Das himmlische Kind
Über Hemingway, aus Anlass seines 100.Geburtstages
Ernest Miller Hemingway war der berühmteste Schriftsteller seiner Zeit, und jeder, der in den fünfziger, sechziger Jahren wirklich jung gewesen ist, hat ihn gelesen. Wahrscheinlich hat er uns alle beeinflußt, Männer wie Frauen, aber die Männer hat er gelehrt, Sentimentalität durch Lakonie zu bändigen und sich der Tränen nicht zu schämen. Anders als der Männlichkeitskult es will, dessen willfähriges Opfer Hemingway war, zeigt er in seinen Büchern, dass man manche Dinge (wie den Tod zum Beispiel) akzeptieren sollte und dass man nicht immerzu kämpfen muss. Er erzählt von der Würde der Hingabe und der Niederlage. Am Ende seines Kampfes mit dem Fisch denkt der alte Mann: „Es ist einfach, wenn man geschlagen ist. Ich wusste nie, wie einfach es ist.“ (Der alte Mann und das Meer, The Old Man and the Sea, 1952)
Nicht selten erinnert man sich an die Bücher der frühen Jahre, als die Gefühle noch frisch und heftig waren, wie an eine ferne Schwäche. Heute, da der Mythos Hemingway verblasst ist, erscheint er als der männermilde Abglanz einer heroischen, hoffnungslos vormodernen Jugend, über die man besser schweigt. Selbst im historischen Abstand noch überlagert das Bild des wilden Mannes, das Hemingway prahlerisch von sich selber zu verbreiten pflegte, die Eigenart seines literarischen Werkes. Es ist von der zarten Zuversicht des Kindes erfüllt, das hofft, die Dinge möchten sich zum Besseren wenden, und von der tiefen Trauer des Erwachsenen, der weiß, dass sie es zumeist nicht tun. „Die Welt zerbricht jeden, und nachher sind viele an den zerbrochenen Stellen stark. Aber die, die nicht zerbrechen wollen, die tötet sie. Sie tötet die sehr Guten und die sehr Feinen und die sehr Mutigen; ohne Unterschied.“ Das sagt Frederic Henry, der junge Held des Romans In einem andern Land (A Farewell to Arms, 1929).
Wer Hemingway heute liest, der sieht mit neuen Augen, dass er ein wahrhaft großer Schriftsteller war, und er sieht, dass viele, die nach ihm kamen, einiges von ihm gelernt und übernommen haben - die Kunst des Weglassens zum Beispiel, die Antipsychologie, die berühmten Dialoge, die redselig im Uneigentlichen und wortkarg im Wesentlichen sind. Aber während seine Nachfolger diese Stilmittel oftmals berechnend einsetzen, scheinen sie bei ihm absichtslos, unschuldig und dadurch erst wirkungsvoll.
Er war, wie Hans-Peter Rodenberg in seiner neuen Monografie schreibt, der erste Schriftsteller-Star. Jede Affäre, jede Sauftour, jeder Schritt, den er tut, wird von Reportern und Fotografen bewacht. Und jeder Roman, den er veröffentlicht, wird ein Bestseller. Aber mit seinem Ruhm wächst sein Unglück. Je mehr er schreibt, desto weniger kann er schreiben. Am Morgen des 2. Juli 1961 bringt er sich um. Er richtet das Gewehr gegen sich selber und schießt sich die Schädeldecke weg. Da war er knapp 62 Jahre alt.
Der jetzt (1999) aus dem Nachlass erschienene Roman Die Wahrheit im Morgenlicht (True at First Light) befestigt noch einmal die Legende vom großen Jäger, Trinker und Liebhaber der Frauen. Zugleich zeigt er einen Mann, der unter Schlaflosigkeit und bösen Träumen leidet. Sarkastisch betrachtet er sein Spiegelbild: „Rasiert sah mein Schädel leider aus wie die plastisch-historische Darstellung eines sehr untergegangenen Stammes.“ Tapfer kämpft er gegen namenlose Ängste und redet sich Mut zu: „Die angeblich dunklen Stunden der Seele, in denen es immer drei Uhr morgens ist, sind die besten Stunden eines Mannes, wenn er nicht gerade Alkoholiker ist oder Angst vor der Nacht und dem kommenden Tag hat.“ Vom Alkoholiker war er nicht weit entfernt, und Angst vor der Nacht hatte er oft, am Ende auch vor dem kommenden Tag.
Der Deserteur Frederic Henry begegnet kurz vor seiner Flucht in die Schweiz einem greisen italienischen Grafen. In Stresa spielen sie Billard miteinander, trinken naturgemäß und unterhalten sich über einen Roman, den der Graf kürzlich gelesen hat. Er sagt:
„Es ist eine sehr gute Studie über die Seele des englischen Spießbürgers.“
„Ich weiß nichts von der Seele.“
„Mein armer Junge. Wir alle wissen nichts von der Seele. Sind sie gläubig?“
„Nachts.“
Graf Greffi lächelte und drehte sein Glas zwischen den Fingern. „Ich hatte erwartet, mit zunehmendem Alter frömmer zu werden, aber irgendwie wurde ich es nicht“, sagte er. „Es ist sehr schade.“
An einer früheren Stelle des Romans bekennt Henry, dass er sich nachts vor Gott fürchte. So fürchten sich Kinder, wenn sie an die Allwissenheit Gottes denken. In Fiesta (The Sun Also Rises, 1926) heißt es: „Es ist furchtbar leicht, am Tag über alles erhaben zu sein, aber nachts, mein Gott, ist es was ganz anderes.“
In dem neuen Buch bekommt das Wort Morgengrauen einen Beigeschmack von Wahrheit. Eine stille Angst durchzittert die mannhaften Geschichten von Löwenjagd und Seitensprung. Und in den scheinbar entspannten, von Liebesbekundungen geschmückten Dialogen zwischen Hemingway und Mary, seiner letzten Frau, lauern Anspannung und Aggressivität. Ansonsten kann man die Tatsache, dass Hemingways Sohn Patrick vierzig Jahre danach aus einem Konvolut von 800 Seiten die eine Hälfte gestrichen und die andere ohne editorischen Kommentar zum Druck befördert hat, nur als einen späten und nicht sehr subtilen Akt der Rache bezeichnen. In diesem unverhüllt autobiographischen und vom Autor aufgegebenen Text erscheint der Künstler Hemingway nur noch als ein Schatten seiner selbst. Seitenlang faselt er haltlos dahin, als hätte er wirklich zuviel getrunken. „Bier vor oder zum Frühstück war eine feine Sache, aber es machte einen langsamer, wenn auch vielleicht nur um eine tausendstel Sekunde. Andererseits ließ es manche Dinge besser erscheinen, die gar nicht so gut waren.“
Immer wieder jedoch gibt es ergreifend schöne Passagen. Sie gelingen, wenn er konzentriert ist, die Dinge klar und in ihrer Besonderheit sieht, und er macht sich Vorwürfe wegen seiner Unaufmerksamkeit. Einmal sitzt er vorm Zelt und merkt, dass er schon die ganze Zeit prachtvolle Vögel gesehen hat, ohne sie zu wahrzunehmen. „Dieses Sehen und doch nicht Sehen war eine große Sünde, dachte ich, und eine, die man leicht beging. Es war immer der Anfang von etwas Schlechtem, und ich dachte, das wir es nicht verdienten, in der Welt zu leben, wenn wir sie nicht wahrnahmen.“
Hemingways Darstellungskunst, das schmucklose, parataktische Benennen der Gegenstände und Geschehnisse, stammt aus jener Zeit, als der geschriebene Journalismus noch nicht mit dem Fernsehen konkurrierte und noch nicht in die Phase des schlechten Feuilletonismus eingetreten war. Einer seiner Zeitungsberichte aus dem Spanischen Bürgerkrieg beginnt so:
„Das Geräusch kam von den grünen Pinienhügeln auf der anderen Seite her. An der Front, die hier zwei Kilometer entfernt ist, hörte es sich wie ein schweres Husten an. Man erkannte die Stellung der faschistischen Batterien nur an den grauen Rauchfahnen. Dann rauschte es heran, als haspelte ein Ballen Seide ab. Da draußen kümmerte sich keiner darum. Es ging drüberhinweg in die Stadt hinein. Aber in Madrid war Sonntag, und die Straßen waren voller Spaziergänger, und die Granaten kamen, und es gab einen kurzen Blitz wie von einem Kurzschluß, und dann kam das Röhren und das Krachen von fallendem Schutt. Während des Morgens wurde Madrid von 22 Granaten getroffen. Sie töteten eine alte Frau, die vom Markt kam und nach Hause ging. Was von ihr liegen blieb, war ein Knäuel schwarzer Kleider. Ein Bein war gegen die Wand des nächsten Hauses geflogen.“
Die Inszenierunsgabsicht für Zeitungszwecke, die man hier noch spürt, wird in der literarischen Prosa unsichtbar. In dem Roman Die grünen Hügel Afrikas (The Green Hills of Africa, 1935) findet sich die bizarre Begegnung zwischen Hemingway und einem Österreicher. Sie plaudern über Literatur, Hemingway wendet sich gegen „Rhetorik“ und sagt: „Ich kann Schriftsteller nur lesen, wenn sie außergewöhnlich exakt und unliterarisch sind.“ Dieses „unliterarische“ Schreiben geht zum Beispiel so:
„Im Spätsommer jenes Jahres lebten wir in einem Haus, das über den Fluss und die Ebene zu den Bergen hinaufsah. Im Flussbett lagen Kieselseine und Geröll trocken und weiß in der Sonne, und in den Stromrinnen war das Wasser klar und reißend und blau. Truppen marschierten an unserem Haus vorbei und die Straße hinunter, und der Staub, der von ihnen aufgewirbelt wurde, puderte die Blätter der Bäume. Auch die Stämme der Bäume waren bestaubt, und die Blätter fielen in jenem Jahr früh ab, und wir sahen die Truppen auf der Straße vorbeimarschieren und den Staub aufsteigen und die vom Wind geschüttelten Blätter abfallen und die Soldaten marschieren und die Straße nachher leer und weiß bis auf die Blätter.“
So beginnt der Roman In einem andern Land. Es scheint, als wären Hemingway jene Lehrer erspart geblieben, die an den Rand der Aufsatzhefte „Wiederholung!“ schreiben und mit ihren Schülern den „treffenden Ausdruck“ üben, der zumeist nur gestelzt ist.
Über eines seiner schönsten Prosastücke, Großer doppelherziger Strom, hat der Hemingway-Biograph Kenneth S. Lynn bemerkt, der Autor habe hier etwas Ungewöhnliches erreicht: Eine Erzählung zu schreiben, in der nichts geschehe, und sie mit einer inneren Dramatik von ungeheurer Intensität auszustatten. Die innere Dramatik entsteht aus dem Widerspruch zwischen zwischen seelischen und äußeren Vorgängen. Beide Vorgänge sind im alltäglichen Leben zumeist voneinander getrennt, und nur die Literatur stiftet den Zusammenhang. Hemingway tut das nicht. So kommt er zu der seltsamen Form seiner Romane, die klassischer Entwicklungslogik widersprechen.
In Fiesta wechseln die Schauplätze und Erzählrhythmen scheinbar willkürlich. Der Gang der Dinge wird allein durch die tragisch unerfüllbare Liebe zwischen Jake Barnes und der männerverschlingenden Lady Brett bestimmt, und das Ende ist eigentlich keins: Alles beginnt von vorn. Der Roman In einem andern Land gleicht einer Wanderung von der turbulenten Ebene in die stillen Regionen des Gebirges, und mit dem wachsenden Ernst der Liebe zwischen Frederic Henry und der Krankenschwester wird die Geschichte immer langsamer, bis sie versiegt. Catherine stirbt, mit ihr das Baby, und der Held wandert hinaus in den Regen. Kein Ende, oder: Das Ende war von Anfang an.
Und so entstehen die seltsamen Löcher seiner Texte. Die Menschen reden miteinander das verworrenste und trivialste Zeug, und manchmal sind mittendrin in der Sache, manchmal völlig daneben. Die Dramen der Seele finden nur selten Ausdruck. Dort, wo er sie unmittelbar anspricht, zumeist im Dialog oder im inneren Monolog, ist Hemingway schlichtweg genial - oder einfach nur banal. Und dort, wo sie ausgespart bleiben, lastet die Spannung des Unausgesprochenen. Es scheint, als hätte Hemingway keine Macht darüber gehabt. Auch er, wie Frederic Henry, „verstand“ nichts von der Seele. Nicht aus Dummheit, sondern weil er ein weises altes Kind war, ein himmlisches Kind, das sich auf Erden, trotz aller Tüchtigkeit im Jagen und Fischen, letztlich nicht zurechtfand.
Das Kindliche: Es sind die einfachen, starken Empfindungen der Gefahr, der Liebe, des Glücks. Das Kindliche ist die Sehnsucht nach diesen Empfindungen und das Erschrecken, wenn sie ausbleiben oder unklar werden. Es ist die Zynismusunfähigkeit, die auch als Anti-Intellektualismus und Verachtung von Bildungswissen erscheint. In Fiesta besichtigen zwei Männer eine spanische Kathedrale. „Cohn machte die Bemerkung, daß dies ein sehr gutes Beispiel für irgendwas sei, ich habe vergessen, wofür.“
Diese literarische Technik, die keine ist, bewirkt da, wo Hemingway Glück hat, eine große Klarheit, eine Eindringlichkeit, die den, der sich ihr öffnet, zu Tränen rühren kann. Seine großen Romane sind noch immer wirkungsvoll, gerade heutezutage, da der Feuilletonismus, also die maulfertige Metaphorik und die flaue Ironie, offenbar jedermann zu Gebote stehen. Seine Kunst besteht im Weglassen. So gut wie nie beschreibt er das Äußere jener Menschen, die ihm wichtig sind. Von Lady Brett wird einmal, als sie zusammen mit Jake durch die Gassen Pamplonas schlendert, gesagt, eine Frau habe ins Innere des Hauses gerufen, drei halbwüchsige Mädchen seien gekommen und hätten ihr nachgestarrt. Das ist alles. Beschreibungen, wie ein Zimmer aussieht, wie jemandes Kleidung ist, fehlen durchweg. Philosophische Reflexionen, verbindende Erläuterungen, Übergänge, alle Merkmale der aufwendigen romanhaften Literarisierung einer Geschichte spart er sich. „Mystizismus“, hat er einmal geschrieben (in Tod am Nachmittag, Death in the Afternoon, 1932), „setzt ein Mysterium voraus, und es gibt viele Mysterien, aber Unfähigkeit gehört nicht dazu; auch wird überhitzter Journalismus durch die Injektion einer falschen epischen Manier nicht zur Literatur. Alle schlechten Schriftsteller sind verliebt ins Epische.“
Im Grunde interessiert, genauer: quält ihn nur ein einziges Thema, und alles setzt er daran, ihm auf die Spur zu kommen. Am kürzesten hat er es in Tod am Nachmittag gefaßt: „Der Stierkampf basiert auf der Tapferkeit des Stiers, seiner Einfalt und seinem Mangel an Erfahrung.“ Man versteht den Satz erst richtig im Zusammenhang mit der Feststellung, der Stierkampf sei kein Sport, sondern eine Tragödie in drei Akten: Prozess, Verurteilung, Hinrichtung. Der Tod steht von Anfang an fest. Vor ihm sind Mensch und Tier gleich.
In diesem grandiosen Buch, das Hemingways Philosophie und Poetik enthält, gibt es ein beunruhigendes Kapitel mit der Überschrift „Eine Naturgeschichte der Toten“. Darin erzählt er einige Kriegserlebnisse, etwa davon, wie sie einmal (eine Munitionsfabrik war in die Luft geflogen) Leichenteile von den Ruinen klauben mussten. In der absolut nüchternen, protokollhaften und deshalb grauenerregenden Schilderung findet sich der Satz: „Die meisten Menschen sterben wie Tiere und nicht wie Menschen.“ Die alte Dame, mit der Hemingway fiktive Streitgespräche führt, bemerkt an einer Stelle, das seien aber traurige Geschichten, und der Autor entgegnet: „Madame, alle Geschichten enden, wenn man sie weit genug verfolgt, mit dem Tod, und der ist kein echter Geschichtenerzähler, der Ihnen das vorenthält.“
Er fand kein Mittel dagegen, auch nicht die Liebe. Er mochte die Frauen, konnte ohne sie nicht leben. Aber nicht selten steigern sich die Liebesbegegnungen seiner Romane ins himmelhoch Abstürzende und Tödliche. Vom ersten Augenblick der Liebe an ahnt man die Unmöglichkeit, das Scheitern, das Ende. Es ist, als wäre die Liebe, je weniger sie bloß sexuelle Praxis und je mehr sie wirklich Liebe ist, eine schöne Schwester des Todes. Der Liebesakt selber nimmt Züge des Auslöschens und Verschwindens an. Eine der gewaltigsten Liebesszenen der Weltliteratur steht ihn Wem die Stunde schlägt (For Whom the Bell Tolls, 1949):
„Für ihn war es ein dunkler Weg, der nach Nirgendwo führte und weiter nach Nirgendwo und abermals weiter nach Nirgendwo und noch einmal nach Nirgendwo, immer und ewig nach Nirgendwo, schwer auf die Ellbogen in die Erde gekrampft nach Nirgendwo, dunkel, ohne Ende nach Nirgendwo, hangend immer und alle Zeit nach dem bewußtlosen Nirgendwo, diesmal und immer für ewig nach Nirgendwo, unerträglich jetzt, immer wieder und immer nach Nirgendwo, unerträglich jetzt aufwärts, aufwärts, aufwärts und ins Nirgendwo, plötzlich, versengend, umfassend, und alles Nirgendwo ist dahin, und die Zeit steht still, und da waren sie beide, da die Zeit still stand, und er fühlte, wie die Erde unter ihm wich und versank.“
Ja, das ist an der Grenze, auch der sprachlichen, aber besser kann man das Unbeschreibliche nicht beschreiben. Natürlich drängt sich der psychoanalytische Verdacht auf. Die Versagensangst liegt auf der Hand. Und die biografischen Interpreten, allen voran Lynn, sind ja nicht müde geworden, über Hemingways schwierige Mutterbeziehung, seine Impotenz, seine Angst vor Homosexualität, seinen Haarfetischismus etc. zu schreiben. Und vor allem über seine unerträglichen Protzereien. Letztlich ist das nicht sehr interessant. Interessant ist nur, ob und wie es ihm gelingt, aus seiner Not große Literatur zu machen.
In der Erzählung Indianerlager rudert der junge Nick mit seinem Vater, der Gynäkologe ist, über den See zu einer Hütte, wo eine Indianerin kurz vor der Geburt steht. Ihr Mann liegt seitwärts in einer Koje. Ein Kaiserschnitt wird notwendig. Der Vater operiert ohne Betäubungsmittel. Nick wendet die Augen ab. Als die mörderische Prozedur glücklich vollendet ist, zieht der Vater dem Indianer die Decke vom Kopf, um ihm zu gratulieren. Der Mann hat sich die Kehle durchgeschnitten und liegt in seinem Blut. Auf der Heimfahrt sprechen sie darüber:
„Müssen Frauen immer so viel ausstehen, um Kinder zu bekommen?“ fragte Nick.
„Nein, das war ganz, ganz außergewöhnlich.“
„Warum hat er sich denn umgebracht, Daddy?“
„Ich weiß nicht, Nick. Wahrscheinlich konnte er es nicht aushalten.“
„Bringen sich viele Männer um, Daddy?“
„Nicht sehr viele, Nick.“
„Und Frauen?“
„Fast nie.“
„Ist Sterben schwer, Daddy?“
„Nein, ich glaube, es ist ziemlich leicht, Nick. Es kommt darauf an.“
Sie saßen im Boot, Nick im Heck; sein Vater ruderte. Die Sonne stieg über den Bergen auf. Ein Barsch schnellte hoch und machte einen Kreis im Wasser. Nick ließ seine Hand im Wasser schleifen. Es fühlte sich warm an im schneidenden Morgenfrost.
Am frühen Morgen auf dem See, als er im Heck des Bootes seinem rudernden Vater gegenüber saß, war er überzeugt davon, dass er niemals sterben würde.
Das Ungewöhnliche an Hemingway ist, dass er diesen Kinderglauben nie aufgeben konnte. Oftmals hat er den Tod auf die Probe gestellt, als wollte er es wissen. Zuletzt war es ihm wohl gleichgültig, wer gewinnen würde.
„Fisch“, sagte der alte Mann. „Fisch, du musst sowieso sterben. Musst du mich auch töten?“ Auf diese Art ist gar nichts gewonnen, dachte er. Sein Mund war zu trocken, um zu sprechen, aber er konnte jetzt nicht nach der Wasserflasche greifen. Diesmal muss ich ihn längsseits kriegen, dachte er. Viele Wendungen kann ich nicht mehr aushalten. Doch, du kannst, sagte er zu sich. Du kannst ewig aushalten. Bei der nächsten Wendung hatte er ihn beinahe. Aber wieder richtete sich der Fisch auf und schwamm langsam davon. Du tötest mich, Fisch, dachte der alte Mann. Aber dazu bist du berechtigt. Niemals habe ich etwas Größeres und Schöneres gesehen als dich, Bruder. Komm nur und töte mich. Mir ist es gleich, wer wen tötet.“
Der alte Mann tötet den Fisch, aber Sieger ist er nicht. In seinem Leben hat Hemingway es geradezu darauf angelegt, sich als Sieger zu zeigen, und am Ende hat er verloren. In seinen Büchern zeigt er die Verlierer und siegt.
P.S. Wenigen Schriftstellern vom Rang Hemingways ist solche Nachlässigkeit im Umgang mit der Textgestalt widerfahren. Nicht nur, dass die Erben seit Jahrzehnten den Nachlass räubern, wie es ihren finanziellen Interessen beliebt. Auch die zu Lebzeiten erschienenen Romane sind auf Geheiß der Lektoren und aus Angst vor der Zensur (freies Amerika!) um angeblich obszöne Ausdrücke und allzu freizügige Passagen gekürzt worden. Es kommt hinzu, dass die deutschen Übersetzungen teils lausig, teils mittelmäßig, teils unüberhörbar altmodisch sind. Zumindest das sollte man ändern.