Als wir 1990 zum ersten Mal mit dem Auto von Hamburg nach Schwerin fuhren und uns beim Durchqueren des ehemaligen Eisernen Vorhangs an die lachhaften Prozeduren der Grenzkontrollen erinnerten, fragte das Kind: »Warum war denn da eine Grenze?« Ich weiß nicht mehr, was wir stammelnd auf diese unbeanwortbare Frage geantwortet haben.
Die längst erwachsene Tochter – und alle, die den Fall der Mauer nur aus den Erzählungen der Eltern und der Geschichtslehrer kennen – müssen nur die bewegende Autobiografie Wolf Biermanns lesen, um die Tragödie der deutschen Teilung zu verstehen. »Warte nicht auf bessre Zeiten!« ist lehrreich wie ein historisches Werk, jedoch anschaulicher und lebendiger. Das Buch ist eine Meisterleistung der literarischen Vergegenwärtigung, es verbindet sachliche Präzision mit persönlicher Leidenschaft, Witz mit Sarkasmus.
Wolf Biermann wird an diesem 15. Oktober 80 Jahre alt. Er ist einer der bedeutendsten deutschen Lyriker, ein begnadeter Sänger und Gitarrist obendrein, dessen Lieder zu wahren Schlagern wurden und lange Zeit in aller Ohren waren. Als ihn die DDR 1976 ausbürgerte, empörte sich die halbe Welt, und viele namhafte Schriftsteller der DDR protestierten. Es war der Anfang vom Ende der DDR.
Bis der einst überzeugte Kommunist im Westen wirklich angekommen war, das dauerte. »Ich wollte die ersten Jahre nichts als zurück in den Osten«, schreibt er. Der Glaube an den Kommunismus war für ihn ein Lebensmittel. Natürlich musste es der wahre, der menschenfreundliche Kommunismus sein, nicht der verkommene der DDR.
Der Vater Dagobert starb im KZ. »Der Kummer um den Kommunisten, den Arbeiter, den Juden Biermann ist meine Schicksalsmacht«, sagt er gleich zu Beginn, »mein guter Geist, mein böser«. Dieser Kummer habe ihn nie verlassen: »Durch ihn bin ich ein frecher Zweifler geworden, dann ein frommer Ketzer, ein tapferer Renegat des Kommunismus. Ein todtrauriges Glückskind in Deutschland, ein greises Weltenkind.«
Erschütternd, wie er das Bombardement Hamburgs beschreibt, den Feuersturm in der Nacht vom 27. auf den 28. Juli 1943, dem Mutter und Kind mit knapper Not entkommen. Leichen sieht er, brennende Menschen. »Sechseinhalb Jahre war ich damals. Und so alt blieb ich mein Leben lang.«
Er wird ein miserabler Schüler, und die Mutter macht ihm den allerschwersten Vorwurf: »Dafür ist dein Vater in Auschwitz gestorben, dass du jetzt eine Fünf in Mathe hast!« 1953 schickt sie ihn in die DDR. Dort macht er ein so gutes Abitur, dass er einen Studienplatz an der Humboldt-Universität kriegt. Er bewirbt sich bei Helene Weigel, die ihm eine Stelle beim Berliner Ensemble gibt. Mit Freunden gründet er eine Theatergruppe, die am Ende verboten wird. Der junge Mann ist hoch begabt, mutig und dreist zugleich.
Es ist erstaunlich, wie vieler Nackenschläge es bedurfte, bis Biermann vom kommunistischen Glauben abfiel. Schon als Schüler muss er einem infamen Erpressungsversuch der Stasi widerstehen. Den Mauerbau »begrüßt« er, »nicht begeistert, aber immerhin tieftraurig«. Er erlebt die Turbulenzen des Ungarn-Aufstands 1956 und des Prager Frühlings 1968. Das Diplom in den Fächern Philosophie und Mathematik, das ihm nach gut bestandener Prüfung zusteht, wird ihm verweigert. Ein Gastspiel im Kabarett »Die Distel« endet nach kurzer Zeit. »Mit den Waffen der Satire wurden dort tote Hunde totgeschlagen, die vorher von der Propagandaabteilung des ZK angeliefert worden waren.« Er durchschaut das Spiel, aber er spielt es mit, noch. Seine Bücher werden nicht gedruckt, öffentliche Auftritte untersagt. Die Stasi unternimmt Anschläge auf ihn, die er nur durch Glück überlebt.
Trost und Stärkung findet er bei seinem Freund Robert Havemann: »Alter Fuchs und junger Wolf. Als Gegensätze passten wir bestens zusammen. Seit Robert der Guillotine im Naziknast entronnen war, hielt er sich für unsterblich. Er begrüßte sich jeden Morgen im Spiegel und beglückwünschte die Menschheit dazu, dass er am Leben war.«
Es scheint so, als wären die edelmütigen und starrsinnigen Kommunisten Bier- und Havemann durch die Drangsal, in der sie lebten, durch die Tragödien der Freunde, die sie mit ansehen mussten, nur noch edelmütiger und starrsinniger geworden, so wie man den christlichen Märtyrern nachsagt, die Verfolgungen und Foltern hätten sie im Glauben nur bestärkt. Einmal begegnet Biermann dem österreichischen Kommunisten Ernst Fischer, ehemals Chef der KPÖ, und fragt ihn, warum ihn Stalins Verbrechen nicht stutzig gemacht hätten. Die Antwort: »Wir dachten: Wenn es so grauenhaft ist, wie es aussieht, dann kann es gar nicht so sein, wie es ist.«
Noch Anfang der achtziger Jahre, so erzählt Biermann, habe er gedacht: Ich bin der richtige Kommunist, Honecker und die Bonzen sind die Antikommunisten. Da begegnet er einmal einem echten Nazi, der ihm erklärt, Hitler habe mit der Ausrottung der Juden einen Fehler gemacht, ansonsten sei er auf dem richtigen Weg gewesen. Und jetzt beginnt Biermanns Wandel: »Wer sich heute noch Kommunist nennt, brannte es mir durchs Gehirn, der versteht sich als einen guten, einen richtigen, einen besseren Kommunisten. Er unterliegt aber dem gleichen Irrtum wie ein guter Nazi, der den Massenmord an den Juden für einen Fehler hält, den man beim nächsten totalitären Tierversuch an lebendigen Menschen besser vermeiden sollte.« Wenig später trifft er den großen Schriftsteller und Renegaten Manès Sperber, der ihm überzeugend darlegt: »Es kann keinen guten, keinen richtigen Kommunismus geben.«
Als die Mauer fällt, bleibt er in Hamburg. »Warum ließ ich nicht alles stehn und liegen an der Elbe? Warum rasten wir nicht an die Spree? Ich war zu stolz, zu bitter, zu müde. Ich wollte nicht wie ein geprügelter Hund in die Küche der Weltgeschichte schleichen und dem Koch ein Ei stehlen. Die Ausbürgerung war keine Privatsache. Auch im Namen aller, die ins Exil gejagt oder eingesperrt worden waren, erwartete ich ein offizielles Wort der DDR-Regierung, eine Rehabilitation.« Sie kam insofern nicht, als eine DDR-Regierung nicht mehr existierte. Doch wurde er Ehrenbürger Berlins, und die Humboldt-Universität gab ihm endlich und feierlich sein Diplom.
Man wundert sich über die Genauigkeit seiner Erinnerungen. Biermann hat zeitlebens Tagebuch geführt. Als er eine Durchsuchung der Stasi befürchtete, gab er die Hefte – einen Koffer voll – einem Freund, der sie verstecken sollte. Der Mann war, wie Biermann später erfuhr, Mitarbeiter der Stasi, aber quasi ein Doppelagent, denn er stellte sich dümmer, als er war, verriet nur Nebensächliches, und gab, als alles vorbei war, die Tagebücher unversehrt zurück.
Es ist schön, wie Biermann das Porträt dieses kleinen Helden zeichnet. Er bemüht sich darum, gerecht zu sein, und meistens ist er es. Kollegen wie Stephan Hermlin oder Christa Wolf beurteilt er nachsichtig. »Christa Wolf war nie ein Freiheitsgöttin. Aber sie zwang sich immer mal wieder zu einer Tapferkeit, der ihr Herz gar nicht gewachsen war.« Über den stolzen Hermlin, der zwischen Anpassung und Widerstand schwankte, schreibt er: »Seit seinem Schock über den XX. Parteitag der KPdSU, über die Verbrechen der Stalinzeit, hatte Hermlin seine politpoetische Polygamie mit Bonzen und Musen beendet. Er schrieb keine Gedichte mehr. Genauer: Er schlug sich auf die Seite der Musen, aber sie küssten ihn nicht.«
Keine Gnade finden bei ihm die Karrieristen und Wendehälse. Als der DDR-Versuch gescheitert war, ging das Weißwaschen los: »Jeder stinkende Elite-Lump offerierte sich auf einmal als verkannter Philanthrop und Menschenretter.« Gemeint sind unter anderen Markus Wolf, Egon Krenz und Günter Mittag – Namen, die schon fast keiner mehr kennt. Unnachsichtig ist er gegen die Linke, die Nachfolgepartei der SED, die anfangs gegen die Berliner Ehrenbürgerschaft war und sich dann der Stimme enthielt. Mit Recht fragt er sich, wohin das Vermögen der SED verschwunden ist.
In seinen späten Jahren hat er sich dem jüdischen Erbe zugewendet. Es war ein Zufall, ein sprechender, dass er den Historiker des jüdischen Widerstands Arno Lustiger kennenlernte, der ihn dazu brachte, den Großen Gesang vom ausgerotteten jüdischen Volk, das Poem von Jizchak Katzenelson, vom Jiddischen ins Deutsche zu übersetzen.
An einer Stelle nennt sich Biermann »ichbesessen«, und wer ihm je begegnet ist, wer seinen bezaubernden, oft auch anstrengenden Narzissmus erlebt hat, wird ihm zustimmen. Die Bemerkung zeigt aber auch, dass er von seiner seltenen, seiner seltsamen Doppelnatur weiß: Er ist immer auch ein Kind geblieben. Hier jedoch, in dieser Autobiografie, sind Selbstbeschäftigung und Selbstdarstellung ganz natürlich am Platz, und sie überzeugen gerade deshalb, weil Biermann mit Reue und Selbstkritik nicht spart.
Mit Intimitäten hält er sich zurück. Zwar erwähnt er seine großen Lieben, verneigt sich vor seiner jüngsten und vermutlich letzten Frau Pamela, nennt sich auch einmal den »kleinen Weiber-Leiber-Zeitverdreiber«, der er einst war, doch Blicke durchs Schlüsselloch gibt es nicht. Biermann, der in seinen Liedern das Derbe durchaus liebt, hat einen Sinn für Takt und Stil. Diese mehr als 500 Seiten sind ebenso außerordentlich wie der Mann, der sie schrieb. Wolf Biermann: "Warte nicht auf besssre Zeiten!" Die Autobiographie. Propyläen Verlag, Berlin 2016