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Ulrich Greiner Leben lernen: Nachwort zur Gesamtausgabe Der folgende Text ist das Nachwort zur zweibändigen Ausgabe der Werke von Clemens Eich, die im Februar 2008 anlässlich des 10. Todestages im S. Fischer Verlag erschienen ist. Der Schriftsteller Clemens Eich, geboren am 22. Mai 1954 in Rosenheim, Sohn von Ilse Aichinger und Günter Eich, arbeitete bis 1982 als Schauspieler in Landshut, Frankfurt am Main und Wien, lebte zuletzt in Hamburg, veröffentlichte die Gedichte Aufstehn und Gehn (1980), die Erzählungen Zwanzig nach drei (1987) und den Roman Das steinerne Meer (1995), und er starb, mitten in der Niederschrift der Aufzeichnungen aus Georgien, am 22. Februar 1998 an den Folgen eines Unfalls in Wien. Er wurde beigesetzt auf dem Gemeindefriedhof in Salzburg, unweit des Dorfes Großgmain, wo er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Die zweibändige Ausgabe seiner Werke erscheint zum zehnten Jahrestag seines Todes, und sie erlaubt es nun, den trotz des frühen Todes fast zwanzig Jahre währenden Weg seines Schreibens näher zu betrachten. Man sieht jetzt, wie weit er gekommen war, weiter, als manche seiner erfolgreichen Kollegen, weiter, als die allmählich erst einsetzende Rezeption zu begreifen imstande war. Am deutlichsten wird das in seinen Prosastücken. Die frühen Erzählungen Zwanzig nach drei zeigen noch den tastenden Autor, der stark von fantastisch-surrealistischen Bildern und Vorbildern geprägt ist. Die zumeist kurzen Stücke sind formal sehr vielfältig und offen, sie verbinden Existenzphilosophie mit fotografisch genauer Beobachtung des Alltäglichen, das Theater des Absurden mit Traumbildern. Man könnte sie experimentell nennen, klänge das Wort nicht etwas zu harmlos für den schwarzen Zweifel an der Erkennbarkeit der Welt und des eigenen Ichs, der aus allen Zeilen spricht. Der Zweifel gewinnt in seinem Roman Das steinerne Meer eine formal und sprachlich bezwingende Gestalt. Dieses Buch zeigt am deutlichsten die poetische Kraft des Dichters Clemens Eich. Dass es acht Jahre nach dem Erzählungsband erschien (und dazwischen kein anderes), zeigt, wie sehr Clemens Eich seine Sache ernst genommen, wie lange er daran gearbeitet hat. Er gehörte zu jenen seltenen und seltsamen Zeitgenossen, die schweigen, wenn sie nichts zu sagen haben. Es ist ja ohnehin die Frage, was eine lange Zeit ist und was eine kurze. Es ist ja sehr zweifelhaft, was schnell und was langsam ist. Die Zeit ist eine Funktion der Einbildungskraft, die Zeit ist Vorstellung. Der zwölfjährige Junge Valentin, der zu Beginn des Romans mit Fieberträumen im Bett liegt, träumt die Zeit als rasende Beschleunigung – und zugleich als Stillstand und Standbild. Er, der die Abfahrtsmeister bewundert, träumt davon, der Sieger eines Abfahrtslaufs zu sein. Aber der Siegeslauf ist ein Alptraum, das Fahren ist ein Stürzen. Es kommt darauf an, dem Sturz vorauszueilen - wie einer, der, um nicht nach vorne zu kippen, ins Laufen kommt. Hielte er, so fiele er. Der Sieg ist das geglückte Stürzen, und der Traum zehrt von der Angst, zu langsam zu sein. Auch davon handelt das Buch. Die reale Zeit der Geschichte geht genau vom 1. November 1963 bis zum 1. Februar 1964. Aber in diesen drei Monaten wird das Kind Valentin zum Erwachsenen, in diesen drei Monaten halluziniert der Großvater sein ganzes Leben, er träumt die Träume noch einmal, er wird krank, und er stirbt. In diesen drei Monaten kehren die Eltern von ihrer Ferienreise nicht zurück, sie werden aufgehalten durch das Erdbeben in Messina, das aber 1908 geschah, der Postbote versteckt ihre Briefe, der Junge zweifelt an ihrer Rückkehr, er verlässt das Haus. Es bündelt sich nun die Geschichte dreier Generationen wie in einem einzigen Augenblick. Die Zeiten schieben sich ineinander. Die Gegenwart ist nicht weniger real als die Vergangenheit, das Geträumte nicht weniger wirklich als das Wirkliche. Der Roman Das steinerne Meer bewegt sich im Schattenreich zwischen Wachheit und Halluzination, dort also, wo einbrechende Dämmerung die Konturen schärft und zugleich ins Unwirkliche entrückt. So traumhaft, so gespenstisch diese Geschichte oftmals anmutet, so realistisch und alltäglich ist sie dann wieder in der erzählten Situation, so dass der Leser, wie der Großvater und wie Valentin, nie ganz sicher sein kann, an welcher Stelle aus dem Laufen ein Fallen und wann der Angsttraum zur Wirklichkeit wird. Und nicht immer ist ganz klar, ob das stille Entsetzen, das den Roman begleitet wie ein kaum spürbares Beben, eine Entsprechung in der Wirklichkeit hat. Zwar werden durchaus dramatische Ereignisse erzählt, vor allem aus dem Leben des Großvaters. Aber wichtig ist nicht so sehr die äußere Realität, wichtiger ist, wie die Vorstellungskraft ihre Wahrnehmung verändert. Einmal heißt es: „Das war das Schlimmste, daß er sich dauernd am Rande des Schlimmstmöglichen seiner Vorstellungskraft befand, daß jedoch das Schlimmste nicht eintraf, nicht eintreffen wollte, und infolgedessen, wenn er die Dinge genau betrachtete, gar nichts passierte. Überhaupt nichts.“ Der eben noch verhinderte Sturz ist ja auch der Stillstand. Das Schlimmste könnte jederzeit geschehen – in dieser Schwebe, auf dieser Grenze zwischen Verharren und Taumeln. Von dieser Grenze handelt der Roman, und auch von anderen Grenzen, von der Grenze zwischen Kindheit und Erwachsenheit, zwischen Sieg und Niederlage, zwischen Ich und Welt, schließlich ganz konkret von der Grenze zwischen Deutschland und Österreich, denn dort, in einem Dorf an der Grenze, spielt die Geschichte, nicht sehr weit entfernt von jenem Gebirge, das dem Roman den Titel gibt, dem „Steinernen Meer“. Die Grenze ist Abschluss und Übergang, Mauer und Durchlass. Ein Grenzgebiet in vieler Hinsicht ist auch Georgien, und auf seiner Reise dorthin ist Clemens Eich auch den Grenzen seiner selbst begegnet. Oder, wie die junge Frau im Mantel zu dem Erzähler sagt (er hat sich am Auge verletzt und liegt krank in einem Bett in Tiflis): „Sie haben mit allem in Georgien gerechnet, nur nicht mit sich selbst.“ Am Ende der Aufzeichnungen heißt es: „Das Phänomen Georgien ist die vermeintliche Nähe, die sich erst auf den zweiten Blick als Fremde herausstellt, die wieder zur Nähe wird (werden kann).“ Georgien, dieses sagenumwobene und erst durch den Bürgerkrieg und Schewardnadse, den Außenminister Gorbatschows und späteren georgischen Präsidenten, ins westliche Bewusstsein getretene Land, ist die absolute Fremde, weil die vertrauten Verlässlichkeiten (Elektrizität, Straßen, medizinische Versorgung) kaum vorhanden sind oder gar nicht, und weil die Kommunikationsformen (Frage, Antwort, Verabredungen) so anders sind, dass der Reisende aus dem Westen seine Herkunft vergessen, zum Verschwinden bringen muss. Weshalb Georgien? Vielleicht spielte die Suche nach den Wurzeln der eigenen Herkunft eine Rolle, der Familienmythos vom kaukasischen Ururgroßvater. Aber der Anlass war zunächst nur ein internationaler Schriftstellerkongress in Tiflis, im Juni 1995. Clemens Eich kam angeregt und erfüllt von dieser Reise zurück. Irgendetwas war ihm nahe gekommen, und er nahm sich vor, es näher zu erkunden. Im Februar 1997, im schlimmsten Winter, kehrte er nach Georgien zurück. Und jetzt wurde die Nähe zur Fremde. Eines Nachts, als er vom Bett aufstand und hinauswollte, prallte er, umgeben von rabenschwarzer Dunkelheit (es gab keinen Strom in dieser Nacht), gegen den Türpfosten und verletzte sich am Auge. Damit beginnen die georgischen Aufzeichnungen. Erschrocken, aber unentmutigt reiste Clemens Eich im Sommer 1997 zu einem dritten Besuch nach Georgien, unternahm in Begleitung eines Fahrers, der zugleich Dolmetscher und vielleicht auch Mitarbeiter des Geheimdienstes war, eine lange Reise in die unwegsamen Regionen des Kaukasus, in die verbrannte Erde der Zivilisation, in die ländlichen Gebiete einer anderen Zeit, zu den Gedenkstätten des immer noch verehrten Dschugaschwili alias Stalin. Eine Reise in die Finsternis eines fernen Landes und in die Finsternis der eigenen Seele. Davon erzählt das Buch. Georgien wird zu einer Erfahrung, in der wieder, wie schon im Steinernen Meer, die Grenze durch all sein Denken und Schreiben hindurchgeht, hier die Grenze zwischen Innen und Außen, Nähe und Ferne, Okzident und Orient, Neuzeit und Stammeskultur. Clemens Eich selber war eine Figur auf der Grenze und zwischen den Zeiten. Geboren 1954 war er kein Achtundsechziger mehr, aber noch keiner von den neuen Tüchtigen und Unbedenklichen. Er war Deutscher und Österreicher. Er lebte in Hamburg, und er lebte in Wien. Er gehörte weder ganz hierhin, noch ganz dorthin. Alle diese Grenzen gingen mitten durch Clemens Eich hindurch. Und die letzte Grenze, um die es ihm ging, ist die zwischen Ich und Ich. Das Motto des Romans Das steinerne Meer ist der Satz des Holofernes bei Nestroy: „Ich möcht‘ mich einmal mit mir selbst zusammenhetzen, nur um zu sehen, wer der Stärkere is, ich oder ich.“ Das ist komisch, aber es ist nicht komisch. Eines der schönsten Gedichte von Clemens Eich trägt den Titel Als ich dich umbrachte, Indianerbruder, und es lautet: Wir mit den Fischerstiefeln Lesen wir das Gedicht genau, so sehen wir: zwar handelt es sich um einen Zweikampf, aber es geht um nur eine einzige Person, um eine gespaltene. Der Kämpfende kämpft mit sich selber. Die Stiefel im Wasser, verstrickt in die Brombeeren, nimmt er Abschied von der Kindheit. Den Indianerbruder bringt er um, den pubertären Teil seines Ichs. Ihm blickt er ins Weiße des Auges, zum letzten Mal. Ringend mit sich selber, verlässt er festen Boden und wagt sich vom Ufer weg ins Ungewisse. Die Erfahrung, von der das Gedicht berichtet, ist schmerzlich. Erwachsen zu werden, heißt, viele kleine Tode zu überleben. Aber Clemens Eich treibt keinen Aufwand damit. Pathos liegt ihm fern. Eine jugendliche Leichtfüßigkeit treibt den Rhythmus an, der sich beschleunigt, von der ersten und längsten Zeile bis zur letzten und kürzesten. Clemens Eich erzählt von der Mühe, leben zu lernen und erwachsen zu sein, von einer Mühe also, die keinem von uns fremd ist, und sei er noch so tüchtig. Aber Eich kultiviert nicht den ewigen Zorn der Jungen gegen die Alten. Sein Ton ist der einer plötzlichen Verwunderung, eines überraschten Gewahrwerdens, eines nachhaltigen Erschreckens. Und dennoch, trotz des Blickes ins Weiße des Auges, ist seine Sprache von erstaunlicher Leichtigkeit und Klarheit, ist sie musikalisch und beherrscht, schreckensstarr und beweglich. Sie zeigt die schlafwandlerische Zielstrebigkeit, die zeitlupenhafte Verlangsamung eines Träumers bei wachem Verstand. Clemens Eich, der im Begriff stand, in die erste Reihe der deutschen Autoren zu treten, ist von heute auf morgen verschwunden. Seine Werke bleiben. Das Verschwinden war eine Grundfigur, eine Grundfantasie seines Lebens und Schreibens. Leben lernen heißt ein Gedicht, und es lautet: Fristen tätig rasten Das Gedicht entstammt der Sammlung Aufstehn und Gehn, einer Zeit also, da Clemens Eich Mitte Zwanzig war. Seine erfolgversprechende Laufbahn als Schauspieler gab er kurz danach auf, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Hier fand er seinen Ort, seine Heimat, und je länger er schrieb, umso sichtbarer wurden seine Begabung und seine Meisterschaft. Alles spricht für die Annahme, dass die Literaturkritik und die Leser in Clemens Eich, hätte er hinreichend Zeit gehabt, einen der wichtigen Autoren deutscher Sprache erblickt hätten. Er hatte diese Zeit nicht. Aber wir nun haben zu unserem Glück diese Ausgabe der gesammelten Werke. Sie enthält neben den zu Lebzeiten erschienenen Büchern unveröffentlichte Texte: Das 1984 geschriebene Theaterstück So, das als Typoskript überliefert ist, sowie fünfzig Gedichte aus dem Nachlass, darunter die „Sechs Gedichte für Papa“, die Clemens Eich 1967, im zarten Alter von 13 Jahren, für seinen Vater Günter Eich geschrieben hat. Die Gedichte sind in der überwiegenden Mehrzahl maschinenschriftlich vorhanden, so dass es keine Probleme der Lesbarkeit gab (einige davon waren in Zeitschriften erschienen). Gut lesbar sind aber auch die handschriftlichen Texte, denn Clemens Eich schrieb in einer kleinen, kalligrafisch klaren Schrift. Natürlich enthält die Ausgabe die 1999 aus dem Nachlass herausgegebenen Aufzeichnungen aus Georgien. Obwohl wichtige Teile fehlen, etwa das schon vorbereitete Kapitel über Stalin, haben wir es mit einem gewissermaßen abgeschlossenen Fragment zu tun. Der vorliegende Text zeigt die fertige Niederschrift bis zu ihrem Abbruch. Es folgen die Stichworte, Aphorismen, Beobachtungen aus den Notizheften. Die Sichtung und Ordnung des Nachlasses besorgte Elisabeth Eich. Im gemeinsamen Gespräch mit ihr und dem Verlag ist diese Ausgabe entstanden. Beiden sei herzlich gedankt.
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