunde für etwas Gutes zu halten. Dennoch hat sie dem Mann das Leben gerettet, denn, wie sich später herausstellte, war die plötzliche Bewusstlosigkeit die Folge eines Herzstillstandes. Die Kopfverletzung, der Wundschock, brachte das Herz wieder in Bewegung: Bonum durch malum! Oft merken wir erst hinterher, wie gut ein bestimmtes Unglück für unser Leben war. Ein Klinikaufenthalt, der eine Ehe gestiftet hat, ein verpasster Zug, ohne den ich den Menschen meines Lebens nie getroffen hätte. Ein Gipsbein, ohne das die Doktorarbeit nie fertig geworden wäre. Gottfried Wilhelm Leibniz bringt es auf den Punkt: „Wir leben in der besten aller möglichen Welten“. Natürlich könnte die Welt viel besser sein, aber nur so, wie sie ist, ist sie möglich, besser nicht. Dahinter steckt die Verallgemeinerung der Erfahrung bonum durch malum, verlängert zu der Aussage: „Alle Übel dieser Welt sind für irgendetwas gut.“ Das ist die Weisheit meiner Großmutter, die es schon immer gewusst hat, wenn sie mit dem Trostspruch bei der Hand war: „Wer weiß, wofür's gut ist!“ Wir wissen es in der Regel nicht, sollen aber, so Leibniz, davon ausgehen, dass es für irgendetwas gut ist. Das ist viel verlangt. Wofür war das Erdbeben von Lissabon (1755) gut? Zwanzigtausend Menschen, Säuglinge, Kinder, Frauen und Greise, Schuldige und Unschuldige starben unter den Trüm¬mern. Wofür soll das gut gewesen sein? Wofür soll das gut sein, fragt sich ein Sechzehnjähriger, bei dem man ein kinderkopfgroßes Krebsgeschwür im Brustkorb entdeckt. Wofür war der industrielle Massenmord an den europäischen Juden gut? Gewiss: ohne ihn wäre es womöglich nicht zur Gründung des Staates Israels gekommen. Ein abgründiger Gedanke. Er spukt in der Geschichte der politischen Ideen schon lange herum. Nach René Girard (Das Heilige und die Gewalt) steht am Beginn der Staatenbildung das Gründungsopfer. Schon Augustinus wusste: Wo Staat werden soll, muss Blut fließen, das Blut Ludwigs XVI. auf dem Schafott zur Gründung der Französischen Republik zum Beispiel. Fast kann man den Eindruck bekommen, als sei jenes Prinzip bonum durch malum magisch in die Regie genom¬men. Wer etwas Gutes erreichen will, muss zunächst etwas Böses tun. Wer einen Staat gründen will, muss das Chaos ordnen. Er muss dem Bösen, dessen Personifizierung auf griechisch diabolos, „Durcheinanderwerfer“ heißt, also der, der Unordnung macht, einen Platz anweisen, es am Besten aus dem Gebiet, in dem gute Ordnung herrschen soll, vertreiben. Wer das Chaos beseitigen, die Ordnung herstellen und einen Staat gründen will, muss das Böse kondensieren auf den Sündenbock. Symbolisch tat dies nach der Vorschrift des jüdischen Gesetzes der Hohepriester, der einmal im Jahr einem Bock die Sünden des Volkes Israel symbolisch auflud und ihn dann in die Wüste, ins Verderben jagte. Alle Kinder Israels konnten die Entfernung des Bösen aus ihrer Mitte in einem eindrucksvollen Schauspiel miterleben. Das Problem liegt jedoch nicht darin, dass wir die gute, vollkommene Ordnung nicht zu schaffen vermögen. Es scheint vielmehr so zu sein, dass wir das Übel brauchen. Es ist bekanntlich nichts weniger zu ertragen als eine Serie von guten Tagen. Gibt es ein Ökonomieprinzip, nach welchem wir das Leid brauchen? Odo Marquard spricht von einem „Prinzessin-auf-der-Erbse-Syndrom“, das sich umso stärker meldet, je mehr Negatives getilgt wird. „Umso ärgerlicher wird, gerade weil es sich vermindert, das Negative, das übrig bleibt. Der Moderne Mensch ist einer, der es schafft, unter immer weniger immer mehr zu leiden.“ In den Zeiten von Krieg und Elend, in den vierziger und fünfziger Jahren, regierten im Kino die Idylle, im Schlager eindeutig die positiven Gefühle: Sehnsucht, wahre Liebe, ewige Treue. Das seitdem in Mitteleuropa stabile Zeitalter der Sättigung und sozialen Sicherheit brachte immer neue Arten von virtueller Gewalt, geliehenen Problemwelten und inszenierter Hässlichkeit hervor. Wer sich von diesem Ökonomieprinzip und von Leibnizens These, wir lebten in der besten aller möglichen Welten, verabschiedet, weil sie ihm unheimlich vorkommt, weil er mit 16 Jahren nicht begreifen kann, warum er schon sterben soll, weil er nicht sehen will, wofür Massensterben und Elend gut sein sollen, weil er sich eine Welt vorstellen kann, die auch mit weit weniger Leid und weniger Bösem bunt und abwechslungsreich genug wäre, der erst steht vor dem wirklichen Problem des Bösen. Er ist nicht einverstanden mit Theorien wie die von Platon und seinen Schülern, die schon 2000 Jahre vor Leibniz behaupteten, das Böse habe kein wirkliches Sein, es sei nur die Abwesenheit des Guten, das, was den Realitäten noch zu ihrer Idee fehlt. Wer das nicht glaubt, der steht vor dem wirklichen Rätsel des Bösen. Diesem Rätsel stellt sich die monotheistische Theologie und die Philosophie, die zu dieser passt. Um die Weggabel, vor der wir hier stehen, noch einmal deutlich zu kennzeichnen: Ungerechtigkeit, Leid, Schmerz, Angst und Grauen, kurz die Übel unseres Lebens, sind eine Tatsache. Diese Tatsache wird nicht aus der Welt geschafft, wenn ich eine Theorie entwickle, nach welcher diese Übel notwendig zur Wirklichkeit gehören und somit einen Sinn haben. Diese Sinnzuweisung für das Übel stellt eine theoretische Beruhigung dar, eine Entspannung, die das Leid zwar nicht beseitigt, auch nur in Maßen trösten kann, die aber die Ordnung im Kopf wieder herstellt. Diese Ordnung im Kopf, so schön und reizvoll sie sein mag, hat einen entscheidenden Nachteil. Sie hat keine Entsprechung in der Realität. Sie ist also unwahr im klassischen Sinn, nach dem Wahrheit die Angleichung von Tatsachen und Erkenntnis ist. Das Übel der Welt ist offensichtlich nicht zu begreifen. Es entgleitet den Maschen unserer Logik. Das monotheistische Denken bringt dieses Nichtverstehbare, dieses ganz Andere zunächst positiv zur Geltung. Sein Gottesbegriff ist ein Produkt der biblischen Aufklärung, die das alte Israel aus seinem religiösen Umfeld herauskatapultiert. Der Ägyptologe Jan Assmann hat in seinem Buch Moses der Ägypter (1998) von der „mosaischen Entgegensetzung“ gesprochen. In der alten Welt gab es – so Assmann – letztlich nur eine Grundreligion, die in vielen Dialekten in der alten Ökumene um das Mittelmeer herum existierte. Es war die Religion der vielen Gottheiten, die alle für ein bestimmtes Interesse der Menschen in Anspruch genommen werden konnten. Jedem menschlichen Interesse entsprach eine himmlische Adresse. Aphrodite ist gut für die Liebe, Hermes für die Diebe, und wer eine gefahrvolle Seereise antritt, kann dem Poseidon ein Opfer bringen. Mit Gebeten und Opfern etabliert die polytheistische Religion eine Wechselwirtschaft zwischen Göttern und Menschen, die sich auf diese Weise Erleichterung und Trost verschaffen können. Offenbar sind wir Menschen so gestrickt, dass wir an den Grenzen unserer Kräfte, dort wo wir nichts mehr machen können, nicht aufgeben. Die menschliche Praxis, die in der Naturbeherrschung gelernt hat, den Zusammenhang von Arbeit und Nutzen zu sehen, gibt sich mit der Machbarkeitsgrenze nicht zufrieden. Überhaupt ist Homo sapiens sapiens damit begabt, Wirklichkeiten im Kopf herzustellen, die es „nicht gibt“. Oft genug gelingt es ihm, das, was er zunächst nur erträumt hat, in die Tat umzusetzen und in die Wirklichkeit zu überführen. Seit etwa hundert Jahren kann der Mensch fliegen. Geträumt hatte er es, wie uns der Mythos von Dädalus und Ikarus belegt, wohl schon immer. Dass er mit der Welt wie sie ist nicht einverstanden ist, macht ihn kreativ. Das Sein wird für ihn zur Wirklichkeit, wo er wirken und werken kann. In der Sattelzeit, das heißt in einer Umbruchphase, in der zwei Systeme parallel existieren, bricht nun, sowohl im alten Griechenland wie auch im alten Israel, die Kritik an den Göttern durch. Wir nennen das seit einiger Zeit „vorsokratische bzw. biblische Aufklärung“. Xenophanes und andere Vorsokratiker durchschauen die menschliche Neigung, sich Götter zu machen, die damit zu Scheingebilden werden. Hier das bekannte Fragment des Xenophanes: „Die Götter der Äthiopier sind stumpfnasig und schwarz, die Götter der Thraker blauäugig und blond. Und wenn die Löwen und Stiere Hände hätten und Werkzeuge, würden sie sich Götter machen, die ihrer eigenen Gestalt entsprechen.“ Fast zeitgleich bricht die biblische Aufklärung, die „mosaische Entgegensetzung“ auf. Beim Propheten (Deutero)Jesaja (ca. 586 bis 538 v. Chr.) heißt es: „Der Eisenschmied hat ein Werkzeug und arbeitet bei Kohlenglut, und er gestaltet es mit Hämmern und verarbeitet es mit seinem kräftigen Arm. Er wird auch hungrig und kraftlos; er hat kein Wasser getrunken und ermattet. Der Holzschnitzler spannt die Schnur, zeichnet es ab mit dem Stifte, führt es aus mit den Hobeln und zeichnet es ab mit dem Zirkel; und er macht es wie das Bildnis eines Mannes, wie die Schönheit eines Menschen, damit es in einem Hause wohne. Man haut sich Zedern ab, oder nimmt eine Steineiche oder eine Eiche, und wählt sich aus unter den Bäumen des Waldes; man pflanzt eine Fichte, und der Regen macht sie wachsen. Und es dient dem Menschen zur Feuerung, und er nimmt davon und wärmt sich; auch heizt er und bäckt Brot; auch verarbeitet er es zu einem Gott und wirft sich davor nieder, macht ein Götzenbild daraus und betet es an. Die Hälfte davon hat er im Feuer verbrannt; bei der Hälfte davon isst er Fleisch, brät einen Braten und sättigt sich; auch wärmt er sich und spricht: Ha! Mir wird's warm, ich spüre Feuer. Und das Übrige davon macht er zu einem Gott, zu seinem Götzenbilde; er betet es an und wirft sich nieder, und er betet zu ihm und spricht: Errette mich, denn du bist mein Gott!“ Wie ein roter Faden zieht sich durch das Alte Testament die Kritik an den selbstgemachten Göttern. Sie sind „Nichtse“, wer sich vor ihnen niederwirft, wird lächerlich gemacht. In der Forschung gibt es keine einhellige Meinung zu der Frage, ob die vorsokratische Aufklärung mit ihrer Kritik am Götterkult auf einen Atheismus im Sinne der Beseitigung von Religion hinaus wollte oder auf einen Prozess der Läuterung. Die Aufklärungsbewegung im Alten Israel endet jedoch in einer neuen Frömmigkeit und einem neuen Gottesverständnis, das die Einsicht berücksichtigt, dass ein selbstgemachter Gott kein Gott sein kann. Weil Gott nicht das Produkt menschlicher Wünsche und Hoffnungen, auch nicht das Produkt menschlicher Denkarbeit und Frömmigkeit sein kann, gibt es den „eschatologischen Vorbehalt“. Die letzten Dinge, die „Eschata“, sind die Domäne Gottes, nicht aber der Menschen. Der Turmbau zu Babel, der „bis an den Himmel“ reichen sollte, ist der Lehrmythos für das göttliche Reservat. Der Himmel gehört Gott, nicht den Menschen. Dieser eschatologische Vorbehalt wird nicht in diskursiver Philosophie entwickelt, sondern in Lehrerzählungen und in Gesetzesvorschriften. Die Installation eines Tages ohne Arbeit ist eine sehr drastische Manifestation der neuen monotheistischen Theologie. Sie ist privativ, es wird den Menschen etwas weggenommen (Privatio = Beraubung). Der Normalzustand aller Menschen ist durch das Wort „Arbeit“ gekennzeichnet. Sie setzen sich Zwecke und verfolgen sie, indem sie arbeiten. Das Sabbatgebot, das die Arbeit an einem Tag, dem Tag des Herrn, verbietet, hebt den Nutzenkalkül auf und sprengt aus dem Kontinuum der Zwecke einen Zeitraum heraus, der auf diese Weise geheiligt, d. h. privativ ausgezeichnet wird. Diese privative Auszeichnung eines Gottestages hat bis heute unglaubliche kulturhistorische und kulturprägende Folgen gehabt. Wer nicht arbeitet, hebt den Blick, lässt ihn bis zum Horizont schweifen und ist aus der Fesselung der kleinen Probleme des Alltags entlassen. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als zu reflektieren, sich zurückzubeugen auf die vergangene Zeit und vorauszublicken in die Zukunft. Die Installation des Nutzlosen (Klaus Kodalle) oder, wie Thomas Mann im Josefs-Roman treffender sagt, des „Übernützlichen“ ist die feste Verankerung des Mysteriums in der menschlichen Kultur. Schließlich handelt es sich beim Gott des alten Israels um den, der gesagt hat: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und meine Wege sind nicht eure Wege“ (Jes. 55,8). Was hat dies alles mit unserer Frage nach dem Bösen zu tun? Dies kann man am schönsten am sogenannten Theodizee-Problem erkennen. Die mosaische Entgegensetzung (Jan Assmann) ersetzt die vielen selbstgemachten Götter durch einen anderen, den ganz anderen Gott. Er ist kein Ding in der Welt, er ist vielmehr der Schöpfer der Welt, der Hintergrund aller Wirklichkeit. Wenn er diese Wirklichkeit geschaffen hat, dann hat er sowohl die gute wie die schlechte Wirklichkeit, also auch das Böse zu verantworten. Wer eine kongruente Entspre¬chung von Gott und Welt haben will, kann das nicht aushalten. Das Grundgesetz des Denkens, das Fundament der zweiwertigen Logik, ist von Aristoteles in dem Prinzip vom zu vermeidenden Widerspruch unübertrefflich festgelegt worden: Man kann derselben Sache nicht zugleich und in gleicher Hinsicht etwas ab- und zusprechen. Wenn dieses Gesetz vom zu vermeidenden Widerspruch gilt, dann gehorcht der Gott der Bibel ihm nicht. Er soll gleichzeitig gut, ja allgütig sein und allmächtig. Die Kollision von Gott und Logik lässt sich schon mit der scherzhaften Frage kennzeichnen: „Kann der allmächtige Gott einen Stein schaffen, der so schwer ist, dass er ihn nicht heben kann?“ Der Zusammenprall des allmächtigen und guten Gottes mit der Logik wird verhandelt unter dem Titel der Theodizee-Frage, in der Gott gleichsam vor das Gericht der Logik gestellt wird. Sie ist aber auch der emotionale Höhepunkt des Gottesglaubens. Georg Büchner nennt sie in Dantons Tod den „Fels des Atheismus“. Einen Gott, der so allmächtig wäre, eine leidfreie Welt zu schaffen und dies nicht tut, kann und will er sich nicht als guten Gott vorstellen. Den Gott der Bibel, den beide Prädikate „gut“ und „allmächtig“ tatsächlich zugesprochen werden, erledigt der Widerspruch. Der Widerspruch und Stolperstein, der „Fels des Atheismus“ wäre beseitigt, wenn wir im Paradies lebten. Hier hätten wir es mit einer Wirklichkeit zu tun, in der die beiden Eigen¬schaften Gottes, Allmacht und Allgüte, widerspruchsfrei nebeneinander existieren könnten. Doch schon im Garten Eden wird der göttliche Vorbehalt installiert: Das Verbot vom Baum zu essen, dessen Frucht für die Fähigkeit steht, Gut und Böse zu erkennen, hätte den Keim des Bösen mitten in den Paradiesgarten gepflanzt. Die Erzählperspektive der Paradiesesgeschichte ist eindeutig nachparadiesisch. Der Mythos erklärt, wie das Böse in die Welt gekommen ist. Die Menschen haben von ihrer Freiheit Gebrauch machend den göttlichen Vorbehalt missachtet. Immanuel Kant setzt in seiner kleinen Schrift Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786) den Beginn der Freiheitsgeschichte in Adam und Evas Paradies. Die Gottesverwandtschaft, ein göttlicher Funke, welcher in Adam, der wie die anderen Lebewesen aus Lehm geschaffen wurde, mit der lebendigmachenden Beatmung durch den göttlichen Geist angefacht ist, platziert den Menschen zwischen den Tieren und Gott. Er wird zum Mitschöpfer und Naturbeherrscher mit dem Auftrag, den Garten zu bebauen und zu behüten. Er darf neben den Schöpfer treten und den Tieren Namen geben. Die biblische Aufklärung wendet sich gegen das kosmische Denken, das trotz grauenhaften Leids gleichwohl ein entspanntes Weltbild von versöhnten Göttern und Menschen entwirft. Daher wird im Alten Testament ständig in Widersprüchen gesprochen. Nicht nur dort, wo das Leiden, das Sklavenhaus Ägyptens, die Erfahrung der Verschleppung ins fremde Babylon dramatisiert wird, sondern gerade auch dort, wo sich Gottespräsenz meldet. Der Dornbusch brennt und verbrennt nicht. Bewusst wird hier der zweite Hauptsatz der Thermodynamik außer Kraft gesetzt. Der Löwe liegt bei dem Lamm, die Jungfrau bekommt ein Kind und die Friedfertigen werden das Land besitzen, nicht die Eroberer, wie im richtigen Leben. Wie eine Zündung der zweiten Raketenstufe wirkt die Ausrufung der Gottesnähe im Neuen Testament. Nahezu alle Geschichten, die Jesus erzählt, transzendieren die Schemata des Üblichen. Die Aufforderung der anbrechenden Gottesherrschaft und dem neuen Jerusalem zum Durchbruch zu verhelfen endet mit der Todesstrafe. Dass die jesuanische Gemeinde in ihrem Auferstehungsglauben das nach den Gesetzen der Welt fast zwangsläufige Ende des paradigmatisch guten Menschen mit dem Bekenntnis quittiert: „Er ist nicht tot“, ist gewiss die suggestivste Installation eines Widerspruchs in der Religionsgeschichte. Die Widersprüche werden nicht wie im Polytheismus aufgehoben, sondern auf die Spitze getrieben. Hans Jonas hilft sich angesichts des industrialisierten Massenmords an den europäischen Juden dadurch, dass er dem lieben Gott die Allmacht nimmt. Gott muss ohnmächtig sein, sonst hätte er Auschwitz verhindert. Schon in Wolfgang Borcherts berühmtem Drama Draußen vor der Tür ist Gott zwar lieb, aber ohnmächtig. Beckmann, der Antiheld, kommt nämlich aus dem Stalingrader Kriegsgrauen. Der liebe Gott, ein weinerlicher alter Mann, der nur noch mitjammert: „Meine armen, armen Kinder!“. Auch der Popularphilosoph und Theologe Günther Schiwy plädiert für einen „Abschied vom allmächtigen Gott“ und stellt damit wiederum die Ordnung im Kopf her. Für die biblische Theologie aber, vor allem die sogenannte negative Theologie, die natürlich nicht im wertenden Sinn negativ ist, sondern versucht, deutlich zu machen, wie unzutreffend menschliche Begriffe Gottes Wesen ausdrücken können, wohnt angesichts des Bösen Gott im Jenseits des Widerspruchs. Gott ist das Mysterium, von den auch das Böse zeugt. Dualistische Lösungen, wie die der Gnosis oder des Manichäismus sind klassische Entspannungstheologien. Sie stellen eine polytheistische Schwundstufe dar. Solange es mindestens zwei Prinzipien, zwei Gottheiten gibt, einer für das Gute und einer für das Böse, kann Freud und Leid auf einen Himmel projiziert werden, in dem sich die Menschen und ihre Bedürfnisse restfrei spiegeln. Gut und Böse werden glatt bilanziert: eine Religion der aufgehenden Rechnungen. Bei aller Personifizierung des Bösen, die in der mythischen Sprache der Bibel Luzifer und seine Gesellen, den Satan als Dialogpartner Gottes, etwa in der Eingangsszene des Buches Hiob auf die Bühne zaubert, bringt es das personifizierte Böse in der Bibel aber nie zum Gegengott. Die Menschen sind zu den großen Fragen verurteilt. Wir kennen sie in der Fassung: „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Warum gibt es das Böse? Cur Deus homo?“ (Warum ist Gott Mensch geworden?) Die Theodizee-Frage, die bisher kein Theologe wirklich beantwortet hat, ist am Beginn der Geschichte des Christentums immerhin durch ein eindrucksvolles Beispiel vor Augen gestellt: Der Gott im Fleisch, das „Fleisch gewordene Wort“ (Joh. 1,14) wird am Kreuz dem Bösen unterworfen. Dieser gemordete Gott ist jedenfalls nicht die Spielfigur Nietzsches, ein Gott der sich langweilt, der den Menschen seine Schicksale und Leiden „zur Erheiterung in seinen allzulangen Ewigkeiten“ geschaffen hat. Die Theodizee-Frage nicht beseitigt zu haben, ist ein großer Vorzug des Christentums. Johann Baptist Metz plädiert entschieden dafür, sie wach zu halten. Schnelle Versöhnungen und Entspannungen, die den lieben Gott in ein sanftes Nirwana der Widerspruchsfreiheit retten wollen, mögen einer religiösen Bedürfniskultur entsprechen, der es mehr auf psychohygienische Wellness als auf harte Wahrheitsfragen ankommt. Metz immerhin plädiert für „Theodizee-Empfindlichkeit“. Von Romano Guardini wird erzählt, dass er auf dem Totenbett in der Erwartung vor den Richterstuhl Gottes zu treten gesagt haben soll: „Wenn ich Rede und Antwort zu stehen habe, werde ich so frei sein, dem lieben Gott auch Fragen zu stellen.“ |