Die folgende Erläuterung stammt aus Ulrich Greiners Buch "Gelobtes Land - Amerikanische Schruftsteller über Amerika" (1997) und bezieht sich auf Beobachtungen und Erfahrungen aus dem Jahr 1996.
Unsere beiden Mädchen (sechs und zehn Jahre alt) in der Schule anzumelden, war einerseits überraschend leicht, andererseits überraschend schwierig. Da es kein Meldegesetz gibt, wollte niemand einen Paß oder ein Visum sehen. Wir mußten lediglich glaubhaft machen, daß wir im zuständigen Bezirk der in Venice gelegenen öffentlichen Elementary School wohnten, und danach war die Schule verpflichtet, unsere Kinder aufzunehmen. Andererseits mußten erstaunlich viele Fragebögen beantwortet werden, vor allem über die Krankheits- und Impfgeschichte der Kinder, und da wurde die Schule plötzlich bürokratisch genau. So lange nicht alle Impfungen in penibel vorgeschriebener Reihenfolge und und im gebotenen Zeitabstand ausgeführt und dokumentiert waren, gab es kein „enrollment“. Als dies geschafft war, galt es, eine „Emergeny Information Card“ auszufüllen, wozu seltsamerweise die genaue Angabe der Ethnizität und der Muttersprache zählte. Beides war wie folgt aufgelistet und mußte angekreuzt werden:
Student Ethnicity
1 Hispanic
2 Black (not of Hispanic origin)
3 Filipino
4 Asian (please specify: Korean, Chinese, Vietnamese, Cambodian, Japanese, Laotian, Asian Indian, Other)
5 Pacific Islander (please specify: Samoan, Hawaiian, Guamian, Other)
6 White (not of Hispanic origin): (Please specify: Armenian, Persian, Iranian, Russian, Other)
7 American Indian (Tribe - please specify)
8 Alaskan Native
Home Language
English, Spanish, Korean, Cantonese, Armenian, Vietnamese, Filipino (Tagalog), Farsi, Cambodian (Khmer), Hebrew, Thai, Japanese, Arabic, Mandarin, Russian, Other.
Mir ist nie klar geworden, wie sich diese Abfolge begründete. Nach der Häufigkeit? Dann kämen die Weißen quantitativ erst an sechster Stelle, was für Los Angeles generell nicht zutrifft, und für Venice schon gar nicht. Zwar entstammten die meisten Schulkinder offenbar Familien mexikanischen Ursprungs (vor allem der durchaus vorhandenen mexikanisch-amerikanischen Mittelschicht), aber es gab auch viele Weiße, und die Schwarzen waren deutlich in der Minderheit. Wie auch immer: Der Fragebogen zeigt, wie weit Europa von Kalifornien entfernt ist. Frankreich oder Französisch, Italien oder Italienisch kommt gar nicht vor. Wir als Deutsche konnten uns unter Punkt 6 (white - other) eintragen, und unsere Sprache kam an sechzehnter Stelle vor: other.
Interessanter aber ist die skrupulöse Differenzierung und Beachtung jeglicher ethnischer Minderheit. Das Resultat ist zwangsläufig Rassismus, wenngleich ein ausdrücklich positiver, nämlich ein staatlich gewollter und geförderter Minderheitenschutz-Rassismus. Er ist die logische Folge der affirmative-action-Politik, die mit der Bürgerrechtsbewegung in den sechziger Jahren entstanden war und heute von den Konservativen bekämpft und auch von den Liberalen immer mehr bezweifelt wird. Der Ausdruck affirmative action wurde von der Kommission für Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt (Commission on Equal Employment Opportunity) geprägt, die Kennedy gegründet hatte. Diese Politik erreichte ihren Höhepunkt in Johnsons Great Society Ende der sechziger bis Mitte der siebziger Jahre. Die Zentralregierung zog immer mehr gesetzgeberische Kompetenzen an sich, indem sie die aus der Bundeskasse finanzierten Hilfsmaßnahmen mit Auflagen verknüpfte. Sie zwang die Banken, bei der Gewährung von Baudarlehen über die soziale und rassische Herkunft der Darlehensempfänger Rechenschaft abzulegen, sie zwang jene Firmen, die von Staatsaufträgen abhängig waren, ihre Einstellungspolitik an den Quoten der Rasse und des Geschlechts auszurichten. Und vor allem machte Washington (im Verein mit entsprechenden Gerichtsurteilen) die Gleichstellung für die staatlichen Schulen und Universitäten verbindlich. Dazu gehörte das heftig umstrittene Busing-Thema, also der Bustransport von Kindern in oft entlegene Schulen, um die ethnische Durchmischung zu gewährleisten. Die privaten Firmen und Institutionen beugten sich oft auch dann dem politischen Druck, wenn die Regeln formal auf sie nicht anwendbar waren.
Die weitgehend akzeptierte Idee der Chancengleichheit bedeutete in der Praxis eine gezielte Chancenverbesserung für diejenigen, die aus Gründen der Rasse (vor allem die Schwarzen, aber auch die Indianer) oder des Geschlechts (die Frauen) benachteiligt gewesen waren, und sie bedeutete zugleich eine Chancenverschlechterung für diejenigen, die bislang auf der Sonnenseite gestanden hatten. Der weiße männliche Bewerber, der verzweifelt nach einer indianischen Urgroßmutter sucht, um nicht gänzlich chancenlos zu sein, war immer mehr als nur ein konservativer Kneipenwitz.
Die Richter haben sich immer wieder mit dieser Problematik befaßt. 1978 argumentierte Lewis F. Powell, Richter am Supreme Court, in der oft zitierten „Bakke“-Entscheidung, daß rassische Diskriminierung illegal sei, daß also die Universitäten niemanden aufgrund seiner Hautfarbe ausschließen dürften (im gegebenen Fall den weißen Studenten Allan Bakke), daß sie aber generell die Rasse von schwarzen Studenten als „Plusfaktor“ in Anschlag bringen dürften, um historisches Unrecht wiedergutzumachen und „diversity“ in die Eingangsklassen zu bringen. 1996 entschied ein Bundesgericht (The 5th Circuit Court of Appeals), daß die University of Texas die weiße Bewerberin Cheryl J. Hopwood zum Studium zulassen müsse. Sie war abgelehnt worden, obwohl ihre Noten besser waren als die von 40 akzeptierten Schwarzen und besser als die von 52 akzeptierten Latinos.
Der Kampf um die richtige Abwägung zwischen dem formalen Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz (Fourteenth Amendment) und und dem inhaltlichen Recht auf Chancenverbesserung (Civil Rights Act) hat nie aufgehört, und er hat sich in den letzten Jahren immer häufiger zugunsten des formalen Gleichheitsprinzips entschieden. Das erklärt sich auch aus den teilweise bizarren Auswüchsen der Gleichstellungspolitik. Damit sie formal einsichtig sei, bedarf es einer genauen Quotierung, und die wiederum basiert auf einer exakten Definition dessen, was als Minderheit zu verstehen ist. 1973 setzte das Federal Interagency Committee on Education fünf Rassen fest: American Indian or Alaskan Native, Asian or Pacific Islander, Black, White, Hispanic. Und damit begann das, was Michael Lind das „Amerika der fünf Nationen“ nennt und was im Alltag zu komplizierten und kuriosen Recherchen der rassischen Ursprünge einer Person führt.
Die Coeur d‘Alene Elementary School in Venice bietet den Kindern zum Frühstück und zum Lunch preiswerte Mahlzeiten an. Dafür gibt es einen Wochenplan, dessen eine Seite englisch und andere spanisch ist. In einer Ecke steht klein gedruckt: „This is an equal opportunity programm. If you believe you have been discriminated against because of race, color, national origin, age, sex, religion, or handicap, write to the Secretary of Agriculture, Washington D.C. 20250.“