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Ulrich Greiner

Leben, Freiheit, Glück
"Unabhängigkeitstag": In Richard Fords neuem Roman geht der Immobilienmakler Frank Bascombe auf die Suche nach den Werten Amerikas

Richard Fords Roman rollt wie ein sturmerprobter Dreimaster auf der Dünung dieser bewegten Jahre, und die leichte Brise einer neuen Zuversicht treibt ihn dem Hafen eines guten Endes entgegen. Frank Bascombe, 44 Jahre alt, geschieden von Ann und inzwischen versöhnt mit ihr, aufs neue (nach manchen Wirrungen) verliebt in Sally, hat den aufreibenden, fast tragisch endenden Wochenendausflug mit seinem Sohn glücklich hinter sich gebracht und begeht nun Amerikas heiligsten Tag, den Independence Day, zu Hause in Haddam, New Jersey - allein, aber nicht einsam, erschöpft, aber hoffnungsvoll. Die Parade marschiert mit Trommeln und Trompeten vorbei, das Sternenbanner vorweg. Feiertage sind Krisentage, und dieser ist noch einmal gutgegangen.

Da ist er wieder, Frank Bascombe, abgebrochener Schriftsteller, abgebrochener Sportreponer, nunmehr Immobilienmakler in bescheidenem Wohlstand. Wir kennen ihn aus Fords erstem Bascombe-Roman Der Sportreporter (1986, deutsch 1989). Immer noch fließt ihm von Zeit zu Zeit das Herz über, und dann möchte er alle Menschen umarmen. Immer noch ist er, wenn es ernst wird, ein Hasenfuß, und dann fürchtet er sich vor allzu großer Nähe. Immer noch schwadroniert er mit seiner Küchenphilosophie daher, mal weise, mal sentimental, eine Plaudertasche mit Tiefgang, ein melancholischer Optimist.

Diesmal jedoch schickt Richard Ford seinen Mittelstandshelden auf eine größere Reise (obwohl sie nur vier Tage dauert), und er vertraut ihm eine bedeutendere Fracht an. Denn der Unabhängigkeitstag ist der Tag der amerikanischen Verheißung: "Wir erachten diese Wahrheiten als selbstverständlich: Daß alle Menschen gleich erschaffen sind, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt sind und daß zu diesen das Leben, die Freiheit und das Streben nach Glück gehören." So schrieb es Thomas Jefferson am 4. Juli 1776.

Kann das gutgehen? fst das nicht ein Konzept, an dem zuletzt der sozialistische Realismus gescheitert ist - das Gesellschaftliche im Individuum, das Typische in der Kontingenz, das Beispielhafte im Zufälligen darzustellen? Wäre es denn möglich, den "großen amerikanischen Roman unsererZeit" zu schreiben (so ein amerikanischer Rezensent)?

Es geht glanzvoll. Ford macht es möglich. Zwar segelt er in der Tat den guten alten realistischen Dreimaster - erstens der Held (Exposition), zweitens Scheitern und Krise (Durchführung), drittens Läuterung und Heimkehr (Finale) - aber die Segel sind buntscheckig und geflickt, die Mannschaft ist verschroben und nicht sehr seetüchtig, der Kapitän ist trunken vor lauter Ideen und folgt jedem windigen Einfall. Und doch, nach mancherlei Irrfahrt, leicht schlingernd, aber mit vollen Segeln, kommt er ans Ziel.

Selten hat ein Autor solch schwere Themen (life, liberty, and the pursuit of happiness) derart leichtfüßig angepackt, derart beiläufig, daß es oftmals den Anschein hat, er lasse sie liegen. Zum Beispiel Alexis de Tocqueville. Das berühmteste Buch, das je über Amerika geschrieben wurde, stammt von ihm (1840). Wie geht Ford damit um? Frank, bevor er sich zu seinem Sohn aufmacht, besucht noch rasch seine Freundin Sally, erledigt vorher ebenfalls rasch noch ein paar andere Dinge, die so ganz nebenbei rätselhaft spannende 200 Seiten ergeben. Es ist Freitag abend, Sally noch unterwegs. Frank hat den Schlüssel zu ihrem Haus am Strand von New Jersey. Erschöpft von einem anstrengenden Besichtigungstermin mit den Markhams, einem Paar, das mit der Verzweiflung der Unentschlossenen und bis an den Rand der Ehekrise ein Haus sucht; ermüdet von einem Routinebesuch bei Karl Bemish, seines Zeichens Geschäftsführer und Partner einer gut frequentierten Imbißbude, die zur Hauptsache Frank gehört; etwas nervös wegen des baldigen Eintreffens von Sally (mit der er neuerdings nicht ganz klarkommt) und wegen des bevorstehenden Ausfluges mit seinem Sohn Paul (den er lange nicht gesehen hat), läßt sich Frank im Gästezimmer nieder.

Auf dem Nachttisch liegen Manschettenknöpfe und Tocqueville. Die Manschettenknöpfe lassen ihn darüber grübeln, ob Sally einen zweiten Geliebten hat, und den Tocqueville benutzt er zum Einschlafen. "Auf dem Rücken liegend, das Buch auf richtige Leseentfernung haltend, schlage ich es aufs Geratewohl auf und fange an zu lesen, um zu sehen, wie viele Sekunden vergehen, bevor mir die Augen zufallen, die Arme nach unten sinken und ich selbst von der kissenweichen Klippe ins Traumland stürze." Er liest ein paar Sätze und findet: "Sogar zu langweilig, um es zu verschlafen." Die Stelle, wo er seinen Leseversuch abbricht, lautet: "Es gibt keine Amerikaner, die nicht von der Begierde nach Aufstieg verzehrt würden; man sieht aber fast keine, die große Hoffnungen hegen oder hehre Ziele anstreben." Das ist ziemlich genau Franks Problem. Streben nach Glück bedeutet für ihn (und auch für Sally) zuallererst die Verwirklichung eigenen Glücks, der Religion des Individualismus gehorsam, während ein hehres Ziel im Sinne von Tocqueville darin bestünde, das eigene Streben in den Dienst eines Allgemeinen oder Übergeordneten zu stellen.

Frank erwacht aus einem unruhigen Schlaf und geht nach unten, wo Sally im Abendlicht auf der Terrasse sitzt. Die folgenden zwanzig Seiten gehören zu den schönsten des Romans, weil Ford hier den intimen Vorgang einer gescheiterten Liebesbegegnung derart fein entfaltet, daß wir ihn zugleich als politischen Vorgang verstehen können. Ford zeigt den vergeblichen Versuch zweier Menschen, die doch nichts anderes haben wollen als einen netten Abend samt befriedigendem Beischlaf, aus ihrer monadischen Existenz herauszutreten und sich selbst im Gegenüber zu finden.

Frank steht im Türrahmen. "Plötzlich möchte ich sie unbedingt küssen, sie an der Schulter oder der Taille oder sonstwo berühren, den Duft ihrer süßen, eingehüllten Haut an diesem warmen Abend einatmen. Also tapse ich polter-polter über die knarrenden Dielen, beuge mich unbeholfen nach unten wie ein zu groß geratener Doktor, der mit dem nackten Ohr einen Herzschlag sucht, und pflanze ihr auf Wange und Hals einen Kuß, der meinetwegen zu fast allem führen könnte. 'He, laß das', sagt sie nur halb im Scherz, als ich den exotischen Duft ihres Nackens einatme." Frank zieht sich zurück und denkt: "Am liebsten wäre mir, nicht jetzt oder in zwei Minuten rigorose, männliche, den Abend beendende Liebe zu machen, sondern sie schon gemacht zu haben. Ich will sie als getane, und zwar als gut getane Arbeit in meiner Akte verzeichnet haben. Und ich will, daß zwischen uns das träge, freundschaftliche Nachbehagen der Liebe herrscht."

Das folgende, immer matter und zugleich gereizter werdende Gespräch dreht sich um die Frage, worauf man eigentlich im Leben wartet. "Ich wüßte nicht, worauf", sagt Frank. Sally: "Where's the good part in anything if you don't think something good's coming, or you 're going to get a prize at the end? What's the good mystery?" Frank: "The good mystery's how long anything can go on the way it is. That's enough for me." Fredeke Arnim, die Übersetzerin, faßt das so: "Was ist denn das Gute an irgendwas, wenn man nicht denkt, daß was Gutes passieren wird oder man am Ende einen Preis kriegt? Wo ist denn da das Geheimnis?" - "Das Geheimnis ist, wie lange etwas so weitergehen kann, wie es ist. Für mich ist das genug." Das ist nicht gerade falsch, aber diesen lauen Verlegenheitston, diese Sprache knapp neben dem Gemeinten, trifft Arnim nicht. Öfter erscheinen bei ihr steife, umständliche Sätze, während das Original jenen alltäglichen Small talk kunstvoll reproduziert, der einem meist dann zur Hand ist, wenn etwas nicht stimmt. Ein Äquivalent wäre vielleicht der Eckhard-Henscheid-Sound ("Geht in Ordnung - sowieso -- genau ---"), aber das ist natürlich wieder sehr deutsch, und Fredeke Arnims Aufgabe, die sie alles in allem anständig gelöst hat, war wirklich nicht leicht.

Die latente, böse Spannung, die unter diesem Gerede liegt, kommt ja daher, daß Sally und Frank voneinander erhoffen, der andere möge ins Ungeschützte treten, sich preisgeben und die Liebe zu einem Rausch machen. Statt dessen sagt Frank: "Nicht zu übertreiben ist eine Möglichkeit, sicherzustellen, daß es nichts gibt, worüber ich mich beklagen müßte." Pursuit of happiness: Hier also ist die Verheißung gestrandet, am kleingläubigen, das Risiko scheuenden Solipsismus, der, wie es einmal heißt, nur noch eine "Simulation von Leben" gestattet. Das amerikanische Lernprogramm, dem Frank entkommen will, lautet: "Ich allein bin für immer verantwortlich für alles, was mein Ich betrifft." ("I alone would go on being responsible for everything that had me in it.") Und dann natürlich, auf dem Tiefpunkt seiner Grübeleien, kommt Frank zu dem vernichtenden Ergebnis: "Wir sind nicht glücklich, wir wissen nicht warum, und der Versuch, es besser zu machen, treibt uns in den Wahnsinn." Auch das trifft nicht den Ton: "We drive ourselves loony trying to get better" heißt eher: "Wir machen uns verrückt damit, es besser haben zu wollen."

Aber das ist nur der halbe Frank. Später, nach der langen Nachtfahrt durch dichten Wochenendverkehr, kommt er in ein Motel und verzettelt sich in ein Gespräch mit einem schwarzen Lastwagenfahrer. Plötzlich geht ihm das Herz über. Völlig übermüdet und voller Bedauern über den mißglückten Abend mit Sally, empfindet er die Begegnung mit diesem maulfaulen, fetten Kerl aus Kalifornien als den Gleichklang zweier Seelen, als menschheitsverbrüdernden Augenblick: "Alles um einen herum scheint plötzlich zu glitzern, und alles, was man tut, scheint von einem warmen, unsichtbaren Astralstrahl geleitet zu werden, der von einem Punkt im All ausgeht, der zu weit entfernt ist, als daß man ihn lokalisieren könnte, der einen aber - wenn es einem gelingt, ihm zu folgen und ihn ständig im Blick zu behalten - zu dem Ort führt, an dem man unbedingt sein möchte." Transzendentale Reflexion auf dem Motelparkplatz - das hat eine bizarre Komik. Ford liebt seinen Helden. Niemals distanziert er sich von ihm mit den Mitteln einer schlauen Ironie. Immer, wenn die Gefahr besteht, Franks haltlose Schwärmereien könnten ins Abseits trudeln, wechselt Ford die Tonlage, sorgt er für einen Wendepunkt der Geschichte. Und immer, wenn Frank allzu philosophisch und tiefsinnig wird, sind Komik und Irritation nicht weit.

Wenn Frank endlich mit seinem Sohn unterwegs ist, traktiert er ihn mit Jefferson und Emerson. Paul, mitten in der dicksten Pubertät, schnappt sich den Emerson, der demonstrativ auf dem Rücksitz liegt, liest laut ein paar Sätze vor, kommentiert sie blödelnd, und als ihn der Vater mißbilligend auf die Bedeutung der Passage hinweist, reißt Paul die Seite aus dem geliebten Emerson heraus, faltet sie zusammen und steckt sie in die Hosentasche. Frank: "Ich fühlte mich leer vor Empörung und Trauer." Dieses Wochenende, gedacht als erziehungsfördernde und vertrauensbildende Maßnahme, erweist sich als ein Entwicklungsroman, in dessen Mittelpunkt das große Kind Frank Bascombe selber steht. Independence - Unabhängigkeit, Selbstbewußtsein, Freiheit - das will er seinem Sohn beibringen, er muß aber erst lernen, daß alle diese Ziele nichts sind, wenn sie sich nicht verbinden mit Verantwortung für den Nächsten, mit dem Verzicht auf jenes Programm schrankenloser Selbstverwirklichung, als das Jeffersons Sätze mißverstanden können. Sätze übrigens, die bei Ford niemals zitiert werden. Life, liberty and the pursuit of happiness - das ist nicht alles. Was fehlt, ist die Liebe. In einem hellsichtigen Augenblick, als Frank über sein Verhältnis zu Sally nachdenkt, sagt er sich: "Ich muß die belastende Frage: 'Warum liebe ich dich nicht?' umformulieren in das bessere, leichter zu beantwortende 'Wie kann ich dich lieben?'"

Das Erstaunliche an diesem wunderbaren Roman ist die Untertreibung, mit der er das Amerika-Thema, die Menschheitsfrage nach dem wahren Leben behandelt. Die fast 600 Seiten werden ausschließlich aus der Perspektive Franks erzählt, in inneren Monologen und frei fliegenden Reflexionen, in Erinnerungen, ausufernden Gesprächen und absurden Dialogen am Telephon. Hier, etwa in einer Telephonzelle auf der Raststätte oder im Motel, ereignen sich die intimsten Geständnisse, die verräterischsten Mißverständnisse und die philosophischsten Erkenntnisse. Ford läßt seinen Helden bis ins Aschgraue faseln und quatschen, ohne ihn je bloßzustellen. Und immer wieder hebt Frank das arme, verwirrte Haupt, findet Trost beim Anblick eines Steaks oder seines friedlich futternden Sohnes, und sogleich fällt ihm eine jener Sentenzen ein, die ihm selten ausgehen: "Es gibt kein falsches Gefühl des Wohlbefindens." ("There's no such thing as a false sense of well-being" - das klingt wie eine Antwort auf Adornos berühmtes Diktum "Es gibt kein wahres Leben im falschen".) Wir haben es hier also weder mit einem kapitalistischen noch sonst einem Allerweltsrealismus zu tun, sondern mit einer frei flottierenden Faselei, die den Anschein abschweifender Willkür erweckt, in Wahrheit aber sehr genau austariert ist und ihren Weg niemals aus dem Auge verliert. Mag er auch im Zickzack verlaufen - er führt uns durch die ganze Welt Amerikas: vom Immobilienhandel bis zu John Adams, von der Hall of Fame des Basketballs bis zum Faschismus des Privatpolizisten, vom Autobahnrastplatz bis zu den letzten Fragen von Leben und Sterben.

Richard Ford hat mit dem Unabhängigkeitstag eine neue Qualität seines Schreibens erreicht. Während etwa sein früher Roman Verdammtes Glück (1981) noch mit den Mustern des Agenten- und des Westernromans spielt, während seine eindrucksvoll lakonischen Short stories Rock Springs an seinen Freund Raymond Carver erinnern, hat dieser Roman eine ganz eigene Melodie, freier und reicher als alles, was Ford bislang veröffentlicht hat, den Sportreporter eingeschlossen.

Natürlich liegt der Vergleich mit John Updike nahe. Harry Angstrom, genannt Rabbit, ist Updikes genialer Held des Banalen, der die Gereiztheiten und Hochgefühle des weißen amerikanischen Mittelstandes getreulich verkörpert. Aber abgesehen vom Unterschied der Generationen (Ford ist 51, Updike 73 Jahre alt), gibt es einen literarischen: Updike ist der Erzähler, Rabbit sein Objekt (das führt gelegentlich zur Schlüssellochperspektive). Bei Ford hingegen gibt es zwischen Erzähler und Held keine Differenz. Alles, was wir erfahren, erfahren wir von Frank. Und wenn wir europäische Leser uns gelegentlich fragen, weshalb ein Immobilienmakler Emerson liest, so müssen wir uns vor Augen halten, daß erstens das staatsbürgerliche, quasi lebensphilosophische Räsonnement in Amerika eine größere Verbreitung hat als hier und daß zweitens die typische amerikanische Karriere nicht die vom Tellerwäscher zum Millionär ist, sondern die vom Ladenbauer zum Bäcker zum Busfahrer oder eben die vom Schriftsteller zum Sportreporter zum Immobilienmakler.

Unvermeidlich ist Ford moderner als Updike. lhn interessiert kein Tabubruch mehr (den Updike etwa in den Ehepaaren bravourös begangen hat), ihn beschäftigt nicht mehr die Verunsicherung des weißen anglosächsischen Amerikas durch die Kulturrevolution der sechziger Jahre, wie sie Updike in Rabbit Redux (deutsch Unter dem Astronautenmond, 1973) gezeigt hat. Fords Amerika ist derart in Bewegung, daß die alten Gewißheiten kaum mehr erinnerlich sind. Das angestammte Selbstbewußtsein eines Harry Angstrom hat Frank Bascombe nie besessen. Und deshalb macht er sich, halb absichtsvoll, halb unbewußt auf, um den Independence Day nicht nur zu feiern, sondern ihm auf den Grund zu gehen - auf der Suche nach den ursprünglichen Werten Amerikas, nach den Wurzeln seiner selbst und seiner Nation. Daß dieses pathetisch-patriotische Projekt weder im Kitsch erstickt noch im Leitartikel - das ist ein Kunststück. Ford sei Dank.

Richard Ford: Unabhängigkeitstag; aus dem Amerikanischen von Fredeke Arnim; Berlin Verlag, Berlin 1995

Erschienen in der ZEIT vom 3. November 1995


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