Die Vorzüge des Elfenbeinturms
Über Literatur und Engagement heute
Der folgende Vortrag wurde vor dem "Autorenkreis der Bundesrepublik" am 20. September 1997 in Berlin gehalten.
1.
Mein Thema heißt „Literatur und Engagement“. Das klingt sehr abstrakt, aber ich kann es gern ein bißchen konkreter fassen. Sollen sich zum Beispiel die deutschen Intellektuellen, die deutschen Schriftsteller in den Streit um den Euro einmischen - so wie es die französischen Kollegen getan haben? Die Debatte in Deutschland wird fast ausschließlich von Ökonomen, von Bankern und von Unternehmern geführt. Vielleicht kümmert uns der Verzicht auf nationale und monetäre Souveränität nicht übermäßig, und das wäre ein ehrenhaftes Motiv. Aber dann könnte uns immerhin die Frage beschäftigen, ob die rigide Durchsetzung der sogenannten Maastricht-Kriterien den Sieg des Kapitalinteresses über den sozialen Konsens bedeuten müßte. Ein doch wohl nicht ganz unwichtiges Thema. Nur sehr wenige haben sich dazu geäußert, und es hat nicht den Anschein, als wären die deutschen Intellektuellen, wer immer das sein mag, davon beunruhigt.
Oder nehmen wir Günter Grass. Hätten wir es bedauern sollen, als er 1993 aus der SPD austrat? Und sollen wir es begrüßen, daß Grass, wie er vor wenigen Wochen erklärte, bereit ist, für ein rot-grünes Bündnis in den Wahlkampf zu ziehen? Er hat das schon ein paarmal gemacht, nämlich 1965, 1969 und 1972. Ob es der SPD viel geholfen hat, wissen wir nicht, und wir wissen auch nicht, ob es seiner literarischen Produktion geschadet hat. Aber er hat sich damals politisch engagiert, und er tut es heute wieder. Seinerzeit sind viele andere mitgezogen. Im Herbst 1998 jedoch wird er vermutlich ziemlich allein sein, zumal er sich für Lafontaine engagieren will und nicht für den Mann, der wohl als einziger ein Siegeschance hat - wenn denn die SPD den ungeliebten Schröder ranläßt.
Es geht also um das Verhältnis der schreibenden Intelligentsia zur Politik, es geht um die alte Frage nach dem Engagement, es geht um die Rolle der Literatur in der Öffentlichkeit. Es liegt auf der Hand, daß sich hier einiges geändert hat, daß die Situation heute wesentlich anders ist als die in den, sagen wir, ersten dreißig Jahren der guten alten BRD. Ich will versuchen, diese Veränderungen zu beschreiben, und ich will mich in einem zweiten Schritt mit der Frage befassen, ob und wie weit das politische Engagement des Schriftstellers wünschenswert ist, ob wir also die gegenwärtige politische Enthaltsamkeit der literarischen Szene begrüßen sollten, und wenn ja, warum; oder ob wir ein stärkeres politisches Engagement erstreben sollten, und wenn ja, wie.
2.
Bevor ich mich jedoch der deutschen Stimmungslage zuwende, erlauben Sie bitte einen Blick nach Nordamerika. Ich habe dort mit vielen Autoren über ein ganz ähnliches Thema gesprochen, nämlich über die Rolle der amerikanischen Schriftsteller in der Öffentlichkeit und über ihr Verhältnis zur amerikanischen Politik. Anlaß dieser Gespräche war ein Buch, das eben unter dem Titel Gelobtes Land - Amerikanische Schriftsteller über Amerika im Rowohlt Verlag erschienen ist. Mir scheint, daß die Antworten, die ich erhielt, eine grundsätzlich andere Situation beleuchten, aus der sich Rückschlüsse auf unsere Lage ziehen lassen.
Richard Ford zum Beispiel, dessen grandioser Roman Unabhängigkeitstag kürzlich auf deutsch erschienen ist und dem vielleicht einige hier begegnet sind, als er in den vergangenen Monaten Gast des DAAD in Berlin war, Richard Ford antwortete auf die Frage, wie sich denn das intellektuelle Leben seit Reagan verändert habe:
„Dieses Land ist so groß, so disparat, in vielen Gebieten so unterbevölkert, daß es gar kein intellektuelles Leben gibt. Ich weiß, mir würden da einige Leute widersprechen, Susan Sontag wahrscheinlich, aber ich sehe das nicht. Ich selber habe nie über politische Dinge geschrieben, außer in meinem letzten Buch, und auch das ist nicht sehr politisch. Neulich traf ich Günter Grass. Der ist ein wirklicher politischer Autor. So etwas haben wir nicht.“
Ich fragte Ford, ob er das bedauert, und er antwortete: „Ja, weil ich glaube, daß das Vorhandensein einer phantasievollen politischen Literatur auch bedeutet, daß es eine Leserschaft dafür gibt und einen politischen Zeitgeist, ein Geistesleben, aber das haben wir nicht, und auch nicht eine Literatur, die das befördert. Politik wird traditionellerweise in Washington gemacht, und die ganze Tendenz der Nation geht dahin, daß die locker angekoppelten Staaten immer weniger mit den zentralen politischen Dingen zu tun haben wollen. Die Leute kümmern sich nur noch darum, was in ihrem Staat und in ihrem Bezirk politisch passiert. Man liest hier auch anders. Wenn ein Buch nicht explizit mit Politik zu tun hat, gilt es als unpolitisch. Daß ein Roman auch etwas Politisches ist, sieht man nicht. Der Kinogeher von Walker Percy zum Beispiel ist, wie ich glaube, ein großer politischer Roman über das Ende der fünfziger und den Beginn der sechziger Jahre. Zu seiner Zeit war er visionär, aber niemand würde ihn als politischen Roman verstehen.“
Ein Romancier oder ein Lyriker, so wandte ich ein, könne sich auch außerhalb seiner Romane oder Gedichte politisch äußern. Ford sagte: „Ja, es gibt ein paar Leute wie Gore Vidal, Norman Mailer oder Robert Stone, also ein paar haben wir.“ Werden diese Autoren geachtet? „Gute Frage. Das Land ist generell sehr fragmentiert, und das liegt auch am politischen System. Ein Schriftsteller wie Vargas Llosa, der in Peru fast Präsident geworden wäre, ist hier nicht vorstellbar. Man kriegt das Geld nicht zusammen. Norman Mailer hat blödsinnigerweise für den Senat oder sonstwas kandidiert, es geht nicht. Für einen Schriftsteller, der sein Leben literarischen Belangen widmet, ist es schlechthin unmöglich, herauszukriegen, wie das politische Spiel funktioniert.“
Wird Ford zu Talk-Shows oder Konferenzen eingeladen? „Nein, so etwas gibt es in Frankreich oder Deutschland, wo in einem nationalen Sender Schriftsteller über allgemeine Themen diskutieren. Wenn hier diskutiert wird, dann sind es ausschließlich Politiker oder Fachleute. Schriftsteller hält man für zu unbedeutend.“
3.
Mein zweites Beispiel ist Paul Auster, der in Brooklyn lebt und eine Weile in Paris verbrachte. Er ist mit seinen Romanen in Frankreich und Deutschland fast bekannter als in seiner Heimat. Europa ist ihm also nicht fremd. Ich fragte ihn nach der unterschiedlichen Situation der Schriftsteller in den USA und Europa, und Auster antwortete: „Schriftsteller zu sein wird in Europa als etwas Bedeutungsvolles betrachtet, einem Schriftsteller bringt man per se Achtung entgegen. Hier ist das keineswegs der Fall. Deshalb werden Schriftsteller in Europa zu wichtigen öffentlichen Dingen um ihre Meinung gefragt. Hier würde sich niemand darum scheren.“
Bedauert Auster das? „Nicht sonderlich. Es gibt die Vorstellung, daß die wichtigen Schriftsteller von möglichst vielen, von möglichst allen gelesen werden sollten. Aber wenn wir an die Geschichte denken: Literatur ist nie ein Massenphänomen gewesen. Was glauben Sie, wieviele Menschen Paradise Lost von Milton gelesen haben, als das Buch herauskam? Zwei- oder dreihundert, viel mehr können es nicht gewesen sein. Die Idee, daß jeder, weil wir in einer Demokratie und in einer Massenkultur leben, qualitativ gute Literatur lesen sollte, ist einfach ein Irrtum. Es kommt hinzu, daß die meisten Amerikaner ihre Schriftsteller überhaupt nicht kennen. Ich denke schon, daß die meisten gebildeten Deutschen, wenn sie in einer Zeitung den Namen Günter Grass oder Peter Handke erwähnt finden, eine ungefähre Vorstellung haben, wer das ist. Sie verbinden etwas mit solchen Namen, während in Amerika kaum einer wüßte, wovon die Rede ist. Das liegt auch daran, daß das Land so groß, so dezentralisiert ist. Das literarische Leben Frankreichs spielt sich in Paris ab, das von England in London. Es gibt in diesen Ländern so etwas wie nationale Kommunikationsinstanzen, wozu auch die Radio- und Fernsehanstalten gehören und natürlich die überregionalen Zeitungen. Wir haben zwar riesige Fernsehsender, aber die sind derart miserabel, daß Kultur darin keine Rolle spielt. Und die einzige intelligente Zeitung ist die New York Times, die aber außerhalb der Stadt nur von wenigen gelesen wird. Das führt dazu, daß man in den Vereinigten Staaten als Romancier oder Lyriker wie von selbst marginalisiert wird, man führt ein verborgenes Leben im Schatten dessen, was wirklich zählt: Big Hollywood, Big Rock’n Roll, Big Business, und der Rest wird weithin ignoriert. Das einzige, was die Leute hier wirklich interessiert, ist Geld. Und das färbt natürlich auf alles ab, was mit Kultur zu tun hat. So wird ein Magazin oder eine Zeitung über einen Schriftsteller nicht deshalb eine Geschichte veröffentlichen, weil man glaubt, er sei ein guter Schriftsteller, denn davon hat sowieso keiner eine Ahnung, keiner hat ein Urteil. Aber wenn ein Romancier aus irgendeinem Grund 200.000 Auflage erreicht und eine Million Dollar kassiert, dann ist das eine Nachricht, und dann machen sie einen Bericht. In Deutschland hingegen sind das nicht die Kriterien der Berichterstattung. Da gibt es Reporter und Kritiker, die sagen einfach, ich finde den Autor X oder Y gut, über den möchte ich gerne was machen, und der zuständige Redakteur sagt, einverstanden - selbst dann, wenn der betreffende Autor nur zehn Exemplare seines Buchs verkauft hat.“
Das sei ein ziemlich drastisches Bild der amerikanischen Situation, sagte ich, und es klinge so, als wäre Auster darüber traurig. Auster antwortete: „Na ja, einerseits könnte man es wirklich tragisch finden. Andererseits aber ist es gar nicht schlecht, weil es ziemlich genau widerspiegelt, was die Leute wirklich denken und was sie wirklich interessiert. Darüber soll man sich nicht hinwegtäuschen, auch wenn man es falsch findet. Vor allem aber, und das finde ich interessant, zwingt es dich als Autor, bei deiner Sache zu bleiben. Wenn du dauernd an den Rand der Geschehnisse gedrängt wirst, bleibt dein Blick auf die Dinge kritisch und klar. Es gibt keine wirkliche Chance, in die Machtstrukturen des Landes verstrickt zu werden, und deshalb ist es leichter, die eigene Autonomie zu wahren. In Europa gibt es eine Menge Schriftsteller, die fast so etwas wie Fernsehberühmtheiten sind, und sie quatschen über alles und jedes, dummes Zeug manchmal. Denen kannst du ein Mikrophon ins Gesicht halten, und sie fühlen sich veranlaßt, was zu sagen, obwohl sie gar nichts zu sagen haben. Alles in allem: Hier in Amerika ist es weder besser noch schlechter, sondern einfach anders. Aber wenn man auf das guckt, was amerikanische Schriftsteller im Vergleich zu den europäischen derzeit veröffentlichen, dann denke ich, daß die Amerikaner einfach besser sind. Da ist mehr Kraft dahinter, mehr Talent, mehr Originalität, ein größeres Feld an ästhetischen Positionen und eine ernsthaftere Beschäftigung mit der Gesellschaft und ihrer Realität. Denn schließlich ist es nicht die Aufgabe eines Schriftstellers, bloß über Politik zu reden und Tagesereignisse zu kommentieren. Seine Aufgabe ist die Kunst, und die reagiert eigenständig auf die Welt um uns herum. So könnte es sein, daß die amerikanischen Schriftsteller letzten Endes viel politischer sind als die europäischen.“
4.
Lassen Sie mich ein drittes und letztes Beispiel erwähnen, den Schriftsteller Michael Chabon, dessen Romane Die Geheimnisse von Pittsburgh und Wonder Boys auch deutschen Lesern bekannt sind. Chabon lebt in Los Angeles, einer Stadtregion mit etwa 14 Millionen Einwohnern und sehr wenigen Schriftstellern.
Ich fragte Chabon, ob es eine intellectual community gebe, und er sagte: „Das Land ist zu groß. Etablierte seriöse Schriftsteller, die zusammenträfen und miteinander redeten - nein. Ich habe einige Freunde, die Drehbuchautoren sind. Vielleicht gibt es so etwas in New York. Mir scheint, daß sich die Schriftsteller in New York untereinander kennen und sich häufiger begegnen. Aber das ist die Ausnahme. In der öffentlichen Arena haben die amerikanischen Schriftsteller abgedankt, und das hängt damit zusammen, daß keiner mehr in diesem Land Bücher liest. Schriftsteller haben Einfluß, wenn sie gelesen werden, aber hier werden sie nicht gelesen. Tut mir leid, das sagen zu müssen, aber Literatur ist zu einer marginalen Kunstform geworden. Schriftsteller werden nicht mehr für wichtig gehalten, man geht eben ins Kino oder sieht fern. Ich glaube bestimmt, daß das vor der Epoche des Fernsehens und des Films anders war, da gab es diese Konkurrenz nicht. Eine Figur wie Mark Twain, der als Schriftsteller eine nationale Autorität war, ist heute unvorstellbar. Noch in den Dreißigern gab es Dutzende einflußreicher Zeitschriften, die literarische Texte druckten und die gelesen wurden. Literatur war eine populäre Kunstform, damals, als es noch eine Mittelschicht gab, die es wichtig fand zu lesen. Das waren überhaupt keine Intellektuellen, aber sie waren davon überzeugt, daß an Büchern etwas Gutes, Nützliches sei, und sie hatten Bücher. Das ist vorbei. Es gibt diese Mittelschicht nicht mehr, nur noch eine kleine Oberschicht und eine riesige Unterschicht. Leute mit einer durchschnittlichen Intelligenz fühlen sich nicht mehr verpflichtet zu lesen, sie sagen, ich habe einfach zuwenig Zeit dafür, bin zu müde. Geht man in das Haus solcher gut verdienenden und intelligenten Leute, dann sieht man, daß sie überhaupt keine Bücher haben, aber natürlich Fernseher und Computer.“
Ich fragte Chabon, ob er sich für Politik interessiere, und er antwortete: „Es ist merkwürdig: Ich persönlich bin sehr interessiert an Politik, ich lese Zeitungen, politische Magazine und versuche, mir ein Bild von der politischen Lage zu machen, aber ich habe keine Ahnung, wie ich das in mein Leben integrieren könnte, es scheint, als ob die Ausdrucksformen, die es dafür gibt, nicht zu mir passen oder daß ich sie nicht beherrsche. Ich sehe dafür keinen Platz in meinem Schreiben. Und immer, wenn ich versuche, in politischem Sinn zu schreiben, klingt es falsch, es dringt nicht an mein Ohr. Ich habe starke politische Empfindungen, und ich scheue mich nicht zu sagen, daß ich ein Linker bin. Aber ich könnte mir nicht vorstellen, einen politischen Kommentar zu schreiben. Protest dieser Art kommt mir letztlich wirkungslos vor. Und ich glaube, niemanden würde es interessieren, was ich dazu zu sagen hätte.“
Auf meine Frage, ob die Schwierigkeit, sich als Schriftsteller politisch zu äußern, ein generelles Problem sei, antwortete Chabon: „Ich weiß es nicht. Ich kann mich an keinen guten, erfolgreichen Roman erinnern, der entschieden politisch gewesen wäre. Vielleicht Fegefeuer der Eitelkeiten von Tom Wolfe, der versucht hat, das ganze Spektrum der amerikanischen Gesellschaft zu schildern, und das hatte sicherlich eine starke politische Komponente. Ich mag den Roman nicht sehr. Einige der Figuren sind nicht gut entwickelt, und ich verspürte eine große Ungeduld, das ganze Ding zu Ende zu lesen.“
Was fragen amerikanische Journalisten? „Amerikanische Journalisten stellen nie politische Fragen. Es sind also nicht nur die amerikanischen Schriftsteller, die sich nicht öffentlich zur Politik äußern, es sind auch die Medien, die daran nicht interessiert sind. Es würde nie passieren, daß ein Reporter einen Schriftsteller fragt, was er von dem oder jenem hält, es sei denn, der Autor wäre ein Schwarzer oder ein Asiate und er würde darüber befragt.“
Ich sagte, es könne ein Vorteil sein, daß die Autoren in den USA nicht dauernd befragt und dadurch gestört werden. Chabon meinte: „Ich habe nie darüber nachgedacht. Ich weiß gar nicht, wie es wäre, derart gefragt zu sein, so daß ich auch nicht weiß, wie es wäre, sich dadurch gestört zu fühlen.“
5.
Ich mache nun einen Sprung zurück ins vertraute Gelände. Die europäische, die deutsche Situation ist unzweifelhaft völlig anders. Ich sage damit nicht, daß der deutsche Schriftsteller damit leben müsse, schon beim Frühstück von Fernsehreportern umlagert zu sein. Schreiben ist ein einsames Geschäft, und die Gratifikationen sind spärlich. Wer das Gefühl hat, er und seine Arbeit werde nicht genügend wahrgenommen, der befindet sich in zahlreicher und in bester Gesellschaft. Das ist nicht mein Punkt, sondern ich behaupte, daß es wenige Länder gibt, in denen es so leicht ist, ein Podium zu erklimmen wie in Deutschland. Es gibt ja fast mehr Podien als Schriftsteller. Jede evangelische Akademie, jedes Fortbildungsseminar, jedes städtische Kulturreferat freut sich, einen leibhaftigen Dichter als Gast zu haben, und in den Literaturhäusern, Kulturfabriken, Museen und Stadttheatern der Republik vergeht kein Abend, an dem nicht irgendwelche Diskussionen und Lesungen stattfänden. Wer zu welchem Thema auch immer eine Meinung hat, sei es zur Hirntoddebatte oder zur Goldhagenkontroverse, zur Wehrpflicht oder zur deutschen Iranpolitik, kann ziemlich sicher sein, daß er seine Ansichten dazu irgendwo loswerden könnte, in einem Feuilleton oder in einer Talk-Show, in einer Zeitschrift oder auf einem Podium.
Die Frage aber lautet: Ist es überhaupt noch von Belang, eine Meinung zu haben? Hat noch jemand Lust zum Zwischenruf, zur Intervention? Etwas hat sich geändert. Es sieht so aus, als wäre der prophetische, von Jürgen Habermas geprägte Begriff der neuen Unübersichtlichkeit endlich zur schieren Realität geworden. Die Menge der Themen, um die man sich kümmern könnte, ist ins Unermeßliche gewachsen, und die Zahl der veröffentlichten Meinungen übersteigt die Zahl der vernünftigerweise denkbaren Meinungen allemal.
6.
Im Rückblick scheint mir der Austritt von Günter Grass aus der SPD deshalb bemerkenswert, weil er das Ende einer Epoche bestätigte. Schon damals, 1993, war die lange Zeit vertraute Personalunion des Schriftstellers und des engagierten Intellektuellen zerbrochen. Sie entsprang der Vorstellung, der Schriftsteller sei ein Seismograph des gesellschaftlichen Gefüges. Früher als andere spüre er kommendes Unheil. Deshalb sei er verpflichtet, öffentlich an der Schadensvorsorge mitzuwirken. Und weil das Unheil, aller deutschen Erfahrung nach, von rechts kam, gab der engagierte Autor links sein Bestes, öffentlich redend und handelnd: bei Demonstrationen, etwa gegen die Notstandsgesetze; bei Blockaden, zum Beispiel gegen die Stationierung von Raketen; bei Friedensmärschen und auch, wie besonders Grass, in Wahlkämpfen für die SPD.
Es war eine schöne Zeit, es war die gute alte BRD. Es gab Links und Rechts, es gab Vernunft und Fortschritt und das Reaktionäre, es gab das Kapital und die internationale Solidarität. Man war für die SPD, mit Zweifeln, und gegen die CDU, ohne Zweifel. Man war für den Frieden und gegen die Rüstung, für Chancengleichheit und gegen Eliten. Das hatte seine Ordnung, die Fronten waren klar. Und in dieser Situation hatten die Schriftsteller und die Intellektuellen durchaus eine Art von Macht: Sie bestimmten den Diskurs, sie besetzten die Begriffe. Der berühmte Stuttgarter Schriftstellerkongreß, damals 1970, mit Heinrich Böll und Willy Brandt auf dem Podium, war der Höhepunkt einer vorübergehenden Versöhnung von Geist und Macht, von Politik und Intellekt.
Das war so schön, das kommt nie wieder. Und einigen erscheint es im Rückblick so, als wäre es nie gewesen. In einem Gespräch mit der Frankfurter Rundschau, geführt aus Anlaß seines Abschieds von der SPD, also mehr als zwanzig Jahre später, antwortete Günter Grass auf die Frage, was es für ihn bedeute, nunmehr im Abseits zu stehen: „Was heißt hier abseits, ich habe nie im Zentrum gestanden. Auch Böll hat sein ganzes Leben als Schriftsteller am Rand verbracht.“ Keine Rede mehr von Stuttgart, keine Erinnerung mehr daran, daß Böll 1972 den Nobelpreis erhalten hatte, daß die Zeitungen, und nicht nur die Feuilletons, damals voll waren von Grass und seinen Auftritten für die SPD. Daß Schriftsteller am Rand stehen, ist vermutlich eher der Normalfall, aber wenn jemand dort gewiß nicht anzutreffen war, dann Heinrich Böll und Günter Grass.
7.
Woher kommt diese merkwürdige Geschichtsklitterung? Im Sommer 1990, also kurz nach dem Ende der DDR, hielt Walter Jens auf einem Symposium im Cecilienhof eine Rede etwa folgenden Inhalts: Trotz der unterschiedlichen gesellschaftlichen Systeme hätten die beiden deutschen Literaturen etwas Gemeinsames gehabt und seien im Grunde eine einzige Literatur gewesen. Sie habe für humane Prinzipien gekämpft und gegen Repression und Restauration Widerstand geleistet. In der DDR sei dies natürlich unter härteren Bedingungen geschehen. Die Schriftsteller dort hätten sich für ein neues und besseres Deutschland eingesetzt, gegen den Stalinismus und für einen menschlichen Sozialismus. Die Schriftsteller in der Bundesrepublik hätten es zwar leichter gehabt, aber nicht leicht. Sie hätten gekämpft gegen die Restauration der Adenauerzeit, gegen die Aufrüstung und gegen die wachsende Einschränkung der Meinungsfreiheit. Sie seien dafür bestraft worden durch Ausgrenzung und Mißachtung.
Ich nenne diese Lesart eine Legende. Sie hat damals, im Fortgang des Streits um Christa Wolfs Erzählung Was bleibt, ihre Blütezeit erlebt. Immer wieder zitierte man zum Beweis der erlittenen Repression die „Pinscher“ des Ludwig Erhard, die „Ratten und Schmeißfliegen“ des Franz Josef Strauß. Ich behaupte wohlgemerkt nicht das Gegenteil, ich streite zum Beispiel die konservative Konterattacke nicht ab, wie sie sich damals im Radikalenerlaß und in der Sympathisantenjagd realisiert hat. Aber heute, ein Vierteljahrhundert danach, wird man sagen müssen, daß all diese Kämpfe zu einer Modernisierung dieser Gesellschaft geführt haben, zu einer bis dato unvorstellbaren Veränderung traditioneller Lebensformen, und schließlich zu dem, was was man gegenwärtig die „zweite Moderne“ nennt.
Die Frage, ob dieser Modernisierungsschub als ein Segen oder als ein Fluch betrachtet werden muß, würde ich gerne Abitursaufsätzen überlassen. In meinen Augen jedenfalls steht fest, daß der heroische Kampf der sechziger Jahre, der Widerstreit zwischen Les Anciens et les Modernes, also zwischen den Reaktionären und den Fortschrittlichen, den Rechten und den Linken, weder Sieger noch Verlierer kennt, sondern, wie es in der Geschichte ohnehin die Regel scheint, etwas Drittes herausgekommen ist, was weder die einen noch die anderen beabsichtigt hatten. Aus der Befreiung der Sexualität wurde die Sexualisierung der Werbe- und Medienwelt; aus der Selbstverwirklichung wurde das exhibitionistische Gequatsche der Talk Shows; die Emanzipation der Frau mündete in ihre universelle Einsetzbarkeit; aus dem Affront gegen das Autoritäre und Elitäre entstand das Gefühl, daß jeder darf, wenn er nur will; und die Auflösung der alten Kleinfamilie war die Bedingung jener Mobilität, die heutzutage jeder Unternehmer beschwört.
Es ist, wie gesagt, durchaus fraglich, wie wir diese Prozesse bewerten sollen, und ich halte, nebenbei gesagt, wenig davon, in einen Kulturpessimismus zu verfallen und sich darüber zu beklagen, daß die einstmals gedachten und versuchsweise gelebten Realutopien von der Realität befleckt worden seien. Wenn wir die gegenwärtige junge Generation betrachten, so müssen wir zugeben, daß diese Generation ganz andere Probleme hat, als wir sie hatten, daß nicht wenige dieser Probleme von uns verursacht worden sind und daß die neue Generation beim Umgang mit diesen Problemen einiges von dem brauchen kann, was sie von uns gelernt hat.
Das Bild vom heroischen Kampf jedoch, vom Kampf etwa der Gruppe 47 gegen eine rückständige Kritik oder der Achtundsechziger gegen das Establishment, das Bild von der zynischen Übermacht der Reaktionäre und vom entsagungsvollen Heldenmut der progressiven Intellektuellen, dieses Bild ist nichts anderes als eine Legende. Aus den Rebellen von einst ist längst das neue Establishment geworden.
8.
Interessant für meine Zwecke finde ich die Beobachtung, daß diese Legende auf der kurzschlüssigen Verbindung von Engagement und Opfer beruht. Der Intellektuelle, der sich öffentlich engagiert hat, sonnt sich gerne in dem Gefühl, etwas für die Allgemeinheit oder gar für die Menschheit getan zu haben, und das Ausmaß dieser guten Tat steigt mit der Menge der Widerstände und Gefahren, die er dabei überwinden mußte. Die Wahrnehmung, daß er sich in Wahrheit in einem Strom gleicher Bestrebungen und Gesinnungen befand, müßte natürlich die Größe seiner Leistung, das Besondere seiner prophetischen Warnung herabmindern.
Der Begriff des Intellektuellen aber kann ohne den Gedanken der Besonderheit kaum gedacht werden. Der Intellektuelle ist der besondere Geisteskopf, der gegen die Masse, gegen die Mode und gegen die Macht denkt und agiert. Aus diesem Grund liebt der Intellektuelle die Rolle des Opfers, besonders dann, wenn es sich um imaginäres Opfertum handelt. Das kann insofern peinlich werden, als es wirkliches Opfertum allzu oft gibt, wie wir den Berichten von amnesty oder des Kommitees Writers in Prison entnehmen können.
Die angemaßte Opferrolle von Günter Grass, Walter Jens und manch anderen ist aber nicht nur peinlich, sie ist auch komisch. Es handelt sich nämlich um eine postmodern gemilderte und sozialstaatlich abgefederte Variante des alten Kassandra-Mythos. In gewisser Hinsicht war Kassandra die erste Intellektuelle überhaupt. Sie sagte das Unheil voraus, aber keiner hörte zu. Die Rolle des Unheilspropheten haben die Intellektuellen immer gerne übernommen. Im Grunde ist es eine dankbare Rolle. Trifft das Unheil nicht ein, so ist ein jeder froh, und keiner nimmt die falsche Vorhersage übel. Trifft es aber ein, so hat der Prophet recht behalten, und er darf sich feiern lassen.
So war es einmal, aber so ist es nicht mehr. Heutzutage ist die alte Kassandra arbeitslos geworden. Die Nachfrage nach Unheilsbotschaften sinkt seit geraumer Zeit, und die allgemeine Resistenz gegen prophetische Warnungen ist gestiegen. Zugleich hat sich in der kassandrischen Branche ein ganzer Berufsstand fest etabliert, mit Rentenanspruch und Weihnachtsgratifikation. Der Journalismus in all seinen Ausprägungen, ob als Nachrichtensendung oder Kommentar, als Reportage oder Faktenbericht, hat sich dem Rufer in der Wüste beigesellt und übertönt seinen Klagegesang durch die Kakophonie der Medien. Wissenschaftlich oder weltanschauliche Vereinigungen, vom ökologischen Institut bis zur evangelischen Akademie und zum parteinahen Weltkatastrophenkolleg, liefern computergestützte Daten und politisch aufbereitete Deutungen, was zu Folge hat, daß kein Acker des Unheils, ob Ozonloch oder Flüchtlingselend, unbestellt bleibt.
Was vermag der sonore Baß eines Schriftstellers gegen das Stimmengewirr der Talk-Shows? Bevor der Gesamtintellektuelle der Nation vor dem neuen Rassismus warnt, hat der Spiegel längst eine Titelgeschichte dazu, lädt Sat1 die Brandstifter ins Studio und erscheint in der ZEIT die Moral von der Geschichte.
9.
Wir haben es heute mit einem anderen Strukturwandel der Öffentlichkeit zu tun. Der Begriff stammt von Jürgen Habermas, einem der Überbliebenen aus der Ära des intellektuellen Heroismus. Der Strukturwandel nivelliert die moralische Autorität durch die permanente Parade des Meinens und Dafürhaltens. Der Schriftsteller, ehemals Universalagent des wahren gesellschaftlichen Interesses, ist nunmehr wirklich an den Rand gedrängt. Das aber verdankt sich nicht allein der Tücke der Medien, sondern mehr noch der Tatsache, daß dieses wahre Interesse absolut unklar geworden ist. Ich behaupte, daß keine einzige der heute brennenden Fragen in die vertrauten ideologischen Schubladen einsortiert werden kann. Im Golfkrieg kam das Durcheinander erstmals auf den Tisch, und der unlösbare Konflikt lautete: Nie wieder Krieg? Oder: Nie wieder Auschwitz? Seitdem ist alles noch schlimmer, noch lustiger geworden, scheinen schier alle Fragen unlösbar, die ernsten (Holocaust-Denkmal ja oder nein?) und die weniger ernsten (Schröder oder Lafontaine?). Und übers Ökonomische darf man schon gar nicht nachdenken. Natürlich muß die Staatsquote gesenkt werden, aber wo kürzen? Nicht bei der Kultur, nicht bei den sozialen Leistungen, das ist klar. Und jeder soll studieren dürfen, es muß mehr Geld her für die Universitäten. Aber heimlich denkt man: Leistung muß ja sein, Elite auch.
Der Abschied von gestern fällt schwer. Und in diesem seltsamen Zustand des Trübsinns und der Ermattung diskutieren wir die wichtigen Fragen, die schwer oder nicht lösbar erscheinen, überhaupt nicht, und die, die vergleichsweise unwichtig sind, mit umso größerer Inbrunst. Oder weiß jemand eine andere Erklärung für den Treppenwitz, daß die besten Schriftsteller und Intellektuellen der Nation vor genau einem Jahr und drei Monate nach der endgültigen Verabschiedung der Rechtschreibreform und zwei Jahre nach dem Beginn ihrer Diskussion plötzlich aufgewacht sind? Und daß sich nun eines der großen Erregungsthemen dieses Landes auf die Frage reduziert, ob die armen Kinder den Stuß der öffentlichen Debatte mit Doppel-S oder mit ß schreiben sollen.
Es war unglaublich: Ernst Jandl verbündete sich mit Walter Kempowski, Günter Grass stand Seit an Seit mit Ernst Jünger. Politische und literarische Differenzen zählten nicht mehr. Gab und gibt es nichts Wichtigeres? Zweifellos. Eben deshalb, weil die Rechtschreibreform nicht sehr wichtig ist, regt sich die Wut über die verlorenen Groschen vertrauter Buchstaben. Jemand hat ausgerechnet, daß die neue Schreibweise lediglich 0,02 Prozent aller Wörter betrifft. Wer etwa Die Woche liest, die schon seit einem Jahr nach den neuen Regeln schreibt, wird Mühe haben, die Unterschiede zu bemerken.
10.
Etwas ist weggerutscht, etwas ist abhanden gekommen. Intellektuelle Öffentlichkeit ist nur noch Fiktion. Interventionen finden nicht mehr statt. Auf welcher Basis auch? Wer wüßte denn noch eine Alternative zum Bestehenden, die mehr wäre als nur ein Augenblicks- und Geschmacksurteil, und die imstande wäre, das Gerede in den Kneipen und in Talk-Shows ein für allemal in den Schatten zu stellen?
Betrachten wir die Themen, die diskutiert werden und die, die nicht diskutiert werden. Der letzte Erregungspunkt, vor der Rechtschreibung, war Goldhagen. Aber war es eine Diskussion? Den Streit führten deutsche Fachhistoriker, die sich darüber empörten, daß ein fachfremder Soziologe, noch dazu Jude und Amerikaner, eine Frage stellte, die sie glaubten, längst abgehandelt zu haben, und daß er auf diese Frage eine herausfordernd kühne und simple Antwort gab. Ob Goldhagens Antwort falsch sei oder nicht, darüber ging die Diskussion nur am Anfang. Als das Buch in gewaltigen Auflagen unters Publikum kam, als mehr und mehr historische Laien den zahlreichen Debatten beiwohnten und mit ihrem Beifall Goldhagens Reise durch Deutschland zum Siegeszug machten, da wurde klar: Es handelte sich nicht um eine jener kontroversen Diskussionen, wie sie das Land schon früher erlebt hatte, etwa, als die Täterkinder ihre Eltern zur Rechenschaft zogen und mit der Frage „Wo warst Du?“ den Generationskonflikt in nicht ganz uneigennütziger Absicht politisierten. Es handelte sich überhaupt nicht um eine Diskussion, wenn man darunter das Gegeneinander verschiedener und vielleicht unvereinbarer Positionen versteht. Es handelte sich bei der Goldhagen-Debatte um eine kollektive Selbstbezichtigung, eine augenblickshafte negative Erweckungsbewegung, zu deren wichtigstem Merkmal die Tatsache zählte, daß die Täter längst tot und ihre Sympathisanten uninteressiert waren, daß also nichts auf dem Spiel stand.
Die Goldhagen-Debatte war ein Beispiel für das, was ich Konsens-Debatte nenne. Eine Konsens-Debatte zeichnet sich dadurch aus, daß ihren Teilnehmern nicht nur der Konsens untereinander, sondern vor allem der Konsens mit sich selber am Herzen liegt. Den aber erzielt man nur, wenn man die aporetischen Themen meidet. In die Aporie, also in die zunächst heillose, am Ende aber nützliche Ratlosigkeit führen all jene Fragen, für die Antworten nicht mehr frei Haus geliefert werden, sei es, weil die alte Ideologie, die das früher besorgte, dienstuntauglich geworden ist, sei es, daß man einfach zuviel weiß. Um dem Schmerz der Rat- und Hilflosigkeit zu entfliehen, redet man über Themen, die entweder gegenstandslos sind oder keine Ambivalenz erlauben.
Gegenstände gäbe es ja. Zum Beispiel Nordkorea. Ich will gar nicht an die Vietnam-Demonstrationen erinnern, denn das war eine andere Zeit. Aber die Tatsache, daß eines der letzten kommunistischen Regime sein Volk einsperrt und verhungern läßt, nur um die Reinheit einer Ideologie zu retten, hat zu keiner nennenswerten Empörung geführt. Handelte es sich um ein faschistisches Regime, wäre sie vermutlich größer.
Und falls Korea zu weit weg ist, dann könnte doch die Kürzung der Kulturetats, die ja immerhin das eigene Interesse berührt, eine Art von Erregung hervorrufen. Daß die inzwischen an die bloße Existenz gehende Not der Bibliotheken und wissenschaftlichen Apparate in Berlin und anderswo nicht Thema eines Protests ist, der ähnlich leidenschaftlich und geschlossen vorgebracht würde wie der gegen die Rechtschreibreform - das in der Tat ist seltsam. Was ist los?
11.
Die Konsens-Debatte (und also der Mangel an polemischer Energie, der Mangel an politischem Scharfsinn) ist der vollkommene Ausdruck der Ära jenes Kanzlers, den die Intellektuellen immer verachtet haben und dem die Kommentatoren Jahr um Jahr das sichere Ende prophezeien. Nicht nur, daß dieses Ende keineswegs in Sicht ist, daß nicht einmal ein Gegner, der eine politische Alternative verkörperte, sichtbar wäre - Helmut Kohl (wir alle mußten es lesen) ist der demokratisch gewählte deutsche Kanzler mit der längsten Amtszeit. Und die meisten haben mißachtet, daß, da das menschliche Leben zeitlich begrenzt ist, Dauer ein Machtfaktum darstellt.
Kohl ist ein solches Faktum, und offenbar hat es Folgen, auch für die geistespolitische Lage. Insofern nämlich, als die Entpolitisierung der Politik, die Kohl betreibt, uns alle längst ergriffen hat. Sie zeigt sich als die totale Entpolitisierung der intellektuellen, der literarischen Öffentlichkeit, deren seit langem höchste Erregung nun die Frage hervorruft, ob Kristallüster mit zwei oder mit drei l geschrieben werden soll.
Es wäre andererseits eine Überschätzung Helmut Kohls, wollte man ihm nachsagen, er präge von sich aus die Zeit. Er ist nur ihr Ausdruck, weil er sie am besten, ohne sie wirklich begriffen zu haben, verstanden hat. Was an der Zeit sei, ist immer am schwersten zu sagen, versteht man doch kaum das Vergangene. Auffällig ist allerdings, daß Bemühungen, die Gegenwart zu verstehen und entsprechend zu intervenieren, kaum sichtbar sind. Allenthalben herrschen Rückzug und das Bedürfnis nach subjektiver Entlastung. Das matte und beleidigte Scharmützel um die Vergangenheit Stephan Hermlins, die doch Anlaß hätte sein können, die zweite deutsche Vergangenheitsbewältigung selbstkritisch und ernsthaft zu beginnen, wirkte nur noch wie das Wetterleuchten einer allmählich abziehenden osteuropäischen Randstörung.
12.
Ruhe scheint nun die erste Bürgerpflicht unter den Intellektuellen des Landes. 1967 schrieb der damals rasend berühmt werdende junge Dichter Peter Handke einen Aufsatz, in dem er sich gegen die beginnende Politisierung wehrte. „Ein engagierter Autor kann ich nicht sein, weil ich keine politische Alternative weiß zu dem, was ist.“ Das war immerhin ehrlich. Der Aufsatz trug den programmatischen Titel Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Da sind wir wieder.
Man kann das beklagen. Es zu ändern liegt kaum im eigenen Ermessen. Denn die Rückkehr zur alten Gesinnungsästhetik, die sich immer auf der politisch richtigen Seite wußte, kann nicht gelingen. Das Richtige ist nicht in der Rechten und auch nicht in der Linken. Man kann den Stand der Dinge aber auch begrüßen, und das, wie mir scheint, mit den besseren Argumenten. Denn der Elfenbeinturm ist der angestammte Aufenthaltsort des Individuums. Dort gibt es weder Gefolgschaften noch Seilschaften. Dort muß ein jeder auf eigenes Risiko denken und schreiben, und er hat jenen freien, distanzierten Blick auf die Welt, der alles in allem die Bedingung guter Literatur zu sein scheint.
Hat Paul Auster nicht recht, wenn er sagt, die Position am Rande erlaube es, bei der Sache zu bleiben und die eigene Autonomie zu wahren? Und könnte es nicht sein, daß seine These zutrifft, die amerikanische Literatur sei auch deshalb reicher und phantasievoller? Ich will den alten Streit um die vorgebliche Unlesbarkeit großer Teile der deutschen Gegenwartsliteratur nicht wiederbeleben. Jede Art des Schreibens hat ihr Recht und ihr Verdienst. Aber die Frage, weshalb kaum noch deutsche Bücher ins Ausland verkauft werden, die Frage, weshalb in deutschen Buchhandlungen die Titel ausländischer, vor allem amerikanischer Autoren obenauf liegen, sollte uns schon beschäftigen. Wenn mit der Metapher vom Elfenbeinturm gemeint sein soll, daß der Schriftsteller unbeeinträchtigt vom allgemeinen Getöse und Gequatsche seiner Sache obliegt, dann ist der Elfenbeinturm keine schlechte Adresse. Literatur entsteht, vielleicht nicht notwendigerweise, aber doch sehr oft, aus der Abseitsposition.
13.
Der Schriftsteller darf sich also wieder auf sein Eigentliches konzentrieren. Ist das schade? Manchmal scheint mir, als hätten wir einen sehr kleingläubigen Begriff von Literatur. Kann sie nicht mehr als alle Leitartikel zusammen? Von ihr dürfen wir das Gegenprogramm zum weißen Rauschen der Informationsgesellschaft erwarten. Der Schriftsteller, der sich endlich von der gesinnungsästhetischen Pflicht entbunden fühlte, könnte wieder agieren als der Freibeuter des Meinungsmeeres, und er könnte ebenso rätselhafte wie überraschende Angriffe auf den Status quo des tausendfach Gesagten verüben. Und wenn er sich dann ganz plötzlich und verrückt wieder in die Politik einmischt, soll er uns lieb sein.
Louis Begley sagte im Gespräch: „Wissen Sie, es wird viel Aufhebens gemacht um den angeblichen Niedergang des Romans, aber ich sehe darin einen Mangel an historischer Perspektive. Schriftsteller sind immer am Rand der Gesellschaft gewesen. Sicherlich, es gab Ausnahmen wie etwa die Verehrung romantischer Dichter im 19. Jahrhundert, aber das ist nicht die Regel. Die lautet eher, daß der Schriftsteller in Einsamkeit vor sich hinkritzelt und gegen die Gesellschaft ist. Denn gute Literatur ist zumeist das, was die Gesellschaft nicht zu hören wünscht. Wenn also ein Schriftsteller über die Runden kommt und schreiben kann, was er will, und außerdem ein paar Leute seine Bücher kaufen, geht es ihm gut, und mehr kann er kaum erwarten.“
Moralische Autorität kommt aus der literarischen Autorität. Und im Grunde müssen wir uns nicht nach dem Zeitpunkt fragen, an dem die so gewonnene moralische Autorität öffentlich ins Spiel kommen muß. Der Augenblick des Widerstands ist selbstevident. Jeder weiß ihn für sich selber, und wenn sich die kritische Masse verdichtet, wenn der historische Kulminationspunkt gekommen ist, dann dürfte es doch kein Problem sein, den Elfenbeinturm zu verlassen.
14.
Bei Lewis Carroll stellt die Schachkönigin das Mädchen Alice als Zofe an und verspricht ihr „zwei Groschen die Woche und anderntags Marmelade - also gestern Marmelade und morgen Marmelade, aber niemals heute Marmelade“. Alice findet das schrecklich verwirrend. „Das kommt davon“, sagt die Königin, „wenn man rückwärts in der Zeit lebt. Anfangs wird man davon leicht ein wenig schwindlig, aber einen Vorteil hat es doch, nämlich daß das Gedächtnis nach vorne und rückwärts reicht.“ Alice entgegnet: „Ich kann mich nie an etwas erinnern, bevor es geschieht.“ - „Eine dürftige Art von Gedächtnis“, sagt die Königin. Sie ist die wahre Schriftstellerin: Anderntags Marmelade und heute Literatur.