Home - Autoren der Gegenwart - deutschsprachige - Laudatio auf Michael Buselmeier


 

 


Ulrich Greiner

Der letzte Antiautoritäre

Rede zur Verleihung des Ben Witter Preises an Michael Buselmeier
Literaturhaus Hamburg, 2. Dezember 2010

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde und Kollegen,
lieber Michael Buselmeier,

als wir beide uns zum erstenmal begegnet sind, war das 1982, und es geschah naturgemäß in Heidelberg. Ich wollte damals ein Stadtporträt schreiben, und das wäre ganz unmöglich gewesen, ohne mit Michael Buselmeier zu reden. Denn Buselmeier ist ja der Heidelberg-Forscher schlechthin, und wahrscheinlich gibt es auf dem ganzen Erdkreis kein ähnlich intensives Verhältnis zwischen einem Schriftsteller und seiner Stadt wie das zwischen Buselmeier und Heidelberg – mit Ausnahme vielleicht von Balzac und Paris.

Michael Buselmeier hat mich damals im „Europäischen Hof“ abgeholt, weil er von innen sehen wollte, was er nur von außen kannte, jenes Hotel, wo 1970 Robert McNamara wohnte, der frühere amerikanische Außenminister und damalige Präsident der Weltbank, während Buselmeier und der SDS draußen mit Steinen warfen. Danach wurde der SDS verboten. Wenn ich mich recht erinnere, war Buselmeier von dem Hotel nicht sehr beeindruckt, vielleicht sogar enttäuscht. Wir beide jedenfalls fuhren mit den Rädern durch Heidelberg, unter anderem in den Stadtteil Rohrbach, wo einstmals Eichendorff sein Käthchen liebte und die Zeilen schrieb: „In einem kühlen Grunde, / Da ging ein Mühlenrad. / Mein Liebste ist verschwunden, / Die dort gewohnet hat.“

Es waren aber, als wir nach Rohrbach kamen, nicht nur die Liebste verschwunden und nicht nur das Mühlenrad, sondern auch der Bach, den man unterm Asphalt vergraben hatte. Ich begriff auf einmal den Zorn Buselmeiers, seinen Zorn über die Zerstörung dessen, was man Heimat nennt. Sie geschah und geschieht im Namen einer rasenden Modernisierung, die aber zumeist nichts anderes ist als eine Maximierung der Rendite. Hier haben wir eines der großen Themen unseres Preisträgers, das ihn bis heute nicht losgelassen hat.

Buselmeier nämlich war einer der ersten, die allmählich begriffen, dass die von der Revolte der Studenten ausgelöste Veränderung der Lebensformen – angefangen mit den Jeans und den langen Haaren bis hin zur Befreiung der Sexualität und der Entmachtung alter Autoritäten –, dass dieser Umsturz des Gewohnten im Resultat nichts anderes als eine Modernisierung bedeutete, die dem modernen Kapitalismus freie Bahn schuf, frei von allen Traditionen und Rücksichten. Diese Dialektik von Freiheit und neuer Abhängigkeit erscheint in Buselmeiers Werk als wunder Punkt, als unauflösbares Dilemma, und es bildet, wie mir scheint, die Antriebskraft seines Schreibens.

Schon 1980 hat er in seinem Gedichtband „Die Rückkehr der Schwäne“ beim Anblick eines verlassenen, zum Abriss bestimmten Herrenhauses geschrieben: „Wir schütz ich das Unzeitgemäße hinter / geflickten Scheiben vor den Herren / mit Bauplänen und Kleingedrucktem / in schwarzen Kofffern mit Schnappverschluss / die die Mauern umstreichen, Polaroidfotos / zücken und nach den Erben fragen.“ 1982 erschien dann „Der Untergang von Heidelberg“, ein grandioser, ein wütender Klagegesang, der ihn als Autor bekannt machen sollte. Man sieht schon hier, wie aus dem studentischen Weltveränderer der sorgfältige Beobachter wird, der mit wachsendem Zorn begreift, dass die Veränderung, für die er gekämpft hat, längst von anderen und viel stärkeren Kräften in die falsche Richtung getrieben wird.

In seinen „Monologen über das Glück“ (1984) schreibt er: „Tatsächlich interessiere ich mich heute weniger für gesellschaftliche Veränderung und utopischen Entwurf, während das Gleichbleibende und das Verlorene, Heimat, eine fast lebensrettende Bedeutung angenommen hat.“ Und in seinem Buch „Spruchkammer“ betrachtet er ein altes Foto aus dem Ende des 19. Jahrhunderts und er sieht: Das Viertel, in dem er aufgewachsen ist, ist gerade erst im Entstehen. Viele der Häuser, die Buselmeier aus seiner Jugendzeit kennt, sind noch gar nicht da – und inzwischen wieder verschwunden, abgerissen, durch Wohnblocks und Bürobauten ersetzt. Die Leere auf diesem frühen Bild kommt ihm vor, (ich zitiere) „als habe ein Unglück alles Leben gelöscht, das in Wirklichkeit gerade erst anfangen soll. Ein neues Stadtviertel wird gebaut, doch das Gründungsfoto nimmt den künftigen Zustand des Verfalls schon vorweg, die Rückbildung zur Steppe.“

Man kann sagen, dass Buselmeiers Werk – und es umfasst ja inzwischen an die zwanzig Bücher – ein einziger Kampf gegen gegen diese Rückbildung zur Steppe ist, und mit „Steppe“ meint er nicht allein die Verödung unserer Lebensräume, sondern vor allem auch die Verödung der geistigen Landschaft. Und es ist klar, dass dieser Kampf utopische Züge hat, dass das Scheitern wahrscheinlicher ist als das Gelingen. In seinem 2003 erschienenen Buch „Amsterdam. Leidseplein“ klagt er über seinen „immer wieder scheiternden Versuch, das Alte festzuhalten, die Zeit anzuhalten“.

Aber Buselmeier ist kein Mann, der es mit dem Klagen lange aushielte, dazu ist er viel zu kämpferisch. Auch wenn er einige seiner politischen Positionen geändert hat: antiautoritär ist er geblieben, und wenn ich mich in unserer schönen neuen Welt so umsehe, dann neige ich zu der Befürchtung: Er ist der letzte Antiautoritäre.

Jedenfalls ruft er sich in diesem Buch einige Seiten später zur Ordnung und schreibt: „Höchste Zeit, mein Werk fortzusetzen, ein Überlebenswerk, eine Art Testament, mit dem ich beweisen will, dass ich noch existiere; dass ich durchgehalten und weitergeschrieben habe an meinem lyrisch-epischen Monolog, in den die Stimmen aller, die ich je kannte und liebte, einmünden. Also weitermachen, obwohl ja kaum etwas von dem, was ich bisher veröffentlicht habe, auch angemessen beachtet oder gar verkauft wurde.“ Was das letzte betrifft, so hat er leider recht. Sein literarisches Werk, das vieles von dem übertrifft, was heute gelobt und ausgezeichnet wird, ist nicht angemessen beachtet worden, aber ich hoffe, lieber Michael Buselmeier, dass der Ben-Witter-Preis für Sie eine Art Entschädigung bedeutet.

Wenn man auf Buselmeiers Werk blickt, gewinnt man den Eindruck, er habe die alte Hollywood-Devise beherzigt: Beginne mit einem Erdbeben und steigere dich allmählich! Buselmeier nämlich hat mit dem Untergang begonnen und sich allmählich gesteigert. Die Steigerung sehen wir in seinem 1989 erschienenen Roman „Schoppe“, und das ist in der Tat ein erstaunliches, ein beeindruckendes Buch.

Natürlich beginnt es mit einem Untergang. Der Naturforscher Schoppe besteigt an einem stürmischen Oktobertag sein Fahrrad und fährt aus dem Rheintal hinaus in die Pfälzer Berge. Auf den Gepäckträger hat er einen Koffer gebunden sowie seine Schreibmaschine. Der Grund seiner Reise wird nach und nach klar: Er verlässt eine gescheiterte Beziehung und hofft auf einen neuen Anfang. Für diesen Anfang hat er sich eine Bleibe in einem Dorf in der Pfalz ausgesucht. Als er endlich völlig durchnässt und durchfroren ankommt, findet er ein Zimmer vor, an dessen Wänden der Schimmel klebt und in dessen feuchten Ecken allerlei Ungeziefer haust.

Allein diese Ouvertüre ist eine literarische Meisterleistung. Der Text ist so anschaulich und suggestiv, dass man förmlich mitfriert und mitzittert, und man erlebt die Wüsteneien unserer Zvilisation, die ausgefransten Stadtränder, die Schnellstraßen mit ihren angrenzenden Müllhalden, die Sperrbezirke der Fabriken und militärischen Anlagen, man erlebt diese Szenerie wie einen unaufhaltsamen Krieg gegen eine menschenwürdige Landschaft und Heimat.

Normalerweise sehen wir das nicht, wir Autofahrer, die wir in unserer geschützten Zelle daran vorbeirauschen. Manchmal nur, wenn die Notdurft uns zum Aussteigen zwingt, sehen wir, was der Held des Romans, der gegen den Wind strampelt, nicht übersehen kann: die Tristesse der Ränder. Dem Radfahrer Schoppe erscheinen die Lastzüge, deren Winddruck ihn fast in den Graben wirft, wie die Abgesandten feindlicher Heere, und es heißt: „Wieder arm werden, sprach er laut vor sich hin; Hunger und strenge Winter! Im Wald Holz sammeln und Bucheckern. Die ganze Familie um den singenden Ofen geschart, Eisblumen am Fenster.“

Dann aber nimmt der Roman eine fantastische Wendung. Schoppe gerät auf einer seiner Wanderungen in einen Schneesturm und klopft gegen die Pforte eines größeren Anwesens. Der Besitzer öffnet ihm, versorgt ihn mit heißem Tee. Und hier gerät unser Held in eine Art Künstlerkolonie, die ein harmonisches, mit der Natur und der Tradition versöhntes Leben propagiert. Kommt uns das bekannt vor? Ja, in der Tat, es handelt sich um eine Adaption des „Nachsommers“ und zugleich um eine liebevoll kritische und selbstkritische Auseinandersetzung mit Adalbert Stifters Utopie.

Wir erinnern uns: Heinrich Drendorf sucht auf einer seiner Wanderungen Schutz vor einem drohenden Gewitter und gelangt in das Rosenhaus des Freiherrn von Risach, er gelangt in eine von der normalen Welt abgeschirmte Parallelwelt, wo die menschliche Vernunft den Einklang mit der göttlichen Vernunft sucht, und diese göttliche Vernunft manifestiert sich in der Natur. Aber sofort fallen uns auch die Unterschiede auf: Heinrich Drendorf entstammt begüterten Verhältnissen, während unser Schoppe alles in allem ein armer Hund ist. Was sich allein schon daran zeigt, dass Stifters Held mit der Kutsche reist und Buselmeiers Held mit dem Fahrrad. Und die Natur, die Drendorf erforscht, ist ganz unbeschädigt, noch nicht verheert von der industriellen Revolution, während Schoppe durch eine Landschaft der Endzeit radelt.

Aber hören wir eines der Gespräche, die Schoppe mit seinem Gastfreund führt. Der Mann sagt: „Wir bewahren die alten Dinge, sofern sie schön und zweckmäßg sind und Spuren geschichtlicher Wahrheit enthalten, und weil ohne sie das Neue nicht gedeiht. Je bedrohlicher die Zeit erscheint, desto genauer konzentrieren wir uns auf unsere Arbeit und setzen unbeirrt fort, was einmal an anderer Stelle begonnen wurde.“ Das nun klingt in der Tat genau so, als hätte es der alte Risach gesprochen. Aber der Mann in Buselmeiers Roman fährt anders fort und sagt: „Wir hören das ferne Grollen, die Schreie der Gefolterten in den armen Ländern, woran wir nichts ändern können, auch nicht durch Gewalt, zu deren Anwendung wir nicht im Geringsten ausgebildet sind, und wir schließen die Fensterläden.“

Und Schoppe entgegnet: „Aber darf man sich denn wissend abwenden? Verhält man sich nicht genau so wie die vielen Gleichgültigen, denen der Gedanke einzugreifen ein Leben lang fremd bleibt?“ Worauf der Gastgeber antwortet: „Finden Sie nicht, dass den großen Besserungsentwürfen, all den Weltrettungsideen etwas hochtrabend Hilfloses, Lächerliches, sogar Gewalttätiges anhaftet, der Geruch des Lagers? Wir halten uns an das Mögliche: Kunst, auch Poesie, lenkt das Leben, und ein durch Dichtung gelenktes Leben bringt wiederum Dichtung hervor – oder wenigstens Sekundärliteratur. Wir lesen einander Gedichte vor und sprechen über die andere Geschichte, die darin aufbewahrt ist.“

Wir sehen, wie Buselmeier hier gewisse Perspektiven ausprobiert und zugleich ironisiert, denn der Gedanke, die Produktion von Dichtung sei gut für die Doktoranden, ist zwar realistisch, aber nicht eben im Sinne Stifters. Und doch bleibt Stifter der maßgebliche Bezugspunkt und zugleich Antipode des Romans, der noch viele weitere Aspekte hat, die ich leider übergehen muss. Wichtig ist jedoch, dass Schoppe, und darin ähnelt er dann wieder Stifters Held, eine Leidenschaft für die Beobachtung der Natur entwickelt. Es folgt nämlich eine an Stifter erinnernde wunderbare Schilderung der vom Eissturm zauberhaft und unheimlich veränderten Wälder.

Ganz am Ende des Romans – inzwischen ist der Sommer gekommen – macht Schoppe mit seinem Freund einen Spaziergang, und es heißt: „Schweigend gingen sie nebeneinander durchs Feld, jeder für sich, den eigenen Gedanken folgend, doch verbunden im Anblick der Landschaft. Sobald sie sich umwandten, konnten sie den Gebirgszug der Haardt bis Neustadt überschauen, jede Furche, jeden Farbton, das Schimmern der Erde, die ihnen im Augenblick unzerstörbar schien. Berg und Schloss waren weit entfernt und lagen schon im Schatten, während die Zinnen des Turms unter den letzten Sonnenstrahlen aufglimmten. Es war gegen halb zehn, als die Wanderer sich Edenkoben näherten. Im Straßengraben rauschte ein Wasser, und der Mond zog herauf. Die Mauern waren dunkel, fast schwarz, ebenso die Äste der Bäume und die Drähte der Überlandleitungen, aber das Gebirge glänzte wie grauer Samt, und der ganze westliche Himmel leuchtete.“

Ja, das ist unübersehbar romantisch, aber es handelt sich um eine übersetzte, in unsere Gegenwart hineingespiegelte Romantik, die neben dem Schloss die Überlandleitung keineswegs übersieht. Es bleibt die Hoffnung, dieses Bild, dieser Augenblick könne „unzerstörbar“ sein, wie es heißt, und diese Vision fügt sich in das Programm einer „Repoetisierung der Welt“, von der Buselmeier in einem von ihm herausgegeben Buch über die Aktualität der Romantik ausdrücklich spricht.

Schon in den „Monologen über das Glück“ finden wir die folgende Szene: „Ich fuhr mit dem Rad durch die offene warme Frühlingswelt, wie ein Kind von Geborgenheit zu Geborgenheit: Flieder, Holunder, Jasmin. Einmal blieb ich stehen und suchte den Mond. Wasser strömte über den Weg, die Blätter sirrten, es knackte im Laub. Eine Gruppe junger Leute zog singend und lachend an mir vorbei. Die Amseln schrien im Gras, das glänzte, und der Kuckuck war ganz nah.“

Auch das ist romantisch, aber es wäre ein Fehler, in Buselmeier nur den Romantiker zu sehen, denn das Politisch-Gesellschaftliche interessiert ihn allzu sehr, oder besser gesagt, er kann ihm nicht entrinnen, weil er über die Gabe der genauen, illusionslosen Beobachtung verfügt. Schon im „Schoppe“-Roman lesen wir: „Besonderen Ekel bereiteten ihm die Genossen von einst, Mitstreiter, die nach dem Ende der Revolte ihre politische Karriere als Kommissare neustalinistischer Sekten fortgesetzt hatten, um sich dann, nach kurzem Untertauchen, als Politiker der Grünen von Pöstchen zu Pöstchen und von Phrase zu Phrase zu hangeln. Bußprediger des Proletariats, die eine Esche nicht von einer Erle unterscheiden konnten, hielten plötzlich Schilder mit der Aufschrift Es lebe der Wald! hoch.“

Und in seinem Amsterdam-Buch erinnert er sich voller Zorn an gewisse Szenen der Revolte: „Die Unterwürfigkeit des Fußvolks, das Ergebenheitsgemecker der braven Basisgrüppler, sobald ein Führender in der Mitgliederversammlung einen proletarischen Witz gemacht hatte, der schon vertrocknet war, bevor er die letzten Genossen erreichte; Rossgewieher unter den Eingeweihten an den kahlen Tischen, zum Wegschauen, zum Ekeln. Schon damals war mir klar: Kämen diese Besserwisser je an die Macht, ich müsste schleunigst auswandern.“

Ist Buselmeier ein Renegat? Der Begriff hat eine lange Geschichte und eine üble Vergangenheit. Im totalitären kommunistischen System wurde man schneller zum Abweichler gestempelt, als man sich umdrehen konnte, und zweifellos wäre Buselmeier in den Augen der linken Tugendwächter ein Renegat, ein Verräter. Aber der Renegat ist zuallererst derjenige, der Nein sagt, Nein zu einem geschlossenen Glaubenssystem. Und Buselmeier ist ein Jasager immer nur dort, wo er die Macht der Poesie wirken sieht und sich selber ihr anvertraut. Was herrschende Meinungen betrifft, so war und ist er ein Neinsager.

Das hat auch zu tun mit seiner politischen Vergangenheit. Im Amsterdam-Buch erzählt er davon: „Bis heute nicht verwunden die Schmach, den ohnmächtigen Groll, obwohl fast dreißig Jahre vergangen, ja: Hass, ein Körpergefühl, meine tiefste Enttäuschung wahrscheinlich. Frankfurter Westend, eine besetzte Villa und eine medientheoretische Tagung mit Alexander Kluge; wir alle zur Nacht Seite an Seite auf einem Matratzenlager gebettet. Doch am Morgen trat Wulf, Marxologe aus Marburg, in einem schwarz-seidenen Netzhemd, durch das man seine käsige Haut sah, vor mich hin und sagte leichtweg: Ihr könnt euch hiermit als hinausgeworfen betrachten, du und Elsa, und die anderen nickten und guckten verlegen in ihre Kaffeetassen, während Wulf die Drecksarbeit mit einer gewissen Heiterkeit machte, geschmeidig-brutal, aus dem Handgelenk gleichsam, eine kleines Gaunerstück, das ihn für weitere Aufgaben empfahl.“

Zur Eigenart Buselmeiers gehört seine unbedingte, seine radikale Ehrlichkeit. Rache- und Hassgefühle, die niemandem von uns fremd sind, verschweigt er nicht, und so findet man bei ihm gelegentlich ausgesprochen aggressive und polemische Passagen. Aber so, wie er Gerichtstag über andere hält, so hält er auch Gerichtstag über sich selber und schreibt: „Ich galt als schwierig und unbestimmt schwankend, ein leicht Angeschlagener, dessen Unsicherheit und Schwäche augenblicks in schneidende Arroganz, ja Gewalttätigkeit umkippen konnte und dann wieder in Depresssionen, stummes Dahocken, ausgelöst vom Gefühl der Mittelmäßigkeit bei höchsten Ansprüchen.“

Es ist die Geschichte eines vaterlosen Jungen, der allein mit seiner Mutter aufwächst, unter ärmlichen Bedingungen, eines Jungen, der morgens in ein Kinderheim mit dem falschen Versprechen gebracht wird, man werde ihn am Abend abholen. Aber keiner kommt, er bleibt allein. „Ich war“, so schreibt er, „das früh beschädigte, vielleicht auch früh gestählte Heimkind, ganz versunken in Menschenfinsternis und Kälte. Was machte das Kind in solcher Verlassenheit, was geschah ihm? Schrie es? Wie lange? Es sprach nicht mehr, es fieberte, lag auch tagsüber im Schlafsaal, allein mit seiner Puppe aus Holz. Fühlte sich auch später ausgeschlossen von den anderen, ein Heimjunge eben, ein Bastard.“

Dann aber erinnert er sich an eine Klassenfahrt, an einen Ausflug ans Meer, erinnert sich daran, wie er, der sich abgesondert hält und am Rande sitzt, zwei Kameraden beobachtet, ein Freundespaar, das sich angeregt unterhält, offenbar über ein Buch, in dem einer der beiden herumblättert, und wie ihn ganz plötzlich ein Glücksgefühl überkommt und die Erkenntnis, lesen und lernen zu wollen: „Ich ahnte etwas von den Geheimnissen der Welt, die auf mich warteten. Ein unbekannter Wissensdurst erfasste mich im Rhythmus der Brandung, eine ziellose Lernbegier.“

Wenn man die teilweise autobiografischen Erzählungen aus dem „Spruchkammer“-Band und aus den „Monologen über das Glück“ zusammenfügt, dann sieht man einen einsam durch die Nachkriegslandschaften streifenden Jungen, der Wehrmachtshelme findet, Gewehrpatronen und Knochen, einen Korb mit abgeschnittenen stinkenden Hühnerköpfen, eine Metallwanne mit Quecksilber, das er fasziniert mit den Händen einfangen will. Und einmal sieht er in einem zerstörten Haus eine Leiche von der Decke baumeln, einen Mann, der sich erhängt hat. Überall die Zeichen von Krieg und Zerstörung und überall das Gefühl der Verlorenheit. Kein Wunder, dass dieser Junge eine Heimat sucht. Er findet sie zunächst in der Revolte, dann in Heidelberg, zuletzt aber und am verlässlichsten in der Poesie.

So wurde Michael Buselmeier zum Schriftsteller, er wurde, und hier darf man das emphatische Wort verwenden, zum Dichter. Er beherrscht ja nicht allein das Metier eines sorgfältigen Journalisten und pointierten Kritikers, er ist ja nicht nur der begnadete Polemiker, er ist auch und vor allem ein Poet – ein Poet, dessen Sprache wahrhaft Anmut und Melodie besitzt. Man sieht auch, wie er sein Instrumentarium in dem Maß verfeinert hat, in dem er sein politisches Wissen quasi zurückgenommen und sich immer mehr auf seine Gabe zur unerschrockenen Beobachtung verlassen hat, seinem ausgeprägten Sensorium immer stärker vertraut hat. Dazu gehört sein ausgeprägter Geruchssinn, auch seine Geräuschempfindlichkeit. Zuweilen kommt es einem vor, als könnte Buselmeier mit geschlossenen Augen durch die Welt gehen: Allein das, was er hört und riecht, reicht vollkommen aus, um ein plastisches Bild zu erzeugen.

Sein Tagebuch „Die Hunde von Plovdiv“ zum Beispiel ist voll von Geräuschen und Gerüchen. Das Buch trägt ja seinen Titel deshalb, weil Buselmeier, der in dieser mittelgroßen bulgarischen Stadt ein Stipendium absolvierte, schlaflose Nächte verbrachte, gequält vom Heulen und Kläffen zahlloser Hunde. Ich fühlte mich, als ich das las, an den wunderbaren Walt-Disney-Film „101 Dalmatiner“ erinnert.

Verzeihen Sie diesen vielleicht etwas unpassenden Vergleich, aber ich will damit einen letzten Aspekt in Buselmeiers Werk beleuchten, und das ist seine Komik. Die Komik entspringt nicht einem beabsichtigten Witz, nicht einer geistreich vorbereiteten Pointe. Die Komik schleicht sich hinter dem Rücken des Verfassers ein, sie überfällt ihn. Er ist ihr Opfer, nicht ihr Erzeuger. Diese Komik ist unfreiwillig: nicht, weil Buselmeier außerstände wäre, sie zu begreifen, sondern weil er außerstande ist, den tückischen Zufall, der sie hervorbringt, abzustellen. Es handelt sich mit anderen Worten um jene Komik, die wir aus den Filmen von Buster Keaton kennen, mit dem Unterschied freilich, dass Buselmeier alles andere als ein Stoiker ist.

Lesen Sie zum Beispiel den Anfang seines Amsterdam-Buches. Es beginnt damit, dass der Held, eingeladen zu einem längeren Aufenthalt in Amsterdam, die Reise mit dem Gefühl beginnt, den größten Fehler seines Lebens zu machen. Er leidet unter körperlichen Beschwerden, es ist heiß, er ist zu warm angezogen, der Koffer ist zu schwer. Es scheint übrigens, als wäre das eine ständige Empfindung unseres reisenden Dichters. Wann immer es losgehen soll, überfällt ihn schlechte Laune, fast so etwas wie Verzweiflung, und ich selber habe große Sympathie dafür, weil ich ganz ähnlich empfinde.

Es geht aber damit weiter, dass, anders als verabredet, kein Abgesandter der niederländischen Stiftung am Bahnhof steht, um ihn abzuholen. Der Held beschließt, sein Ziel allein und mit der Straßenbahn zu erreichen. Glücklicherweise hat er sich die Adresse notiert: Saxen-Weimar-Laan. Die Schilderung seiner Irrfahrten, immer mehr schwitzend, immer schlechter gelaunt und umzingelt von einem ständigen Kannitverstan, ist von verzweifelter Komik. Und ganz am Ende kommt er endlich an, in der Coburg-Gotha-Laan. So nämlich lautet die richtige Adresse, nicht Saxen-Weimar-Laan. Ein Irrtum, der nur einem Gebildeten unterlaufen kann, aber der unaufmerksame Leser wird diesen Witz nicht bemerken, weil Buselmeier ihn gar nicht kommentiert, den Unterschied nicht einmal benennt. Fast nämlich scheint es so, als hätte er sich von Anfang an auf die richtige Straße zubewegt, als hätten sich nur all seine Feinde verschworen, ihn niemals ankommen zu lassen.

Dieses systematische, sozusagen formvollendete Scheitern kann nur einem wahren Slapstick-Künstler widerfahren, und es passt zu jener strengen Selbstermahnung, die sich Buselmeier im selben Buch gewissermaßen hinter die eigenen Ohren schreibt: „Beachte: Nie auf Seiten der Gewinner stehen, wer immer die Gewinner gerade sind.“

Wer so denkt, wer so schreibt wie Buselmeier, ist der ideale Ben-Witter-Preisträger. Ich gratuliere der Jury zu ihrer Entscheidung. Ich gratuliere Manfred Metzner, der in seinem Wunderhorn Verlag die Bücher des Preisträgers seit mehr als dreißig Jahren verlegt, wobei ich hinzufügen will, dass der Einfall, den Verlag nach Brentanos und Arnims Liedersammlung „Des Knaben Wunderhorn“ zu benennen, auf unseren Preisträger zurückgeht. Schließlich aber und vor allem will ich Ihnen, lieber Michael Buselmeier, ganz herzlich gratulieren.



zum Seitenbeginn

blog comments powered by Disqus