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Ulrich Greiner Kafkas Halbbruder In Oxford liegt der Nachlaß Franz Kafkas. In Oxford lebte Sir Malcolm Pasley, einer der Herausgeber der Kafka-Ausgabe. Der hier beschriebene Besuch bei Pasley, der am 4.März 2004 verstorben ist, fand im Sommer 1992 statt. Von der Lathbury Road im Norden Oxfords bis zur Bodleian Library im Zentrum ist es ein gutes Stück zu Fuß. Von Malcolm Pasleys Wohnung bis zu jenem mit zwei Schlössern verriegelten Schrank, auf dem in goldenen Lettern ARCH.E (Archiv E) steht, ist es nur der Flug eines Gedankens, der die Arbeit von Jahrzehnten ins Ziel trägt. Der Gedanke heißt Kafka, und die Arbeit besteht darin, das Werk, das wir zu kennen glauben, in seinem ursprünglichen Wortlaut wiederherzustellen und ihm die gültige Textgestalt zu geben. Pasleys Werkstoff sind Kafkas Handschriften, die im 400 Jahre alten Duke-Humfrey-Lesesaal der Bodleiana aufbewahrt sind, und sein Arbeitsplatz ist ein kleines Erkerzimmer im Erdgeschoß seines Hauses, Lathbury Road, North Oxford. Das ist eigentlich schon alles: hier die Handschriften, dort Sir Malcolm Pasley. Und damit fängt die Geschichte erst an, die Geschichte Kafkas und seiner Wirkung. Das Schicksal der Handschriften und der Kafka-Ausgaben ist ebenso schrecklich und verworren wie die Geschichte dieses Jahrhunderts. Kafkas Erben (und also Nachlaßverwalter) wären unter normalen Umständen seine Schwestern gewesen. Alle drei wurden sie im Konzentrationslager ermordet. Am Ende einer Irrfahrt landete der größte Teil von Kafkas Nachlaß in Oxford, und Pasley, durch eine Fügung aus Zufall und Neigung, wurde sein Hüter. Das muß man erzählen. Nicht bloß aus anekdotischen Gründen. Wen interessiert heute das Schicksal vergilbter Notizbücher und der Streit um die richtige Lesart einst verschollener Texte? Im Fall Kafkas aber geht es nicht nur um den Ehrgeiz von Philologen. Kein literarisches Werk dieses Jahrhunderts hat solche Heerscharen von Interpreten auf sich gezogen. Das Rätsel Kafka beschäftigt Millionen von Lesern und Tausende von Wissenschaftlern. In jeder Richtung wurde es durchwühlt und durchforstet, gedeutet und umgedeutet, aber die Grundlage all dieser Bemühungen war allzuoft fast ein Witz, ein Betrug, ein verderbter Text. Was zum Beispiel bedeutet der seltsame Titel einer der berühmten Parabeln Kafkas "Eine alltägliche Verwirrung"? Er bedeutet gar nichts. Richtig lautet er: "Ein alltäglicher Heroismus". Die Entdeckung eines Lesefehlers macht ganze Dissertationen hinfällig. Malcolm Pasley ist ein schmales Hemd mit ausdrucksvoll hagerem Gesicht und trotz seiner 66 Jahre und einer tückischen Krankheit immer noch ein drahtiger Geselle von nervösem, beweglichem Charakter. Er langt hinüber ins Regal, wo von der Decke bis zum Boden seine Kafka-Handbibliothek untergebracht ist, und schlägt in der Brodschen Ausgabe die Parabel "Die Brücke" auf: "Ich war steif und kalt, ich war eine Brücke, über einem Abgrund lag ich. Diesseits waren die Fußspitzen, jenseits die Hände eingebohrt, in bröckelndem Lehm habe ich mich festgebissen." Der erste Fehler: Die Handschrift vermerkt das richtige Tempus "hatte ich mich festgebissen". Nun aber nähert sich ein Wandersmann, "wild umherblickend" (richtig: "weit umherblikkend"), und der Erzähler fragt sich: "Wer war es? Ein Kind? Ein Traum? Ein Wegelagerer?" In der Handschrift steht jedoch: "Wer war es? Ein Kind? Ein Turner? Ein Waghalsiger?" Lächelnd und empört zugleich schlägt Pasley das Buch zu. Ja, es ist empörend, daß wir siebzig Jahre nach Kafkas Tod noch immer nicht den korrekten Wortlaut seiner Texte haben. Bei wem käme es auf das Wort mehr an als bei Kafka? Und wenn wir ihn mit Fug für einen der größten Dichter halten, müßten wir dann nicht zuallererst wissen, vor aller Interpretation und vor aller Spekulation, was genau er geschrieben hat? Das ist Pasleys Frage. An ihrer Beantwortung arbeitet er seit mehr als zwanzig Jahren. Kafkas Schloß hat er zuerst herausgegeben, dann den Proceß, an der Edition der Tagebücher hat er mitgearbeitet, und nun beschäftigt er sich mit den Erzählungen aus dem Nachlaß. Das ist Philologie, Dienst am Text, nicht der breitgetretene Quark des sekundären Geredes. Wieso ausgerechnet Pasley, weshalb gerade Oxford? Kafka, der deutschsprachige Jude aus Prag - Pasley, der in Indien geborene Sohn eines Lehrers, Oxfordianer durch und durch: eine seltsame Wahlverwandtschaft. "Meine Geburt", erzählt er, "war eigentlich der grandioseste Tag meines Lebens. Die Maharadschas, die alle riesige Paläste und Hunderte von Elefanten hatten, schickten ihre Söhne in die englische Schule, und da ich ein Junge war und kein Mädchen, war es ein Festtag auch für sie. Die kleinen Prinzen kamen in einer Prozession am Bungalow meines Vaters vorbei und begrüßten das neue Kind. An diesem Tag war ich wirklich berühmt." Die Familie kehrte nach England zurück, der Weltkrieg brach aus, und Pasley ging zur Marine. Er arbeitete beim Abhördienst. "Danach konnte ich wirklich fließend Deutsch, ich glaube, ich hätte Spion werden können." Unmittelbar nach dem Krieg verbrachte er anderthalb Jahre in Deutschland, dann studierte er am Trinity College Deutsch und Französisch. 1947 hörte er zum ersten Mal den Namen Kafka, in der Vorlesung des Schweizer Germanisten Hans Ehrenzeller. Anfang der fünfziger Jahre bekam er ein Auslandsstipendium für Zürich. "Dort lernte ich Max Rychner kennen, und er fragte mich, was ich wissenschaftlich vorhätte. Ich sagte, man habe mir geraten, über den deutschen Sozialroman im 19. Jahrhundert zu schreiben. Ich hatte schon diese furchtbaren Romane von Spielhagen durchgepflügt. Rychner sagte: ,Aber Herr Pasley, was machen Sie da, in welche Wüste haben Sie sich verirrt? Sie müssen einen Autor finden, den Sie lieben, der Ihnen etwas zu sagen hat.' Das war für mich der Wendepunkt, und ich verbrannte das Material, das ich angehäuft hatte. Zunächst aber studierte ich Büchner, der damals fast unbekannt war. Die englischen Nachschlagewerke enthielten bloß zwei oder drei beiläufige Sätze über ihn. Ich war der erste in Oxford, der Vorlesungen über Büchner hielt. Über Büchner kam ich zu Nietzsche, und von Nietzsche zu Kafka." Ende der fünfziger Jahre, Pasley war Professor am Magdalen College und dozierte über Kafka, kam am Ende einer Vorlesung ein Student auf ihn zu und fragte: "Entschuldigen Sie, Herr Pasley, würde es Sie interessieren, einen Großneffen Kafkas kennenzulernen, der in meinem College Jura studiert?" Man machte sich bekannt. Der Jurastudent sagte, es freue ihn sehr, daß in Oxford Vorlesungen über seinen Großonkel gehalten würden. Seine Mutter werde wohl in Kürze über die Papiere von Onkel Franz verfügen und sicherlich gerne Rat bei Pasley suchen. So wurde Pasley mit Marianne Steiner befreundet, einer der zwei noch lebenden Nichten Kafkas. Welche Papiere meinte der junge Steiner? "Das war praktisch der gesamte Nachlaß, alles, was Max Brod in diesem berühmten Koffer einen Tag vor dem Einmarsch der deutschen Truppen aus Prag nach Jerusalem gerettet hatte. Der Nachlaß war in Jerusalem deponiert worden. Er wurde 1956 während der Suez-Krise aus Sicherheitsgründen in einen Banksafe nach Zürich gebracht." Und wie kam der Nachlaß in die Bodleiana? "Ich war damals ein begeisterter Skifahrer. Im März 1961 machte ich Skiferien in Saas Fee. Am letzten Tag meines Urlaubs bekam ich einen Anruf aus London. Marianne Steiner fragte: ,Es ist soweit, Herr Pasley, meinen Sie, daß Sie über Zürich zurückfahren und die Papiere mitbringen könnten?' Da bin ich mit meinem kleinen Fiat in die Bahnhofstraße gefahren, zu einer der großen Banken. Ich mußte warten, bis Telegramme zwischen New York, London und Zürich gewechselt worden waren, und schließlich wurden mir die Papiere ausgehändigt. Ich habe sie in einen Koffer gepackt, den ich extra in der Bahnhofstraße gekauft habe. Ich ging dann auf die andere Straßenseite zu Thomas Cook und sagte: ,Ich muß sehr wichtige Papiere versichern.' - ,Was sind das für Papiere?' - ,Manuskripte von Kafka.' - ,Und wie transportieren Sie sie?' - ,Mit meinem Wagen.' - ,Es sind also nur Manuskripte?' Der Mann war gar nicht an mir interessiert, immerzu sprach er mit jemand anderem über die Schulter. Zum ersten und zum letzten Mal in meinem Leben hatte ich etwas wirklich Wichtiges zu versichern, und kein Mensch zeigte Interesse dafür. Und dann sagte er: ,45 Franken.' Ich rief: ,45 Franken?' Der Mann sah mich an, als ob ich ein Kind wäre, und erklärte: ,Wissen Sie, wir haben ein bißchen Kenntnis in dieser Branche. Wir haben die Erfahrung gemacht, daß die Leute sehr gut auf wichtige Papiere aufpassen und daß sie nicht oft verlorengehen.' Da habe ich meine 45 Franken bezahlt, habe diesen ungeheuren Schatz in meinen kleinen Fiat geladen und bin nach Hause gefahren. Unterwegs habe ich zum ersten Mal den Koffer aufgemacht, mitten in der Nacht in einem französischen Hotel, und sah das erste Heft des Schloß-Romans in der Handschrift. Ich dachte, du bist der erste, nach Kafka und nach Max Brod, der das sieht. Es war ein unbeschreibliches Gefühl." Vier graue Kartons. Dreißig Jahre später sitzen wir an einem der alten Holztische im Duke-Humfrey-Saal, deren Maserung im Lauf der Jahrzehnte zu einer plastischen Landkarte geworden ist. Durch die gewaltigen gotischen Fenster fällt, als wäre man in einer Kathedrale, ein breiter Strom gedämpften Lichts auf die Galerien und die goldbraune Kulisse der Lederfolianten. Vor uns liegen vier Kästen aus steifem, mit grauem Papier beklebtem Karton, etwa so stark wie ein Leitz-Ordner und etwas größer im Format. Das ist Kafkas Werk, sein Nachlaß mit Ausnahme der Proceß-Handschrift, die in Marbach liegt, und einiger anderer Blätter, die noch im Besitz der Erben Max Brods sind. Vier Kästen, die die Welt veränderten. Ist das alles? Einen davon öffnet Pasley und nimmt ein Quartheft heraus. Er schlägt es auf und zeigt mir Das Urteil, jene Erzählung, die Kafka in der Nacht vom 22. zum 23. September 1912 geschrieben hat. Die lateinische Schreibschrift ist erstaunlich gut zu lesen. Sie ist klar, ohne Schnörkel und doch von melodischem Charakter. "Sehen Sie nur", sagt Pasley weiterblätternd, "wie er sich hier in einen Eifer und einen Zorn hineingeschrieben hat." Es ist der Streit zwischen Georg Bendemann und seinem Vater, an dessen Ende der Vater das Todesurteil spricht. In der Tat, die Schrift läuft breiter, der Druck der Schreibfeder ist kräftiger. Jetzt entdecke ich, was Pasley entdeckt hat: wie verräterisch Kafkas Hand ist. Sie gleicht einem Enzephalogramm, das Erregungsgrade des Kopfes aufzeichnet, hier die eilige Inbrunst, dort das nachdenkliche Zögern, hier die Eruption eines Bildes, dort die qualvolle Suche nach dem richtigen Fortgang. In der Niederschrift des Urteils aber gibt es kaum ein Stocken. Mit fliegenden Fahnen läuft Kafka ins Ziel. Dann ein kurzer waagerechter Strich, ein triumphierendes horizontales Ausrufezeichen fast, und es folgt die oft zitierte Tagebuchnotiz: "Diese Geschichte das Urteil habe ich in der Nacht vom 22 zum 23 von 10 Uhr abends bis 6 Uhr früh in einem Zug geschrieben. Die vom Sitzen steif gewordenen Beine konnte ich kaum unter dem Schreibtisch hervorziehn. Die fürchterliche Anstrengung und Freude, wie sich die Geschichte vor mir entwickelte wie ich in einem Gewässer vorwärtskam. Mehrmals in dieser Nacht trug ich mein Gewicht auf dem Rücken. Wie alles gewagt werden kann, wie für alle die fremdesten Einfalle ein großes Feuer bereitet ist, in dem sie vergehn und auferstehn. (...) Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele." Aber was ist das? Am Rand des Heftes, das ja irgendwie aussieht wie das Schulheft eines strebsamen Gymnasiasten, zwischen dem letzten Satz ("In diesem Augenblick ging über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr") und den ersten Zeilen des Tagebuchs, sehe ich eine Art Gekritzel, Zahlen offenbar; da hat er irgend etwas multipliziert und dividiert. Ja, sagt Pasley, da habe Kafka, kaum fertig mit dem Urteil, die wahrscheinliche Zahl der Druckseiten ausgerechnet. Kafka? Von dem einige zu wissen glauben, daß er auf keuscheste Weise nur für sich selber schrieb, skrupulös an Publikation oder gar Ruhm keineswegs dachte? Schwarz auf weiß, genauer, schwarzbraun auf chamoix, kann ich es sehen: Die Begierde, etwas zustande zu bringen, ist untrennbar von der Begierde, in der Welt damit zu bestehen. Kafka war eitel wie jeder Mensch, aber er war es auf eine viel intelligentere Weise. Diese Mischung aus peinlicher Bescheidenheit und genialer Vermessenheit macht ihm so leicht keiner nach. Pasley hat darüber einmal den Vortrag Kafkas Ruhm gehalten, anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an der Universität Gießen. Er zitiert ein Fragment aus dem Jahr 1920, in dem davon die Rede ist, daß ein Schwimmer, der in Antwerpen einen Weltrekord erkämpft hat, triumphal in seine Heimatstadt zurückkehrt und mit einem Bankett geehrt wird. Nach den üblichen Begrüßungen und Festreden erhebt sich der Rekordschwimmer und beginnt wie folgt: "Geehrte Festgäste! Ich habe zugegebenermaßen einen Weltrekord; wenn Sie mich aber fragen würden, wie ich ihn erreicht habe, könnte ich Ihnen nicht befriedigend antworten. Eigentlich kann ich nämlich gar nicht schwimmen. Seit jeher wollte ich es lernen, aber es hat sich keine Gelegenheit dazu gefunden." Kafkas Utopie: daß der Nichtschwimmer den Preis im Schwimmen erhielte. Pasley versteht das in seinem Vortrag so: "Müßte man nicht, um etwas wahrhaft Ruhmvolles zu leisten, aus dem gängigen Wettrennen ausbrechen, um durch die kunstvolle Inszenierung des eigenen Versagens auf die Notwendigkeit einer Neugestaltung des ganzen Betriebes hinzuweisen?" Die Handschrift redet – so hat Pasley seine Marbacher Ausstellung über den Proceß genannt. Sie redet zu dem, der ihr zuhört. Einer ihrer besten Zuhörer heißt Pasley. Er öffnet den nächsten Kasten. Darin liegen die berühmten Oktavhefte, schwarze Vokabelbüchlein mit abgerundeten Ecken. Teile der Notizen sind mit Bleistift geschrieben, das Papier manchmal fleckig und an den Rändern brüchig, die Schrift etwas verwischt und sehr viel kleiner, undeutlicher. Und doch ist klar zu lesen, in der Parabel Die Brücke, daß es unmöglich "Wegelagerer" heißen kann. Das Wort "Turner" ist nicht leicht zu entziffern, aber "Traum"? Hier scheint Brod das Opfer einer vorgesetzten Interpretation geworden zu sein. Kafka und Traum, das paßt ja wohl. Und jetzt zeigt mir Pasley Das Schloß, den berühmten Anfang: "Es war spät abends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee." Kafka korrigiert selten, aber hier sehe ich den ursprünglichen Wortlaut: "Es war spät abends, als ich ankam." Dieses Ich hat Kafka viele Seiten durchgehalten, bis er seinen Irrtum bemerkte und korrigierte. Ein Irrtum, denn die Erzählhaltung war von Anfang an auf die dritte Person festgelegt, auf einen Erzähler also, der mehr weiß als K. Deswegen ist eine Mißkorrektur Brods gleich zu Beginn aufschlußreich. Bei ihm steht: "Lange stand K. auf der Brücke, die von der Landstraße zum Dorf führte." In der Handschrift dagegen: "die von der Landstraße zum Dorf führt". Das Präsens macht klar, daß der Erzähler nicht identisch ist mit K. Auf diese Weise, Satz für Satz und Wort für Wort und Komma für Komma, hat Pasley (zusammen mit den anderen Herausgebern der kritischen Ausgabe, mit Jürgen Born, Gerhard Neumann und Jost Schillemeit) die Handschriften studiert und den bislang bekannten Kafka korrigiert. Wird man der Sache nicht irgendwann überdrüssig? Mit Emphase antwortet Pasley: "Nein, nie. Nein, nein, nein. Es ist mühsam, ja, aber der Umgang mit Kafkas Handschriften ist etwas ganz Einzigartiges. Ich bin glücklich, mich seit Jahren mit einem Schriftsteller befassen zu können, der mich jeden Tag aufs neue erstaunt." Fühlt er sich vielleicht wie ein Diener, ist Kafka ein Gott? "Nein, sicherlich nicht. Abgesehen davon, daß Kafka weit davon entfernt war, ein Gott zu sein, fühle ich mich eher wie ein Halbbruder des Dichters, ich hege brüderliche Empfindungen für ihn." So gibt es offenbar Ähnlichkeiten zwischen Kafka und ihm? "Ich nehme es an. Vielleicht ist es Kafkas Humor, der mich als Engländer besonders anzieht. (Which appeals to my Englishness, sagte er.) Neben dem Wahrheitssucher Kafka steht ja immer der andere Kafka, der den ersten lächelnd und skeptisch beobachtet. Da ist immer eine Selbstparodie, ein Selbstkommentar. Da ist nie die leiseste Spur dessen, was man tierisch ernst nennt. Wenn Kafka eine Idee verfolgt, dann ist er oft plötzlich verblüfft von der Absurdität, von der Lächerlichkeit dieser Idee, und dann schlägt das Fürchterliche in das Komische um. Diese Umschwünge, dieser Sinn dafür, daß niemals etwas völlig sicher ist, das macht seinen Humor aus. Ich fühle mich ihm nahe, und ich glaube, daß ich ihn ziemlich gut kenne. Er ist einer der anständigsten Menschen, die man sich vorstellen kann." Ich schalte den Recorder aus. Zeit zum supper, das Pasleys Frau, augenscheinlich unter Mithilfe des jüngeren der beiden Söhne, zubereitet. Sie ist Physikerin (Oxford), der Sohn Chemiker (Cambridge). Die beiden scheinen den Kafka-Maniak in ihrem Haus aufs freundlichste zu dulden. Bevor wir in den Garten gehen, wo wir essen werden, zeigt mir Pasley rasch die einzige Kafka-Handschrift, die er selber besitzt, eine Ansichtskarte. Eingerahmt steht sie auf dem Sims des Kamins. Adressiert ist sie an den Bruder Max Brods, an Otto Brod, Prag, Schalengasse 4, abgesandt aus Jungborn im Harz, Post Stapelburg, 20. Juli 1912. Text: "Die letzten Grüsse vor dem Absprung aus den Ferien Ihr FranzK". Das ist, abgesehen von dem grandiosen K, das wie ein gewunkener Gruß hinter dem Vornamen herschwingt, nicht sehr viel. Aber es ist Kafka. blog comments powered by Disqus |