Requiem des Zufalls
Paul Austers zeigt sich in seinem Roman Das Buch der Illusionen wieder auf der Höhe seines Könnens
Ein Mann auf der Flucht. In der Nacht hat er Brigid, seine frühere
Geliebte, die von ihm schwanger ist, irgendwo in der Bergen von Malibu
verscharrt. Brigid war in das Haus seiner Braut Dolores eingedrungen und
hatte ihr eine Szene gemacht. Dolores bekam es mit der Angst zu tun und
drohte Brigid mit der Pistole. Versehentlich war sie nicht gesichert,
ein Schuss löste sich.
Der Mann weiß, dass er Schuld hat an
dieser Tragödie. Er sitzt in der Bahnhofskneipe und wartet auf den
Zug nach Seattle. Ihm wird übel. Er geht auf die Toilette und übergibt
sich. Als er elend auf dem Boden kauert, fällt sein Blick auf eine
Mütze, die in der Krümmung des Abflussrohres liegt, eine Arbeitermütze.
Auf dem Innenband steht ein Name: Herman Loesser.
Dieser Zufall bestimmt hinfort sein Leben. Aus dem bekannten Schauspieler
und Filmregisseur Hector Mann wird nun der Arbeiter Herman Loesser. Niemand
weiß, warum und wohin Hector Mann plötzlich verschwunden ist.
Auch die vermisste Star-Kolumnistin Brigid wird nie gefunden werden. Und
manche wundern sich, dass die schöne, erfolgreiche Schauspielerin
Dolores ihre Karriere aufgibt. Das Unglück wäre übrigens
nicht passiert, wenn Hector an diesem Abend nicht eine Reifenpanne gehabt
hätte. Der Zufall fügt es, dass er zu spät zu Dolores kommt.
Da ist Brigid schon tot.
Die Musik des Zufalls: Leser des amerikanischen Schriftstellers Paul Auster
kennen seinen gleichnamigen Roman (The Music of Chance, 1990). Das Rätsel,
weshalb ein Leben so verläuft und nicht anders, die Frage, wer unser
Schicksal lenkt, lässt Auster nicht los. Wieder, wie in all seinen
Romanen, versucht er, den Zufall zu entziffern. Dessen Musik ist diesmal
ein Requiem, und selten war ein Buch Austers so düster, so erfüllt
von der tödlichen Herrschaft der Willkür.
Das Spannende an Austers Romanen ist nie der Stoff allein, sondern die
Form, die er ihm gibt. Die Geschichte des Mannes auf der Bahnhofstoilette
zum Beispiel wird von Alma, der späteren Biografin Hectors, erzählt.
Alma kennt sie aus seinen Tagebüchern, und sie erzählt sie einem
Professor Zimmer, der ein Buch über die Filme Hectors geschrieben
hat. Zimmer wiederum erzählt uns Almas Geschichte, die sich mit der
Geschichte Hectors und mit seiner eigenen zu einem geometrischen Muster
verknüpft.
Der Zufall, der alle diese Lebensgeschichten verschränkt und unentrinnbar
prägt, führt zu seltsamen, bedeutungsvollen Koinzidenzen, so
wie er an einem Fenster im Winter zuweilen die schönsten Eisblumen
hervorbringt. Diese unheimliche Schönheit besitzt auch Austers Roman.
Unheimlich daran ist, dass der Zufall in all seiner Grausamkeit es nicht
verschmäht, im Chaos unversehens eine Ordnung zu stiften, in der
dann auch die Liebe möglich ist. Aber sie ist illusionär und
nicht von Dauer.
Dauer stiftet nur der Illusionist, der Künstler, aber er zahlt einen
hohen Preis. Davon handelt Das Buch der Illusionen. Einer der letzten
Filme Hectors zum Beispiel schildert einen Schriftsteller, der vorübergehend
in das Haus abwesender Freunde zieht, um dort zu schreiben. Zu seiner
Überraschung findet er eine hübsche Studentin vor. Anfangs ist
er ungehalten und sieht die erwünschte Einsamkeit gefährdet,
aber als er merkt, dass die junge Frau eine intelligente Kennerin seines
Werks ist, fühlt er sich geschmeichelt und beflügelt. Sie verlieben
sich ineinander, und die Frau wird seine Muse, die ihn zum Schreiben drängt.
Aber je mehr er vorankommt, umso hinfälliger wird sie, und als er
den letzten Satz getippt hat und ihr die Erzählung vorlesen will,
sieht er zu seinem Entsetzen, dass sie im Sterben liegt. Da wirft er das
Manuskript ins Kaminfeuer, und die Sterbende kehrt ins Leben zurück.
Die Kunst vernichtet das Leben, und weil Hector diese bittere Wahrheit
am eigenen Leib erfahren hat, dreht er seine Filme im Verborgenen. Kein
Publikum darf sie sehen. Sein Testament verfügt, dass die Filme nach
seinem Tod verbrannt werden. Anders als Max Brod im Falle Kafkas hält
sich die Witwe an diesen Wunsch. Ihrem Vernichtungsfuror fällt auch
Almas fast vollendete Mann-Biografie zum Opfer. Sie ist darüber so
verzweifelt, dass sie Selbstmord begeht.
Zimmer, ehemals Literaturprofessor, der seine Frau und die beiden Söhne
durch einen Flugzeugabsturz verloren und sich aus dem Lehrbetrieb zurückgezogen
hat, sitzt einsam in seinem Haus in Vermont und arbeitet an einer Übersetzung
der Erinnerungen eines Toten von Chateaubriand. Er sagt von sich: "Ich
war bloß jemand, der so tat, als ob er lebte, ein Toter, der seine
Tage damit hinbrachte, das Buch eines Toten zu übersetzen."
Eines Tages taucht eine junge Frau auf und bittet ihn, sie nach New Mexico
zu begleiten, wo sich der verschollen gelaubte Hector Mann versteckt halte.
Als Zimmer sich weigert, will sie ihn mit vorgehaltener Pistole dazu zwingen.
Der seines Lebens ohnedies Müde entwindet ihr die Pistole, setzt
sie an seine Schläfe und drückt ab, aber die Pistole ist versehentlich
nicht entsichert. Nach diesem Exzess der Emotionen wird ihnen bewusst,
dass sie einander lieben.
Das Buch der Illusionen, das sich den Anschein dokumentarischer Wahrheit
gibt, ist eine Wundertüte solch bizarrer, wild bewegter, ineinander
verschachtelter Geschichten. Sie arbeiten mit den melodramatischen Effekten
des Kinos. Sie setzen nicht auf psychologische Glaubwürdigkeit, sondern
auf die elementare Kraft des nicht vorhersehbaren Schicksals. Die Musik des Zufalls ist auch hier Programm. So, wie Auster bisher die
traditionellen Gattungen der Detektivgeschichte, der Apokalypse, des Abenteuerromans
und der romantischen Liebesgeschichte genutzt und ihr Prinzip auf die
Erzählung zurückgewendet hat, so nutzt und spiegelt er hier
die grelle und schnelle Form des Kinos - ganz ähnlich, wie in der
New-York-Trilogie der Detektiv zum Observationsobjekt wird und der Erzähler
zum Detektiv, der die Wanderungen des zu beobachtenden Mannes durch Manhattan
in den Stadtplan einträgt und Muster entdeckt, die sich zu Buchstaben
und zu einer Botschaft zusammenfügen. Die Form ist der Inhalt und
umgekehrt. Geschriebenes bezieht sich auf Geschriebenes, es gibt immer
einen zweiten oder dritten Bedeutungshorizont.
Die selbstreferenzielle Figur ist typisch für Auster. Auch in diesem
Buch findet sich eine Fülle kunstvoll aufeinander bezogener Entsprechungen.
Auster liebt das System der Spiegelungen, in dem die Fabel in der Fabel
in der Fabel einen Korridor bildet, an dessen Ende sich die Erzählung
selber spiegelt, die gegenläufigen Erzählbewegungen, die das
Ende des einen Stranges mit dem Anfang des zurücklaufenden anderen
Stranges verbinden, die Aporien, die etwa dazu führen, dass die Bedingung
des Existierens das Ende des Existierens bedeutet. Früher hätte man das postmodern genannt. Auster jedoch nimmt
seine Sache sehr ernst. Ihm fehlt der Zynismus, auch Ironie ist ihm fremd.
Das Spiel, das er spielt, hat nichts Frivoles. Ein märchenhafter,
manchmal fast religiöser Grundton bildet den basso continuo, der
die Sehnsucht nach den klaren, einfachen Geschichten untermalt, Geschichten
von Liebe und Tod (Leviathan), von der Suche nach dem Vater (Mond über
Manhattan), vom plötzlichen Glück und plötzlichen Unglück
(Die Musik des Zufalls), vom Wunsch, fliegen zu können (Mr. Vertigo).
Das große Thema dieses Roman ist das gewonnene und verlorene Leben,
die gefundene, erfundene und verscherzte Biografie. Das ist kein Spaß.
Denn Hector, Sohn galizischer Juden (auch Auster ist Sohn eingewanderter
Juden), geboren als Chaim Mandelbaum auf einem Flüchtlingsschiff,
erfindet sich in Hollywood als Latin Lover neu und bringt es zu frühem
Ruhm, bis der fatale Schuss ihn von neuem dazu zwingt, ein anderer zu
sein. So sind die Menschen dieses Romans rastlos bemüht, sich ihr
eigenes Leben zu entwerfen und anzueignen. Sie erreichen ihr Ziel immer
nur im Augenblick, im Ganzen aber nie. So banal diese Erkenntnis auch
sein mag, sie erwischt uns, wenn wir dieses Buch lesen, wie eine neue
Erfahrung. Insofern konfrontiert Auster, wie schon im Leviathan und in der Musik
des Zufalls, die amerikanische Verheißung, die in den Hollywood-Mythen
ihr farbiges Abbild findet, mit einem kritischen Gegenbild. Es desillusioniert
mit den Mitteln der Illusion. Darin allerdings liegt auch ein Problem.
Der Versuch, den Kinomythos in die schiere Erzählung zu übertragen,
stößt manchmal an die Grenzen literarischer Plausibilität.
Sie werden sichtbar, wenn Auster allzu lang die Filme Hector Manns nacherzählt.
Aber das ist nur eine kleine Schwäche dieses von Werner Schmitz sehr
gut übersetzten Buches. Es zeigt Paul Auster wieder auf der Höhe
seines Könnens. Anders als manche seiner amerikanischen Kollegen,
die ihre Romane allzu üppig möblieren, vermag er es, auf begrenztem
Raum ein Architektur verwirrender, erhellender Geschichten zu errichten.
Paul Auster: Das Buch der Illusionen. Roman, Rowohlt Verlag, Reinbek
2002