Es gehört zu den Geheimnissen der Sprache, dass wir intuitiv wissen, was mit einem bestimmten Wort gemeint ist, und dass wir uns über seine Bedeutung so lange völlig im Klaren sind, als wir nicht nach einer genauen Definition gefragt werden. Im Bereich der konkreten Dinge ist die Lage vergleichsweise simpel. Was sich hinter dem Wort „Tisch“ verbirgt, ist leicht zu sagen, obgleich die Menge der Tischformen und ihrer Funktionen erheblich ist. Was aber verbirgt sich hinter dem Wort „Gedicht“? Versuchen wir eine Antwort.
1.
Das Gedicht gehört zu den ästhetischen Urformen der Menschheit. Es war gewissermaßen von Anfang an da, und dieser Anfang geht einher mit einer spielerischen, einer zweckfreien Verwendung der Sprache. Wir erleben das jedesmal von Neuem, wenn die Mutter oder der Vater sich mit dem frisch geborenen Kind in jener fast inhaltsfreien, lautmalerischen Sprache unterhalten, die man Babysprache nennt. Sie hat viel mit dem Lied, mit Sangbarkeit zu tun, sie legt Wert auf Rhythmus und Klang, auf die Wirkung der Laute, und sie arbeitet mit Wiederholungen, Variationen, Alliterationen.
Niemand muss diese Sprache lernen, jeder beherrscht sie, wenn die Lage es erfordert, wenn das Kind Trost und Zuspruch dringend benötigt. Dann entsteht ein Lied wie „Hänschen klein / ging allein / in die weite Welt hinein…“ Der Verfasser dieses Lieds, dieses Gedichts ist unbekannt – wie überhaupt viele Urtexte keinen Autor haben. Daraus entstand später (im 19. Jahrhundert) der Wunsch, die anonymen literarischen Gebilde zu sammeln. Man nannte sie Volkslieder oder Volksmärchen und sah darin einen kulturellen Schatz, der das wahre Fundament aller literarischen Bemühungen darstellen sollte. Clemens Brentano und Achim von Arnim sammelten Gedichte und Lieder in der Anthologie Des Knaben Wunderhorn (1806), und die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm fügten die vom Hörensagen aufgelesenen und dann von ihnen redigierten Texte zu ihrer international berühmt gewordenen Sammlung der Kinder- und Hausmärchen (1812/19). Wobei gleich hinzugefügt werden sollte, dass keineswegs alle dieser Volksmärchen und Volkslieder wirklich authentisch sind.
Was nun also ist ein Gedicht? Wir könnten beispielsweise sagen, ein Gedicht sei kurz und ein Roman sei lang. Aber es gibt Gedichte, die viele Seiten umfassen, und es gibt Prosatexte von kaum einer Seite. Dazu gehören etwa Kafkas Parabeln. Sie sind manchmal nur wenige Zeilen lang, aber als Gedicht würden wir sie nicht bezeichnen. Betrachten wir die schon zitierten Zeilen: „Hänschen klein / ging allein / in die weite Welt hinein…“ Unübersehbar ist hier der Endreim, also der Gleichklang der letzten betonten Silben. Er wiederholt sich dreimal: „klein“, „allein“, „hinein“. Das Reimschema lautet folglich a-a-a. Es handelt sich um die gesteigerte Variante des Paarreims, der uns in diesem bekannten Gedicht begegnet: „Zum Kampf der Wagen und Gesänge, / Der auf Korinthus‘ Landesenge / Der Griechen Stämme froh vereint, / Zog Ibykus, der Götterfreund…“ Schillers Ballade Die Kraniche des Ibykus folgt dem Schema a-a-b-b, aber sie macht uns mit einer Variante bekannt: Einmal endet der Reim mit einer betonten Silbe („vereint“, „Freund“), und ein andermal folgt der betonten Silbe eine unbetonte („Gesänge“, „Landesenge“). Diesen Fall nennt die Wissenschaft einen „weiblichen“ Reim, jenen einen „männlichen“. Schon daran lässt sich die ausgefuchste Terminologie lyrischen Sprechens erkennen.
Verkneifen wir uns die Frage, welches Verständnis sich hier mit „weiblich“ und „männlich“ zu erkennen gibt, richten wir vielmehr unser Augenmerk auf die formalen Bestimmungen. Dann sehen wir, was vermutlich unser aller Grundverständnis von Gedichten ausmacht: Dass sie sich auf irgendeine Weise vorgegebenen oder selbstgewählten Regeln fügen. Dieses Regelwerk ist ungeheuer reich und differenziert, es hat sich über Tausende von Jahren entwickelt, und jeder sprachlich-kulturelle Raum hat seine eigenen Ausprägungen hervorgebracht. Fürs erste soll die Beobachtung genügen, dass Gedichte an ein bestimmtes Schema gebunden sind (wobei gleich hinzugefügt werden muss, dass dies oft, aber keineswegs immer der Fall ist). Damit haben wir eine fundamentale Unterscheidung getroffen: die zwischen „gebundener“ und „ungebundener“ Rede.
Über die ungebundene Rede ist nicht viel zu sagen. Wir finden sie in nahezu allen Texten, in Gebrauchsanweisungen und Gesetzesbüchern ebenso wie in Romanen und Zeitungen, und wir begegnen ihr natürlich auch in dem, was wir und unsere Gesprächspartner täglich von uns geben. Wenn wir miteinander reden, dann kann es passieren, dass uns plötzlich ein Reim unterläuft, und dann müssen wir vielleicht lachen. Die Komik entsteht dadurch, dass wir zufällig das Reich der gebundenen Rede betreten haben, und dieses Reich hat immer etwas Feierliches, Besonderes, Hervorgehobenes. Ein Rest dieser Tradition ist noch in dem eigentlich seltsamen Brauch erhalten, bei bestimmten Anlässen – Familienfesten, Betriebsfeiern – Reden in Versform zu halten.
Wir müssen uns vor Augen halten, dass die Literatur älter ist als die Schriftlichkeit. Bücher sind eine späte Erfindung. Noch im Mittelalter war es keineswegs selbstverständlich, dass die Angehörigen der Oberschicht lesen und schreiben konnten. Die Unterschicht bestand ohnehin zumeist aus Analphabeten. Der Umgang mit Büchern (es waren in der Hauptsache die Bibel sowie geistliche Texte) und das Schreiben (es ging in der Hauptsache um das Abschreiben kanonischer Werke) beschränkte sich auf die Priester und Mönche. Hartmann von Aues Versroman Der arme Heinrich (etwa 1180) beginnt mit den Zeilen: „ein ritter sô gelêret was, / daz er an den buochen las, / swaz er dar an geschriben vant.“ (Ein Ritter – eben der Held der Geschichte – war so gelehrt, dass er alles, was er in den Büchern geschrieben fand, lesen konnte.)
Im Anfang der Literatur stand also die Mündlichkeit. Jeder weiß aus eigener Erfahrung, dass rhythmisierte Texte leichter zu lernen sind als ungefügte. Das galt etwa für die Dramen der Antike. Ihre in einem bestimmten Metrum verfassten Verse erlaubten es den Schauspielern, sie besser im Gedächtnis zu behalten, und den Zuhörern, ihnen besser zu folgen. Die großen Epen, Homers Ilias und die Odyssee (etwa 720 v.Chr.), waren im Hexameter abgefasst. Er bestand aus sechs langen betonten Silben, denen je zwei unbetonte kurze folgten, zuweilen auch nur eine. Der Anfang der Odyssee lautet in der klassischen Übersetzung von Johann Heinrich Voß: „Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes / Welcher so weit geirrt nach der heiligen Troja Zerstörung, / Vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat, / Und auf dem Meere so viel‘ unnennbare Leiden erduldet…“ Der Hexameter wurde später von Klopstock und von Goethe wiederbelebt. Dessen Reineke Fuchs beginnt so: „Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen; es grünten und blühten / Feld und Wald; auf Hügeln und Höhn, in Büschen und Hecken / Übten ein fröhliches Lied die neuermunterten Vögel.“
Der in gebundener Rede gefasste Text erleichtert die mündliche Überlieferung, er dient einem gehobenen, dem besonderen Augenblick vorbehaltenen Sprechen, und schließlich taugt er zum Singen. Daher kommt auch der Begriff Lyrik. Er leitet sich ab von der griechischen Lyra, einem Saitenintrument, und meint ursprünglich die Texte der zur Lyra gesungenen Lieder. Ein bedeutender Teil der deutschen Lyrik besteht aus Liedern, teils religiöser Provenienz, wie etwa die Kirchenlieder Paul Gerhardts („O Haupt voll Blut und Wunden…“), teils mit weltlicher, politischer Zielsetzung, wie die Lieder Freiligraths oder Hoffmanns von Fallersleben, der unsere Nationalhymne gedichtet hat, oder im 20. Jahrhundert die Lieder Wolf Biermanns, die so wirkungsvoll waren, dass sie zum Zusammenbruch der DDR einen nicht geringen Teil beigetragen haben.
2.
Es wäre aber Missverständnis zu sagen, Lyrik und gebundene Rede seien in etwa Dasselbe. Schon die Erwähnung Homers machte deutlich, dass die großen Epen der Menschheit sehr oft in Versform abgefasst wurden. Das gilt auch für die deutsche Literatur, deren Heldenepen und Ritterromane, ob Hildebrandslied oder Nibelungenlied, ob Gottfrieds Tristan oder Wolframs Parzival, allesamt in Versform daherkommen, wobei angemerkt werden muss, dass die Form des Versepos nie gänzlich erloschen ist und erst kürzlich wieder eine schöne Auferstehung erlebte – in dem rund 10000 Langverse umfassenden Gesang Fredy Neptune (2004) des australischen Dichters Les Murray, der Geschichte eines australischen Matrosen, der auf seinen Irrfahrten die Schrecken des 20. Jahrhunderts am eigenen Leibe erlebt.
Lange Zeit also wurden die meisten Werke der Literatur (und einige davon würden wir heute Romane nennen) in gebundener Rede verfasst, und es war Johannes von Tepl, der um 1400 seinen großen Traktat Der Ackermann aus Böhmen in einfacher, ungefügter Prosa veröffentlichte. Der Grund dafür liegt nicht allein in der Tatsache, dass es sich hier um das einem Gerichtsverfahren nachempfundene Streitgespräch zwischen einem Bauern und dem Tod handelt, sondern vor allem in einer neuartigen Ästhetik: Sie verzichtet zugunsten der Wahrheit auf Schönheit. In dem von Gott moderierten und am Ende entschiedenen Streit geht es darum, dass der Bauer, eben der Ackermann aus Böhmen, den Tod in die Schranken fordert, weil der ihm die geliebte junge Frau im Kindbett hat sterben lassen. Der Tod ist zunächst ungehalten, unwillig zu einem Disput, aber dann sagt er sinngemäß: Weil der Ackermann nicht in Versen spreche, schließe er daraus, dass jener es ernst meine.
Das Neue daran ist die Empfindung, dass die schöne, sich selbst genügende und zuweilen in sich selbst verliebte Form, wie sie vom Reim- und Metrikzwang nahegelegt wird und wie sie jahrhundertelang praktiziert wurde, den fundamentalen, existenziellen Fragen ausweiche, dass sie nicht mehr geeignet sei, zum Kern der Wahrheit vorzudringen. Denn die Wahrheit sei ungereimt, krude, und wer bloß schöne Reime liefere, verfehle sie. Dieser Gedanke ist dann viel später von den Dichtern der modernen Lyrik aufgegriffen und radikalisiert worden, am frühesten und entschiedensten von Baudelaire, dessen revolutionärer Gedichtband Die Blumen des Bösen (1857) den Beginn einer neuen Ära markiert. Nun war nicht mehr das Schöne genuiner Gegenstand der Poesie, sondern (auch) das Hässliche; nicht mehr Klarheit und Vernunft, sondern (auch) Dunkelheit und Fieberwahn; nicht mehr die Geordnetheit der Dinge, sondern das Chaos. Die Spannung bei Baudelaire entsteht allerdings daraus, dass er die klassische Form noch bedient, also mit Reim und Metrum arbeitet, dass aber dieser Wohlklang die Pforten des Chaos öffnet. Schon Novalis, obgleich er sich in seinen Dichtungen nicht daran hielt, hatte bemerkt: „Ich möchte fast sagen, das Chaos muss in jeder Dichtung durchschimmern.“ Das wird dann mehr als hundert Jahre später in der Ästhetik Theodor W. Adornos wieder auftauchen, der die Aufgabe der Dichtung darin sah, „Chaos in die Ordnung zu bringen“.
All dies klingt nicht gut in unseren Ohren, die wir doch, da ja nun das Leben öde und schwierig genug ist, wenigstens von der Kunst Trost und Rat erwarten. Aber die Kunst (die Literatur) kann ohne den Begriff, ohne das Ziel der Wahrheit nicht auskommen, und die verstörenden, zerstörenden Erscheinungen der industriellen Revolution mit all ihren dramatischen Folgen für das soziale Leben und für die Moral mussten für Dichter, die es ernst meinten, neue ästhetische Methoden notwendig machen. Die Form war nun nicht mehr ein für allemal vorgegeben, sondern sie entstand jedesmal neu aus der veränderten Lage. Das Gedicht war nun nun in die völlige Freiheit der subjektiven Empfindung geworfen, und es forderte einen Leser, der nicht das Bekömmliche erwartete, sondern bereit war, sich den Expeditionen ins Ungewisse auszuliefern.
Man muss diesen Bruch, den die ästhetische Moderne erzwungen hat, deutlich markieren. Seitdem nämlich ist das Gedicht prinzipiell frei von jeglichem Regelwerk, und das bedeutet nichts anderes, als dass die hergebrachte und für uns Leser bequeme Verbindung von gebundener Rede und Lyrik aufgekündigt ist. Seitdem kann sich schlechthin alles, was über eine gewisse Textmenge nicht hinausgeht und in gebrochenen Zeilen erscheint, „Gedicht“ nennen. Insofern müssen wir die Frage, was ein Gedicht sei, noch einmal stellen. Und hier kann uns vielleicht die Literaturwissenschaft weiterhelfen. Sie unterscheidet zwischen den verschiedenen Eigenschaften der literarischen Gattungen: Das Lyrische, das Epische, das Dramatische. Lyrisch wäre nun ein musikalischer Umgang mit der Sprache, mit ihren klanglichen und rhythmischen Mitteln, um eine eigene, der alltäglichen Wahrnehmung entgegengesetzte oder sie steigernde Wahrnehmung zu erzeugen. Oft hat das Lyrische etwas mit alten magischen Vorstellungen zu tun, mit dem Wunsch, aus Sprachbild und Sprachklang eine zweite, andere Wirklichkeit zu erschaffen. Da schwingt archaischer Beschwörungszauber mit, und in der Tat könnten wir eines der ältesten Zeugnisse der deutschen Literatur, die Merseburger Zaubersprüche, als eine Frühform des Gedichts betrachten. Wenn wir nicht von der Gattung selber reden, sondern vom Charakter einer Gattung, dann sehen wir, dass es lyrische Werke mit stark epischen Momenten gibt, wozu etwa die Ballade gehört, die ja in der Regel eine Geschichte erzählt, was ansonsten eher untypisch für Gedichte ist. Und wir sehen ebenfalls, dass es epische Werke gibt, die mit lyrischen Mitteln arbeiten, wie etwa der Versroman.
3.
Die meisten Dichter haben sich mehr oder minder ausführlich über die Poetik des Gedichts geäußert. „Verse sind nicht, wie die Leute meinen, Gefühle (die hat man früh genug) – es sind Erfahrungen“, hat Rainer Maria Rilke gesagt, und von Goethe stammt das schöne Gedicht:
Gedichte sind gemalte Fensterscheiben!
Sieht man vom Markt in die Kirche hinein,
Da ist alle dunkel und düster;
Und so siehts auch der Herr Philister.
Der mag denn wohl verdrießlich sein
Und lebenslang verdrießlich bleiben.
Kommt aber nur einmal herein!
Begrüßt die heilige Kapelle;
Da ists auf einmal farbig helle,
Geschicht und Zierrat glänzt in Schnelle,
Bedeutend wirkt ein edler Schein.
Dies wird euch Kindern Gottes taugen,
Erbaut euch und ergetzt die Augen!
Das einprägsame Bild vom Kirchenfenster, das von außen unbedeutend, unansehnlich wirkt, von innen betrachtet aber leuchtende Geschichten erzählt, ist auch deshalb interessant, weil es das Profane und das Heilige gegeneinander setzt. Profan ist „der Herr Philister“, und „Philister“ war ein damals von Intellektuellen (die man so noch nicht genannt hat) gern gebrauchtes Schimpfwort gegen die Nützlichkeitsmenschen, gegen die Tüchtigkeitsspießer. Sakral hingegen sind Kirche und Kapelle, und dem Sakralen sind auch die „Kinder Gottes“ zugehörig, wie hier die Freunde des Gedichts genannt werden. Dieses Gedicht, sicherlich nicht das bedeutendste Goethes, wirkt eher wie ein Gelegenheitsgedicht, und seines heiteren, leichtfüßigen Tones wegen wird man es nicht allzu ernst nehmen dürfen. Und doch ist die Einordnung des Poetischen in das Reich des Heiligen im damaligen dichterischen Selbstverständnis nicht unüblich gewesen – man denke nur an Hölderlin, bei dem der Begriff des Heiligen eine zentrale Rolle spielt. Goethes Fensterscheiben-Gedicht macht uns darauf aufmerksam, wie Gedicht uns neue Farben und Formen geben, wie sie unseren Blick auf die Welt verändern.
Diesen Gedanken hat Walter Höllerer zum Programm gemacht. Er sagte: „Das Gedicht muss, listig, den jeweils richtigen Ausdruck treffen, um hinter die Fassade zu gelangen, die wir im allgemeinen Sprechen, im Hörsaal, in der Zeitung, im Rundfunk, in Kongressen, auch in Schriftstellerkongressen, aufrichten.“ Wieder eine andere Facette dessen, was Gedichte sein können, formuliert die österreichische Dichterin Christine Busta in diesem „Gedichte“ genannten Gedicht:
Leben,
im Bernstein geborgen,
begraben.
Narben,
berührbar,
unverletzlich.
Aufgezeichnete
Zeit im Werden.
Kreide oder Achat.
Christine Busta arbeitet mit polaren Entgegensetzungen: Geborgen oder begraben, Kreide (weich) oder Achat (hart), berührbar und unverletzlich. All dies ist das Gedicht gleichzeitig selber. Und es ist Klang. Das dreifache „ei“ der letzten Strophe endet oder mündet in dem abrupten und abschließenden doppelten „a“ des Wortes Achat.
Wir sehen: das sind keine endgültigen Definitionen, es sind Ansichten, Absichten der unterschiedlichsten Art. Was ein Gedicht sei, was jemand mit einem Gedicht will, was er von ihm erwartet, wandelt sich mit den Zeiten, mit der Kultur, mit dem historischen Hintergrund. Die Kunst des japanischen Haiku, des philosophischen Kürzestgedichts, ist nur aus der japanischen Tradition wirklich zu verstehen. Und ein Emphatiker wie der Amerikaner Walt Whitman, der begeisterte und lang anhaltende Gesänge über die Demokratie, über seine Landsleute und den ganzen Kontinent, über das Land der Verheißung, geschrieben hat, ist in unserer kleinteiligen Kultur nicht leicht vorstellbar.
4.
Wenn wir also im Folgenden versuchen, eine kleine Typologie des Gedichts zu skizzieren, so ist klar, dass sie erstens ganz unvollständig ist und sich zweitens vor allem auf die europäische Tradition bezieht. Da wäre zunächst die erzählende Lyrik. Ihre Hauptform, die Ballade, gehört zu beliebtesten, vor allem auch in der Schule gelesenen Gedichtformen. Goethes Erlkönig, Schillers Bürgschaft, Bürgers Lenore, Fontanes John Maynard, Conrad Ferdinand Meyers Füße im Feuer sind vielleicht die bekanntesten. Bertolt Brecht hat die Form wieder aufgegriffen, etwa in seiner Ballade vom Weib und dem Soldaten oder in seinem Gedicht Von der Kindsmörderin Marier Farrar:
Marie Farrar, geboren im April
Unmündig, merkmallos, rachitisch, Waise
Bislang angeblich unbescholten, will
Ein Kind ermordet haben in der Weise:
Sie sagt, sie habe schon im zweiten Monat
Bei einer Frau im Kellerhaus
Versucht, es abzutreiben mit zwei Spritzen
Angeblich schmerzhaft, doch ging‘s nicht heraus.
Und nun der Refrain, mit dem alle neun Strophen gleichermaßen enden: „Doch, ihr, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen / Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.“ Wir sehen, wie Brecht die alte Form in raffiniert kunstloser Manier wiederbelebt. Das Metrum ist ganz uneinheitlich, der Endreim geht über Kreuz mit jeweils ungereimten Zeilen, und der Reim „Waise - Weise“ entspricht schon gar nicht strenger Regel. Und doch handelt es sich zweifellos um eine Ballade, die sich hier nun einer Unterform annähert: der Moritat. Sie erzählt eine traurige Geschichte von ganz unten, und natürlich hat sie eine politische Botschaft.
Dass Gedichte zweckfreie Kunstgebilde sein sollen, ist lediglich eine unter vielen möglichen Forderungen. Seit altersher gibt es das Lehrgedicht (und Brechts Balladen sind immer auch Lehrgedichte). Das Lehrgedicht hatte sehr oft religiösen Charakter, es diskutierte und propagierte den rechten Glauben und das rechte Verhalten in der Welt und Gott gegenüber, wie etwa das berühmte Gedicht von Walther von der Vogelweise „ich saz uf eime steine“. Zu den Lehrgedichten gehören auch die Sinngedichte wie Hermann Hesses Stufen, dazu gehört die Fabel in Gedichtform wie La cigalle et la fourmi (Die Grille und die Ameise) von La Fontaine. All diesen Unterformen ist gemeinsam, dass sie didaktisch vorgehen. Sie wollen dem Leser etwas zeigen, ihn zu etwas überreden, und sie nutzen dafür die einprägsame Figur des Gedichts. Ganze Epochen der deutschen Lyrik, vor allem die Zeit des Barock, sind vom Lehrgedicht bestimmt, und die gesinnungstreuen Dichter der kommunistischen Ära haben ihrerseits versucht, die alte Form in den Dienst der neuen Idee zu stellen. Lyrisch im Sinne einer poetischen Eigenschaft sind diese Kunstgebilde selten.
Umso lyrischer ist dafür das Lied. Eines der schönsten und fast so etwas wie das Gründungsdokument der Romantik ist Eichendorffs Gedicht Wünschelrute:
Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort.
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.
Da ist sie wieder, die magische Vorstellung, von der wir bereits gesprochen haben, und nirgends ist sie bündiger, wirksamer formuliert worden als hier. Bei Eichendorff fängt sie ja wirklich zu singen an, die Welt, und in seinen Romanen und Novellen (Ahnung und Gegenwart, Aus dem Leben eines Taugenichts) erwachen die Helden bei Sonnenaufgang im Grase, blicken über die Täler und Höhen weit, greifen neben sich, wo wunderbarerweise eine Gitarre liegt, und schmettern ein Lied in die Welt hinaus. Bei Eichendorff sind die Gattungsgrenzen aufgehoben: Seine Romane sind vollkommen lyrisch. Gedichte aus dieser Zeit tragen sehr oft das Wort Lied im Titel, viele davon sind vertont worden (etwa von Schumann), und nicht wenige imitieren den schlichten Ton des Volksliedes, wobei man nicht vergessen darf, dass das „Volkslied“ auch eine ideelle Konstruktion der Zeit gewesen ist. Eine der wirkungsvollsten Szenen in Goethes Faust jedenfalls ist jene, da Gretchen in ihrer Kammer ein Lied vor sich hinsingt: „Es war ein König in Thule…“ Wer es hört, könnte glauben, es handele sich wirklich um eine Volkslied. (Das schon, aber Goethe hat es gedichtet.)
Die Vorstellung, der Rilke widersprechen wollte, dass nämlich Verse dem Ausdruck von Gefühlen dienten, ist keineswegs auf Hobbypoeten beschränkt, sondern sie prägt einen nicht geringen Teil auch großer Lyrik, wobei man allerdings zugeben muss, dass es nie nur um Gefühle gehen kann, sondern um die Kunst, Gefühle sprachlich werden zu lassen. Das Genre, wo dies am sichtbarsten gelingt oder am gründlichsten scheitert, ist die Liebeslyrik. Dies nun ist ein endloses Feld, das von Walthers „under der linden uf der heide“ über den reichen Fundus von Goethes Liebesgedichten bis hin zu Brinkmanns Liedchen („O fick mich“) reicht und natürlich auch das erotische Gedicht einschließt, etwa Hofmannswaldaus Lobrede an das liebenswerteste Frauenzimmer, die eigentlich weniger diesem Frauenzimmer gewidmet ist als ihren Brüsten:
Der Sinnen Schiff soll mich in solche Länder führen,
Wo auf der See voll Milch nur Liebeswinde wehn.
Die Brüste sind mein Zweck, die schönen Marmelballen,
Auf welchen Amor ihm ein Lustschloß hat gebaut,
Die durch das Atemspiel sich heben und auch fallen,
Auf die der Sonne Gold wohlriechend Ambra taut.
Sie sind ein Paradies, in welchem Äpfel reifen,
Nach deren süßer Kost jedweder Adam lechzt.
Wer dieses über vier Buchseiten gehende Langgedicht liest, wird nicht auf die Idee kommen, es handele sich um einen Herzenserguss. Wir wollen nicht ausschließen, dass Christian Hofmann von Hofmannswaldau (1617 bis 1679) wirklich in eine konkrete Frau verliebt war und deren konkrete Brüste vor Augen hatte, aber klar ist, dass es sich hier um eine hoch artifizielle, fast schon sportliche Kunstleistung handelt, die darin besteht, möglichst lange und in möglichst originellen Bildern das „werte Heiligtum“ auszumalen.
Wir nähern uns hier jener Gedichtform, die man autonome Lyrik nennen könnte. Wir kennen die Unterscheidung zwischen reinen und angewandten Wissenschaften. Während in der angewandten Wissenschaft die behandelten Gegenstände vorgegeben sind und danach die Methoden zur Untersuchung dieser Gegenstände geschaffen werden, ist es bei der reinen Wissenschaft, etwa in der Mathematik oder der Logik, gerade umgekehrt: Die Methode ist vorgegeben und die damit untersuchbaren Gegenstände werden erst durch sie geschaffen. Und nun die Analogie für unsere Zwecke: Die angewandte Lyrik bezieht sich auf etwas Vorgegebenes, auf die Wirklichkeit, auf ein Problem, auf eine Idee, und sie gewinnt daraus ihr Material, ihre Zielsetzung oder Botschaft.
Was wäre dann die reine oder autonome Lyrik? Eine Lyrik folglich, die sich die Methode ihrer Darstellung nicht von der Wirklichkeit vorgeben lässt, sondern die durch ihre Methode Wirklichkeit erst herstellt, und damit eben eine zweite Wirklichkeit, eine Wirklichkeit anderer Ordnung. Nehmen wir beispielsweise das berühmte Tiger-Gedicht von William Blake. Es beginnt mit den Zeilen: „Tyger Tyger, burning bright, / In the forests of the night“. Das Bild bezeichnet nur sich selber, es gibt kein Wie oder Als ob. Die Wälder der Nacht, in denen dieser Tiger glüht: Das ist eine transzendente Realität von eigener Gewalt, sie setzt sich absolut und fragt nicht, was wir für Wirklichkeit halten. Den Tiger und die Wälder der Nacht gibt es nur in diesem Gedicht, sie sind erst durch das Gedicht entstanden. „Mit gelben Birnen hänget / Und voll mit wilden Rosen / Das Land in den See, / Ihr holden Schwäne, / Und trunken von Küssen / Tunkt ihr das Haupt / Ins heilignüchterne Wasser.“ Auch hier, in Hölderlins Hälfte des Lebens, wird keine vorgegebene Wirklichkeit abgeschildert, denn wo gäbe es Schwäne, die trunken von Küssen wären, und was wäre ein heilignüchternes Wasser? Auch dieses Gedicht löst sich ab von der sogenannten Wirklichkeit und bringt eine andere hervor.
Nun gibt es einen triftigen Einwand: Hölderlin und Blake beziehen sich auf bestimmte Realien, auf den Tiger und die Wälder, auf die Schwäne und die wilden Rosen. Zwar transformieren sie diese Dinge in eine andere Welt, aber sie könnten das nicht tun, wenn wir nicht alle eine Vorstellung davon hätten, was ein Tiger ist und was ein Schwan. Der Einwand führt zu der simplen Tatsache, dass Literatur immer mit Sprache zu tun hat, und weil die Sprache unser aller Verständigungsmittel ist, weil sie ein oft missbrauchtes, ein oft unzureichendes Mittel ist, der Welt, in der wir leben, Herr zu werden.
Deshalb kann sich Literatur nie in einem vollkommen wirklichkeitsfreien Raum bewegen, so, wie es etwa die Musik kann, die wahrscheinlich aus diesem Grund als die höchste aller Künste betrachtet wird. Aber unter allen literarischen Gattungen kommt die Lyrik ihr am nächsten. Das eben soll mit Autonomie, mit autonomer Lyrik gemeint sein. Sie findet ihren Ausdruck (zum Beispiel) in der Lyrik des Expressionismus und Surrealismus, dann der „konkreten Poesie“ von Franz Mon oder Herbert Heißenbüttel oder Eugen Gomringer, die sich zuweilen, wie manche Gedichte des Barock, ganz vom Druckbild bestimmen lässt und zur Grafik hin tendiert; oder in den ganz vom Sprachklang beherrschten frühen Gedichten Ernst Jandls (Laut und Luise), der sicherlich einer der ganz großen Lyriker des 20. Jahrhunderts gewesen ist.
Vielleicht sogar ist die Idee der Autonomie als einer Befreiung aus der ideologischen Knechtschaft, wie sie das totalitäre 20. Jahrhundert zur Perfektion gebracht hat, das zentrale und international gewordene Motiv der neueren Lyrik. Das würde erklären, weshalb sie so oft als schwierig, unzugänglich erscheint. Sie muss so sein, weil sich anders ein Weg aus der als globale Kommunikation getarnten Sprachlosigkeit nicht finden lässt. Dazu passt die Vermutung, dass es heutzutage mehr Verfasser von Gedichten als Leser gibt. Das mag zwar eine Übertreibung sein, Tatsache ist jedoch, dass viele Menschen Gedichte schreiben, aber nur wenige Gedichtbände kaufen. Gerade so, als ob das Gedicht Ausdruck eines verbreiteten Bedürfnisses nach sprachlicher Durchdringung oder Vermittlung wäre, die mehr Absender als Empfänger hat.
5.
Bevor wir uns jedoch in den unendlichen und unendlich fruchtbaren Gefilden der modernen Lyrik verlieren, sei eingestanden, dass wir die versprochene Typologie nicht bis ans Ende führen können. Es hat wohl nie eine Zeit gegeben, der so viele literarische Zeugnisse diachron wie synchron zur Verfügung gestanden hätten, eine Zeit, die mit den Mitteln moderner Informationstechnik sowohl in die Tiefe der historischen Räume als auch in die Breite der Weltliteratur einzudringen vermag. Ein Fluch möglicherweise, aber sicherlich auch eine nie dagewesene Chance. Die Welt der Lyrik ist in besonderer Weise die Welt.
Um tröstlich zu enden, sei schließlich auf das komische Gedicht hingewiesen, eine in der Tat erhebliche Sparte, die den Büttenredner wie den großen Dichter umfasst. Stellvertretend für viele muss der 2006 verstorbene Robert Gernhardt genannt werden, der viel dazu beigetragen hat, die Gesetze des Komischen herauszuarbeiten, die Regeln des lyrischen Handwerks und die Verbindung zur literarischen Tradition wach zu halten, mit den ihm eigenen ebenso ironischen wie ernsten Zügen. Einer der großartigsten Kronzeugen jener Kunst ist der ewig lebendige Christian Morgenstern. In seinem Gedicht Das ästhetische Wiesel hat er eigentlich alles gesagt, was über das Gedicht gesagt werden kann, und kürzer, prägnanter geht es nicht:
Ein Wiesel
saß auf einem Kiesel
inmitten Bachgeriesel.
Wißt ihr
weshalb?
Das Mondkalb
verriet es mir
im Stillen:
Das raffinier-
te Tier
tat's um des Reimes willen.