Home - Club der toten Dichter - andere Sprachen - Italo Calvino - Der Mann, der jedes Buch nur einmal schrieb


 

 

Ulrich Greiner

Der Mann, der jedes Buch nur einmal schrieb

Der folgende Nachruf auf Italo Calvino, der am 19. September 1985 starb, erschien am 27. September 1985 in der ZEIT

„Eichhörnchen der Feder“, so hat ihn Cesare Pavese einmal genannt. Das war nach dem Krieg, als Italo Calvino ein vielversprechender junger Autor war. Pavese förderte ihn. Eichhörnchen - vielleicht meinte er damit Calvinos Physiognomie, die listigen, klugen Augen. Vielleicht meinte er damit Calvinos Neugier, die Beweglichkeit, die behende Anmut seiner Sprache. Leicht und vergnüglich lesen sich seine Bücher, zugleich aber sind sie von Skepsis und Weisheit erfüllt, und sie entführen den Leser in jene Landschaften, wo der Schmerz und das Glück dicht beieinander wohnen.

Auf die Frage, ob er Pessimist sei, antwortete Calvino einmal: „Aber nein. Ich gehöre zu jenen Optimisten, die glauben, daß die Dinge noch schlechter gehen könnten.“ Die Klarheit, die Helligkeit Calvinos ist Widerpart seines tiefen Zweifels an der Zukunft des Menschen. Die Ambivalenz durchzieht sein ganzes Werk: den ersten, sofort erfolgreichen Roman Wo Spinnen ihre Nester bauen (Il sentiero dei nidi di ragno, 1947), eine Geschichte autobiographischen Charakters aus jener Zeit, als Calvino am Kampf der italienischen Partisanen gegen die deutschen Faschisten teilnahm, und sie beherrscht auch sein jüngstes, eben auf deutsch erschienenes Buch Herr Palomar (Palomar, 1983). Die Dinge gehen schlecht, das wußte er, und er bemühte sich, mit seiner Literatur, wie er schrieb, „eine neue Art des Seins zu erfinden“.

Italo Calvino glaubte an die Literatur. In Nachrufen stand zu lesen, der Autor, bekanntlich zu Mystifikationen neigend, habe seinen Geburtsort im Dunkeln gelassen. Das trifft nicht zu. In einem Gespräch mit Frank MacShane, erschienen 1983 im New York Times Magazine, sagte Calvino: „Ich wurde auf Kuba geboren, und meine Eltern waren Agronomen für tropische Früchte, das war 1923. Dann kehrten wir zurück nach San Remo an der Riviera, nicht weit von der französischen Grenze. Sie waren sehr wissenschaftlich orientiert, und mein Vater experimentierte damit, auf unserem alten Familiensitz Avocados und Grapefruits anzubauen.“

Calvino war kein Mystifikateur, weder in diesem noch in einem anderen Punkt. Die Schwierigkeit seiner Bücher (sie sind leicht und schwierig) beruht nicht auf Geheimnistuerei. Es sind Artefakte, kunstvolle Konstruktionen, poetische Architekturen. Seine Romane (ausgenommen der erste) haben keinen direkten Bezug zu unserer politischen und sozialen Wirklichkeit; sie sind nicht realistisch, sondern phantastisch, nicht erlebt, sondern erdacht, nicht naiv, sondern kalkuliert. Einige der Bücher, die es jetzt zu relativ hohen Auflagen gebracht haben, waren bereits Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre auf deutsch erschienen. Der S. Fischer Verlag, der sie damals herausbrachte, hatte kein großes Glück damit und verkaufte die Rechte an den Hanser Verlag. Dieser veröffentlichte 1983 den Roman Wenn ein Reisender in einer Winternacht (Se una notte d'inverno un viaggiatore, 1979) und erzielte eine Auflage von fast 40 000 Exemplaren - eine bemerkenswerte Zahl für dieses ungewöhnliche und üblichen Leseerwartungen widersprechende Buch. Im Jahr darauf druckte Hanser den frühen Roman Der Baron auf den Bäumen (Il barone rampante, 1957) und verkaufte 25 000 Stück.

So hat sich Italo Calvino, in Italien längst ein vielgelesener Schriftsteller, ja ein Schulbuchautor, endlich auch in Deutschland durchgesetzt. Allerdings spät. Woran liegt das? Es scheint, als wären wir jener Bekenntnisliteratur müde, die vor rund zehn Jahren unter den Stichworten „Neue Sensibilität“ und „Neue Innerlichkeit“ begonnen und den Buchmarkt erobert hatte. Es waren Bücher, in denen das sogenannte Authentische triumphierte. Beziehungskrisen, das Leiden und Sterben naher Anverwandter, das Fremdsein in einer entfremdeten Welt, existentielle und psychische Notlagen beherrschten die Literatur und zugleich das Leser-Interesse jener Jahre. Erinnert sich noch jemand an Mars von Fritz Zorn (1977) oder Die Annäherung an das Glück von Günter Steffens (1976), an Kapitulation von Ernst Herhaus (1977) oder gar an Klassenliebe von Karin Struck (1973)? Haben wir nicht damals die Krebstode, Lebenskrisen und Liebesaffären mitgelitten, fast, als wären es die unseren? Und die Frage, ob das, was uns da wie eine Tränenflut umspülte, in jedem Fall Literatur und Kunst sei, scherte uns wenig. Hauptsache, es war authentisch, was immer das heißen mochte.

Der Heißhunger nach der sogenannten Wirklichkeit, die wir in jenen Büchern anzutreffen hofften, ist gestillt, das Bedürfnis, an den Schicksalen schreibender Mitmenschen teilzunehmen, ist verschwunden. „Wenn ich mal richtig ICH sag, wie viele da wohl noch mitreden können?“ spottete Peter Rühmkorf in seinem Gedichtband Haltbar bis Ende 1999 (1979), und das var es dann auch. Von der wehmütigen Feier des Ich haben wir nun genug, wir wollen, so scheint es, wieder schöner lesen. Wir wollen wieder Literatur als Kunst, wollen Romane, die uns in Welten entfuhren, die wir nicht kennen, die mit der unsrigen nichts zu tun haben. Eskapismus ist kein Schimpfwort mehr, sondern die Parole der literarischen Saison. Hätten wir vor Jahren Patrick Süskinds Parfüm lesen mögen? Es wäre uns kalt und kunstgewerblich vorgekommen (was es in der Tat ist). Hätten wir Umberto Ecos Name der Rose gefeiert? Wir hätten dieses ausgetüftelte Konstrukt abgelehnt und gesagt: Was haben wir mit den obskuren Erlebnissen eines mittelalterlichen Klosterbruders zu schaffen?

Literarische Geschmacksempfindungen und Werturteile sind abhängig von Moden. Schön, daß die Bücher Italo Calvinos, der mit Moden nichts zu tun hat, nun davon profitieren. Das letzte Kapitel von Calvinos letztem Buch Herr Palomar trägt die Überschrift „Versuch, tot sein zu lernen“, und es beginnt mit dem Satz: „Herr Palomar beschließt, von nun an zu tun, als wäre er tot, um zu sehen, wie die Welt ohne ihn weitergeht.“ Das ist ein unmöglicher Gedanke, aber Herr Palomar liebt es, das Unmögliche zu denken. Lernen tot zu sein, das heißt, sich davon zu überzeugen, daß das eigene Leben ein abgeschlossenes, nicht mehr veränderbares Ganzes ist. Dann ist das Leben zu Ende. Was aber endlich ist, kann man beschreiben. Der letzte Satz dieses ernsten Gedankenspiels lautet: „Er beschließt, von nun an jeden Moment seines Lebens genau zu beschreiben und, solange er nicht alle beschrieben hat, nicht mehr zu denken, er wäre tot. Im selben Augenblick ist es soweit, daß er stirbt.“

Calvino ist jetzt im Alter von 61 Jahren an einer Gehirnblutung gestorben. Er hat nicht an einer langewährenden Krankheit gelitten, die vermuten ließe, er habe unter ihrem Einfluß die Todesgedanken des Herrn Palomar niedergeschrieben. So sehr man jetzt über diesen letzten Satz des letzten Buches erschrickt: Palomar ist kein Nachruf Calvinos auf Calvino. Und doch ist es unvermeidlich, daß man das Buch heute anders liest als man es gestern las. Denn nun ist Calvinos Leben „ein abgeschlossenes Ganzes“, das er selber nicht mehr verändern kann. Wir allerdings können es noch verändern, indem wir seine Bücher lesen, darüber nachdenken, Leben und Werk des Autors bewerten und würdigen. „Aber“, sagt Herr Palomar, „das sind Veränderungen, die hauptsächlich für die Lebenden zählen. Die Toten haben nicht viel davon.“ Er behauptet bezeichnenderweise nicht, daß sie gar nichts davon hätten. Denn das setzte voraus, daß es kein Leben nach dem Tode gibt, was Herr Palomar nicht sicher weiß. „Dem, was er weiß, mißtraut er; das, was er nicht weiß, hält seinen Geist in Atem.“

Palomar ist wie Calvino ein Denker der Aporie. Als Aporie bezeichnete Platon die Situation, da der Unwissende seiner Unwissenheit inne wird. In die Aporie zu versetzen, ist das Ziel der sokratischen Fragekunst. In die Aporie zu geraten, ist das Los des denkenden Menschen namens Palomar. Er beobachtet die Wellen am Strand, die Tauben auf der Terrasse, die Sterne am Nachthimmel; er versucht, Ordnung in die Dinge der Natur und die seines Lebens zu bringen. Er begreift: „Erst, wenn man die Oberfläche der Dinge kennengelernt hat, kann man sich aufmachen, um herauszufinden, was darunter sein mag. Doch die Oberfläche der Dinge ist unerschöpflich.“ Herr Palomar steht am Strand und schaut dem Spiel der Wellen zu. Wenn es ihm gelänge, so denkt er, diesem permanenten Wandel der Formen und Bewegungen eine Gesetzmäßigkeil abzugewinnen, wenn er durch äußerste Konzentration auf diesen kleinen Ausschnitt eine Ordnung herstellen könnte, dann vielleicht könnte er diese Erkenntnis auf das Universum anwenden und einen Zipfel der Welt verstehen. „Es würde genügen“, so schließt diese wunderbar klar und einfach geschriebene literarische Miniatur, „nicht die Geduld zu verlieren, was aber bald geschieht. Herr Palomar geht weiter den Strand entlang, nervös wie zuvor und noch Ungewisser in allem.“

Der Schriftsteller Italo Calvino ist einer, der das Denken liebt. Er ist also, dem Wortsinne nach, ein Philosoph. Aber er ist zugleich mehr. In einem seiner erfolgreichsten Bücher Wenn ein Reisender in einer Winternacht erzählt er die Geschichte eines japanischen Zen-Schülers, der mit dem Zen-Meister durch den Garten geht und beobachtet, wie die Blätter von einem Ginkgo-Baum auf den Rasen fallen. Wie kann man, so meditiert er, das Fallen der vielen Blätter und das Fallen jedes einzelnen Blattes zugleich beobachten? Allgemeiner gesagt: Wünschenswert wäre es, in einem bestimmten Augenblick der vielen einzelnen Sinneseindrücke inne zu sein und zugleich den Gesamteindruck, das Ganze wahrzunehmen.

Das ist ein erkenntnistheoretischer Höhenflug, der am Ende in die Niederungen der Gewöhnlichkeit abstürzt. Denn der Schüler begehrt die Tochter des Meisters und wirbt um die scheue Schöne. Auf dem Weg zu seinem ersten Stelldichein mit ihr gerät er in die Fänge der Mutter, die ihn zu sich herabzieht, und während er sich mit ihr lustvoll am Boden windet, sieht er die Tochter in der Tür, deren seidenes Gewand sich über ihrem jungen Körper öffnet. Zugleich aber sieht er in der anderen Tür den Meister, der die Tochter sieht, die die Mutter sieht, die mit dem Schüler schläft, der den Meister sieht, der sieht, daß der Schüler ihn sieht. Und in diesem Augenblick, während er mit der Mutter schläft und sich vorstellt, mit der Tochter zu schlafen, begreift er, daß er in eine von seinem Meister aufgestellte Falle getappt ist, aus der herauszukommen ihm keine Meditation über die Ginkgo-Blätter helfen wird.

Das ist Philosophie und Parodie von Philosophie. Das ist sinnenfrohe, wirkungsvoll erzählte Prosa und ein ironisches Lehrstück. Das ist Calvino: so phantastisch, märchenhaft, abenteuerlich es bei ihm auch zugeht, so ist doch das, was da erzählt wird, immer auf mediterrane Weise hell und durchsichtig, von listiger Doppelbödkkeit. Man sieht die Fäden der Marionetten, die da sehr vergnüglich tanzen, man sieht den Lenker ihrer Bewegungen und Schicksale, aber man hat damit noch lange nichts durchschaut. Denn der Marionettenspieler ist nicht der Herr aller Dinge, er wird selber gelenkt. Von wem? Zum Beispiel vom Leser. Zu sagen, Calvino sei es, der die Geschichte vom Zen-Schüler erzähle, ist ungenau. Sie stammt von dem japanischen Schriftsteller Takakumi Ikoka und ist der Anfang seines Romans Auf dem mondbeschienenen Blätterteppich, einer jener zehn Romananfänge, in deren verwirrendes Netzwerk der Leser des Romans Wenn ein Reisender in einer Winternacht verstrickt wird. Verwirrend, weil diese Romananfänge Fälschungen ständig wechselnder Urheberschaft sind: verstrickt, weil nämlich der Leser die Hauptfigur des Buches ist, im Grunde er also Schöpfer des Erzählten.

In seinem Aufsatz „Die Ebenen der Wirklichkeit in der Literatur“ (abgedruckt in dem Essay- Band Kybernetik und Gespenster, 1984) denkt Calvino darüber nach, wer eigentlich Autor der Literatur ist. Er konstruiert den Satz „Ich schreibe, daß Homer erzählt, daß Odysseus sagt: Ich habe dem Gesang der Sirenen gelauscht“, und er kommt zu dem Schluß, daß sich nicht nur das literarische Subjekt verflüchtigt, je genauer man darüber nachdenkt, sondern daß auch das Objekt fraglich wird und daß sich das letzte all jener Fenster, die zwischen den verschiedenen literarischen Räumen sind, auf das Nichts öffnet. Das ist nun wieder eine der Aporien Calvinos. Er führt den Leser in ein philosophisches Perpetuum mobile, in ein literarisches Labyrinth, und vielleicht tut man gut daran, sich rechtzeitig am eigenen Lesefaden wieder daraus zurückzuziehen und auf der schlichten Einsicht zu beharren, daß es Calvino ist, der alle diese phantastischen Geschichten ersonnen hat. Sein Name steht ja auf dem Titel all dieser schönen Bücher, und daran kann man sich vorerst halten. Obwohl, und das macht die Sache wieder etwas schwieriger, außer dem Namen nichts Dauerhaftes auszumachen ist. Denn Calvino war ein Mann, der jedes Buch nur einmal schrieb. Viele Schriftsteller, und oft sind es nicht die schlechtesten, erzählen immer dieselbe Geschichte in immer neuen Variationen. Ein zeitgenössisches Beispiel ist Thomas Bernhard.

Im Nachwort zu seinem Buch Das Schloß, darin sich die Schicksale kreuzen (Il castello dei destini incrociati, 1974) sagt Calvino: „Ich habe immer das Bedürfnis, die eine Schreibart mit einer ganz anderen zu wechseln und mich jedesmal ans Schreiben zu machen, als hätte ich noch nie zuvor etwas geschrieben.“ So sind auch seine Bücher untereinander gänzlich verschieden. Sie sind märchenhaft und grotesk wie Der geteilte Visconte (Il visconte dimezzato, 1952) oder Der Ritter, den es nicht gab (Il cavaliere inesistente, 1959), poetisch wie Die unsichtbaren Städte (Le città invisibili, 1973) oder philosophisch wie Palomar. Jedesmal scheint ein anderer Autor am Werk, jedes Mal wird etwas anderes mit anderer Absicht erzählt.

Eines jedoch ist all diesen Büchern gemeinsam: In jedem von ihnen zwingt sich der Autor unter ein selbstgewähltes Handicap, als wäre etwas schreiben zu müssen nicht Handicap genug, als brächten ihn erst selbstangelegte Fesseln auf Trab. Und jedes neue Handicap scheint schwerer als das vorhergehende. Relativ leicht war es noch beim Baron auf den Bäumen. Da entschließt sich der Held der Geschichte, Abkömmling italienischen Landadels, eines Abends, nicht dem Ruf der Eltern ins Bett zu folgen, sondern die Nacht auf dem Baum zu bleiben. Und nicht nur diese eine Nacht, sondern sein ganzes folgendes Leben, so daß sich sein Erzähler gezwungen sieht, ihm quer durch alle Wipfel zu folgen, ihm über alle Stationen seines Lebens, von der ersten Liebe bis zum Tod, hinterherzuklettern, von Ast zu Ast durchs Laubwerk - ein Unternehmen, das selbst einen Könner wie Calvino manchmal an den Rand des erzählerisch Möglichen bringt.

In den Unsichtbaren Städten erzählt Calvino noch einmal die Geschichte, die Marco Polo dem Kublai Khan erzählte. Es sind Porträts jener Städte, die ein fiktiver Marco Polo auf seinen Reisen besucht hat oder gerne besucht hätte oder die er sich ausgedacht hat, und jedes dieser 55 Porträts steht unter elf Stichworten wie „Die Städte und der Wunsch“ oder „Die Städte und die Erinnerung“. Die Anordnung der Stadtbilder ergibt ein geometrisches Zahlensystem von strenger, verborgener Schönheit - vergleichbar jener Zahlenmagie, die mittelalterlichen Bauten oft zugrunde liegt. Im Roman Das Schloß, darin sich die Schicksale kreuzen, ist das Handicap offenkundig: Es besteht aus einem Spiel von Tarock-Karten. Ein Ritter kehrt abends in einem Schloß ein. Die Tafelrunde ist stumm, und als der Ritter das Schweigen durch eine Bemerkung auflockern will, spürt er, daß er wie die anderen nicht mehr sprechen kann. Schließlich zieht einer aus jenem Tarock-Spiel eine Karte und legt sie auf den Tisch, ordnet andere dazu und erzählt so seine Geschichte mittels der Kartenbilder. Der Erzähler bemüht sich um die Deutung der Schicksale. Am Ende liegt auf dem Tisch ein System von Karten, einer Patience ähnlich, in dem die Geschichte jedes Anwesenden enthalten ist, lesbar von unten nach oben, von rechts nach links und vice versa.

Das ist nun wirklich eine altväterliche, altmodische, vertrackte und höchst artifizielle Art zu erzählen. Das ist Literatur als Philosophie, als intellektuelles Spiel, als Denkinstrument, als geistiges Exercitium der strengsten Art. In einem Gespräch hat Calvino einmal über den Reisenden in einer Winternacht geäußert: „Der Roman ist ein pures Willens- und Geistesprodukt.“ Wie kam Calvino dazu, sich selbst derart an die Kandare kunstvoller Konstruktionen zu nehmen? Ist das erzählerischer Masochismus oder Kraftprotzerei? Weder noch. „Angesichts der Unordnung der Welt empfinde ich es als Bedürfnis, Ordnungen zu erfinden, theoretische Möglichkeiten bis zur letzten Konsequenz auszudenken“, sagte Calvino. Und an anderer Stelle sprach er davon, daß es ihm darum gehe, „im Chaos menschlicher Ereignisse eine Ordnung zu schaffen.“ Calvino war ein Skeptiker und zugleich ein Romantiker, einer, der unter der Undurchdringlichkeit und Unverstehbarkeit der Welt litt und der mit den schwachen und doch nachhaltigen Mitteln der Literatur daran ging, das universale Unheil, das er überall erblickte, durch eine phantastische Gegenordnung, durch schöne Miniaturen und zuchtvolle Kunststücke zurückzudrängen.

„Manchmal habe ich den Eindruck, daß wir am Ende der Welt leben; vielmehr: die Welt, die Geschichte ist schon zu Ende, und wir sind hier und leben weiter.“ Dieses Weiterleben suchte Calvino dadurch zu ermöglichen, daß er, in Umkehrung von Adornos Diktum, Ordnung ins Chaos brachte. Deshalb sieht man seinem Werk in keiner Weise an, welchen Finsternissen es abgerungen war. Immerzu scheint es leichtfüßig, spielerisch, von geometrischer Strenge und schöner Durchsichtigkeit. Calvino war nicht der Typus des kraftvollen Erzählers, der mit großem epischem Atem und unbekümmert um das, was andere gedacht und geschrieben haben, die Welt noch einmal beschreibt. In gewisser Weise wußte Calvino zu viel. Er war ein poeta doctus, überaus belesen, theoretisch beschlagen, ein literarischer Denker, der in den großen Traditionen der Literatur zu Hause war. Das verwehrte es ihm, sich unbefangen voran- und hindurchzuschreiben zu umfangreichen Romanen und einem großen Gesamtwerk. Er war nicht darauf aus, den Leser durch emotionale Identifikation zu fesseln. In seinen Büchern transzendierte er jenen literarischen Narzißmus, von dem die gegenwärtige Literatur zum Teil bestimmt ist. Er kehrte zurück zu einem Begriff von Literatur, der mit Objektivierung, Kunstanspruch und handwerklicher Präzision zu tun hat. Italo Calvino hat uns bewiesen, daß möglich ist, was wir schon für unmöglich hielten: daß man in Büchern (in seinen Büchern) lesen und lernen, vergnügt sein und nachdenken, sich verlieren und sich wiederfinden kann.


zum Seitenbeginn

blog comments powered by Disqus