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Ulrich Greiner

Der Betrieb tanzt
Über Literatur und öffentlichkeit

Der folgende Vortrag wurde im März 1998 auf der Leipziger Buchmesse gehalten.

Das Geschäft blüht. Zwar klagen die Buchhändler, klagen die Verlage, aber ich kann mich nicht erinnern, daß sie jemals nicht geklagt hätten. Die Titelproduktion wächst Jahr um Jahr, jede Buchmesse ist größer als die vorherige, die Umsatzkurve hat ein paar Beulen, aber über die Jahre hinweg ist sie stetig gestiegen.
Und doch hat sich etwas verändert. Wer den Literaturbetrieb teilnehmend beobachtet, der sieht diese Veränderungen deutlich. Die Stichworte lauten Verdrängungswettbewerb und Amerikanisierung der Branche. Dem Wachstum folgt die Beschleunigung der Produktion, und die Beschleunigung verändert auch die Wahrnehmung und Rezeption von Literatur, sie verändert auch die Literaturkritik.
In Christine Eichels kürzlich erschienenem Roman Gefecht in fünf Gängen, der unter anderem eine Satire auf die Gattung der Kritiker, Verleger und Agenten ist, taucht eine gewisse Regina von Kresswitz auf, von Beruf Partygast. Auf die Frage der Gastgeberin, was sie denn gerade so treibe, antwortet sie: „Du weißt ja, panta rei, das ist Latein und heißt Things are changing!“. In diesem Sinne lohnt es sich vielleicht, einige Veränderungen des Betriebs genauer zu betrachten.
Nehmen wir als jüngstes Beispiel den Fall Robert Schneider. Als sein zweiter Roman Die Luftgängerin am 5. Januar dieses Jahres erschien, gab es einen Hagelsturm zorniger Verrisse. In einem Interview, erschienen in der Süddeutschen Zeitung vom 4. Februar 1998, sagte Robert Schneider: „Von den 85 Rezensionen, die bislang erschienen sind, waren zwei keine Verrisse.“ Zugleich sagte er: „Da in in den ersten zwei Wochen bereits mehr als 57.000 Exemplare verkauft worden sind, kann ich nicht klagen.“ Auf die Frage, ob es wahr sei, daß er eine Million Vorschuß erhalten habe und daß ihm für die Lesereisen ein Wagen mit Chauffeur zugesichert worden sei, antwortete Schneider: „Einen Chauffeur gibt es nicht. Garantiesummen zu verhandeln, ist gang und gäbe. Es geht darum, daß ein Schriftsteller wieder sagt: Ich bin der König - nicht der Verleger, nicht der Lektor, nicht die Kritiker. Das sind Vampire, die am Erfolg oder Mißerfolg eines Buches saugen und nur deshalb erfolgreich sind, weil die Bücher existieren. Sie alle haben sich gefälligst wieder der Literatur mit mehr Demut zu nähern!“ Und in einem Interview, das die Münchner Abendzeitung mit ihm führte, sagte er über seine Kritiker: „Es ist der blanke Neid. Ich glaube, daß die Literaturkritik im Untergehen ist. So wie sie besteht und bestand, kann sie nicht mehr funktionieren. Da ist ein Kampf entbrannt, ein letztes Aufbäumen der Literaturkritik - aber das hat nichts mit meinem Buch zu tun. Da geht es nicht um Robert Schneider, ich bin nur der Anlaß.“
An dieser Geschichte fallen mehrere Dinge auf:
1. Die Quantität und Schnelligkeit der Rezensionen;
2. Der Erfolg des Romans ungeachtet der Verrisse;
3. Die vermeintliche oder tatsächliche Emanzipation des Autors von der Institution der Literaturkritik.
Mir scheint, daß wir Punkt 1 und 2 zusammen betrachten müssen, weil sie beide abhängig sind vom Marketing-Konzept des Verlages Karl Blessing, der zum Bertelsmann-Konzern gehört. Der Verlag hat am Beispiel der Luftgängerin vorgemacht, wie sich ein Bucherfolg inszenieren läßt. Der 1961 geborene Robert Schneider war mit seinem ersten Roman Schlafes Bruder plötzlich bekannt geworden. Erschienen 1992 im Reclam Verlag Leipzig erreichte das Buch bis heute eine Auflage von 1,3 Millionen.
Als er sich entschloß, die Luftgängerin zu veröffentlichen, mag dem Verlag die folgende Überlegung vor Augen gestanden haben: Der Roman war gescheitert. Er war sogar derart schlecht, daß eine nachbessernde Lektoratsarbeit wenig ausrichten und nur Geld kosten würde. Aber: Alle Wahrscheinlichkeit sprach dafür, daß von den 1,3 Millionen Buchkäufern des ersten Romans ein nennenswerter Teil auch den zweiten Roman kaufen würde – und dies umsomehr, als Schlafes Bruder von Josef Vilsmair erfolgreich verfilmt worden war.
Natürlich muß auch den anderen Verlagen dieser naheliegende Gedanke gekommen sein. Daß sie ihm nicht folgten, mochte zwei Gründe haben. Erstens gibt es immer noch Verlage, die einen Ruf zu verlieren haben und schlechte Bücher selbst dann nicht publizieren, wenn sie Erfolg versprechen. Zweitens war klar, daß dieses offenkundig mißratene Buch nur mit einem Überraschungsangriff zum Erfolg geführt werden konnte, und das wiederum würde einen ausreichend hohen Werbeetat voraussetzen.
Die Kampagne für die Luftgängerin lief so ab, daß der Verlag bereits im Herbst 1997 den Roman ankündigte und erhebliche Werbemittel dafür einsetzte. Zur Frankfurter Buchmesse verbreitete man gebundene Leseexemplare. Das Buch war also fix und fertig. Man ließ es aber nicht etwa zur Messe erscheinen, sondern wählte einen ungewöhnlichen Auslieferungstermin: den ersten Verkaufstag im neuen Jahr. Diese Zeit gilt gemeinhin als umsatzschwach, weil die Buchkäufer ihre Geschenke in der Weihnachtszeit besorgt haben und die geschenkten Bücher noch kaum ausgelesen sind. In dieser Zeit verschicken die Verlage ihre Frühjahrprogramme und bereiten die Auslieferung der neuen Titel für die Monate Februar und März vor.
Wer also einen derart ungünstigen Termin wählt, muß eine mächtige Bugwelle an Erwartung erzeugen. Dies gelang dem Verlag, und er erntete dafür den entscheidenden Vorteil, den jeder erntet, der Wind macht in einer windstillen Zeit. Eben weil die Novitäten des Herbstes längst ausgeliefert und fast schon vergessen waren und die Novitäten des Frühjahrs erst in Sichtweite, fand der neue Roman Robert Schneiders diese ungewöhnliche Aufmerksamkeit.
Bis heute sind mehr als 200 Rezensionen erschienen, das Buch steht auf der Bestsellerliste, und die Auflage beträgt 80.000 Exemplare. Da der Verlag keine Auskunft über seine Kalkulation gibt, kann ich nicht beurteilen, ob er damit auf seine Rechnung kommt. Gleichwohl bedeuten 80.000 innerhalb von zehn Wochen verkaufte Exemplare für den zweiten Roman eines jungen deutschen Autors sehr viel. Wenige Altmeister wie Günter Grass, Martin Walser und Christa Wolf schaffen eine solche Auflage. Peter Handke oder Botho Strauß liegen in der Regel deutlich darunter.
Ich versuche mich zu erinnern, ob es einen ähnlichen Fall je gegeben hat. Grass hat sich mit seinem Weiten Feld gegen eine weithin ablehnende Kritik durchgesetzt. Aber Grass ist ein international berühmter Mann und Autor eines beeindruckenden Oeuvres. Auch sind wir es gewohnt, daß Unterhaltungsschriftsteller wie Grisham oder Crichton Erfolge erzielen – völlig jenseits der Kritik. Robert Schneider jedoch ist zunächst den herben Weg eines jeden literarischen Neulings gegangen. 26 Verlage haben damals das Manuskript von Schlafes Bruder abgelehnt (eine Entscheidung, die im Rückblick eine gewisse Milde verdient), bis endlich Reclam Leipzig das Buch machte und die üblichen viertausend Exemplare druckte. Es war damals die seröse Literaturkritik, die Robert Schneiders Erstling freundlich begrüßte, es waren die Rezensenten, die ihm den Weg in die Öffentlichkeit bahnten. Und jetzt die schreiende Undankbarkeit. Das Mündel will Vormund sein.
Was lernen wir daraus? Ist die Literaturkritik tatsächlich am Ende? Wir wissen, daß verrissene Autoren dazu neigen, ausfällig zu werden. Die Literaturgeschichte ist voll davon. Rolf Dieter Brinkmann hat einmal während einer öffentlichen Diskussion nach einem Maschinengewehr verlangt, um Reich-Ranicki niederzumähen. Und was war die Folge? Brinkmann ist tot, und Reich-Ranicki lebt.
Wir könnten also über Robert Schneiders Wutanfall hinweg- und zur Geschäftsordnung übergehen, gäbe es nicht Anzeichen dafür, daß wir etwas genauer hingucken sollten, wenn wir von Literaturkritik reden. Was hat es zu bedeuten, daß 200 Rezensenten wie die Pawlowschen Hunde aufspringen, wenn der Blessing Verlag ihnen die Knochen der Luftgängerin hinwirft?
Die Antwort lautet, daß es sich in den meisten Fällen überhaupt nicht um Literaturkritik handelt. Die klassische Rezension ist weithin ersetzt durch den schnellen Buchtip, durch die literarische Verbraucherberatung, Daumen rauf oder runter. Und für diesen Daumen interessiert sich kein Schwein mehr, wenn das betreffende Buch längst nicht mehr auf den Tischen der Buchhandlungen liegt. Bücher, die sich nicht innerhalb von vier Wochen behauptet haben, verschwinden ins Regal und werden remittiert. Weil das so ist, dürfen Buchtip und Auslieferungstermin nicht zu weit auseinanderfallen.
Von diesem Mechanismus ist auch die Literaturkritik, wie sie in den Feuilletons seriöser Zeitungen erscheint, auf doppelte Weise betroffen. Erstens, weil der Umfang der Literaturseiten und der Literaturbeilagen unmittelbar abhängt von der Werbestrategie der Verlage. Die Menge der Verlagsanzeigen für neu erschienene Bücher bestimmt den Platz für Rezensionen. Daraus folgt zweitens: Weil die Verlage immer kurzatmiger werben, weil sie ihre Anzeigen fast nur noch parallel zum Auslieferungstermin schalten, geraten auch die Literaturredaktionen unter das Diktat des Ex und Hopp: Was heute nicht geht, das geht nimmermehr. Was in den Beilagen, die im Frühjahr und im Herbst erscheinen, keinen Platz findet, ist nahezu verloren.
Kürzlich erklärte mir der Pressechef eines Verlages: Es sei zwar durchaus erfreulich, wenn jetzt, Anfang 1998, noch ein Buch aus dem Jahr 1997 besprochen werde. Der Verlag und der Autor fänden das schön, weil sie sähen, daß ihre Arbeit gewürdigt werde. Allerdings: Für den Verkauf des Buches habe das fast keine Bedeutung mehr.
Aus diesem Grund beschicken die Verlage alle wichtigen Redaktionen mit Vorausexemplaren. Oft sind das fertige Bücher, die sich vom Buchhandelsexemplar lediglich dadurch unterscheiden, daß ein Sperrvermerk eingedruckt ist. Die Sperrfrist aber wird keineswegs immer eingehalten. Bei wichtigen oder scheinbar wichtigen Titeln beginnt ein Wettrennen der Redaktionen, das nicht selten von cleveren Presseabteilungen gesteuert wird. Dann teilt der Pressechef dem Redakteur X vertraulich mit, er habe sichere Anzeichen dafür, daß der Redakteur Y von der Konkurrenz bereits nächste Woche mit seiner Rezension komme, worauf der Redakteur X sich beeilt, schon in dieser Woche dazusein. Und es mehren sich die Fälle, daß die betreffenden Verlage sich selber nicht mehr an den Sperrtermin halten, sondern das Buch früher ausliefern, damit es in den Genuß der Publizität kommt, die durch vorzeitige Rezensionen erzeugt wurde.
Es ist klar, daß solche Praktiken mit Aufwand und mit Kosten verbunden sind. Nicht alle Verlage können das leisten, und vor allem: Sie können es nicht für alle Autoren leisten. Die Folge ist ein gespaltener literarischer Markt. Den gibt es zwar schon lange, aber die Spaltung hat sich vertieft, und die literarische Basis ist schmaler geworden. Die Anzahl der Titel, für die Werbung gemacht wird, ist kleiner geworden. Und daneben gibt es das große Reich der kleinen Verlage, der wenig beachteten Autoren und der eigensinnigen Leser.
Wie geht man, wenn man in einer Zeitungsredaktion arbeitet, mit dieser Situation um? Ich bin weit entfernt von einer kulturpessimistischen Klage, die etwa lautet, es werde immer schlimmer mit dem Literaturbetrieb, und früher sei alles besser gewesen. Das ist nicht wahr. Die Zahl der literarischen Neuerscheinungen ist nach wie vor erstaunlich, und noch erstaunlicher ist die Tatsache, daß immer wieder neue literarische Verlage und Abteilungen entstehen. Ich nenne nur Alexander Fest, den Berlin Verlag, die Frankfurter Verlagsanstalt und die neuen Programme bei DuMont und C.H.Beck.
Schließlich bin ich Journalist, ich mache eine Zeitung, und das geht nicht ohne eine gewisse sportliche Gestimmtheit. Das, worüber geredet wird, ist genuiner Gegenstand einer Zeitung, und es macht mir nichts aus, eine Rezension über den neuen Grisham zu drucken oder beim Wettlauf um die erste Kritik über den Stasi-Roman Magdalena von Jürgen Fuchs mitzuspielen. Andererseits weiß ich, daß ein Literaturblatt nur dann wirklich gut ist, wenn es auch darüber spricht, worüber nicht geredet wird, wenn es eigene literarische Vorlieben verfolgt und Entdeckungen präsentiert.
In diesem Punkt sehe ich meine Macht im Schwinden begriffen. Die bescbriebene Beschleunigung erfaßt auch mich. Ich sehe, daß es an Platzverschwendung grenzt, wenn ich ein Buch besprechen lasse, das vor Monaten erschienen ist. Der interessierte Leser wird es in kaum einer Buchhandlung mehr finden. Er kann nicht mehr darin blättern und sich überlegen, ob er es erwerben will. Er kann es bestellen, aber dann muß seine Entschlossenheit ziemlich groß sein. Und es wäre ebenfalls nahezu sinnlos, Monate später einen Verriß zu drucken. Wenn ich dennoch von Fall zu Fall gegen diese Regel verstoße, dann tröste ich mich mit dem Gedanken, daß das imaginäre Gespräch über Literatur nicht abreißen darf. Und dieses Gespräch ist unabhängig vom Verfallsdatum der Buchzirkulation.
Die Macht einer Literaturredaktion endet aber an den Grenzen des literarischen Gedächtnisses der Leser. Und auch das wird von der Beschleunigung erfaßt. Literarische Öffentlichkeit entsteht ja nicht einfach dadurch, daß Buchhändler die neuen Titel auslegen und Zeitungen Rezensionen drucken. Sie entsteht durch dieses imaginäre Gespräch der Leser untereinander, durch den literarischen Rumor, und natürlich auch durch den realen Austausch von Meinungen, Empfindungen, Empfehlungen.
Das Klima dieser literarischen Öffentlichkeit hat sich verändert. Stellen wir uns eine Party literarisch halbgebildeter Menschen vor. Man ißt und trinkt und redet, und plötzlich sagt einer: Gestern endlich sei er mit den fast tausend Seiten der Niemandsbucht von Peter Handke fertig geworden, und er sei noch ganz beeindruckt davon. „Wie“, entgegnet ein anderer, „meinen Sie das neue Tagebuch? Aber das heißt doch irgendwie anders.“ Nein, versteift sich der Leser, er meine den Roman die Niemandsbucht. „Aber“, so sagt ein Dritter, „das ist doch schon ein paar Jahre her, daß der erschienen ist.“ Und damit ist das Gespräch beendet, weil die wenigen, die das Buch damals vor dreieinhalb Jahren gekauft haben, es entweder nie gelesen oder aber es längst vergessen haben.
Heute kommt es nicht allein darauf an, die richtigen Bücher gelesen zu haben. Man muß sie rechtzeitig gelesen haben. Deswegen stehen ja am Eingang jeder Buchhandlung die Regale mit den Bestsellern, deshalb stapeln sich auf den Tischen die jeweils sogenannten aktuellen Titel, die aber immer nur vier Wochen aktuell sind. Das jeweils neue Buch stößt das alte in den Abgrund der Unerheblichkeit und des Vergessens.
Durch die stetig steigende Titelproduktion entsteht ein Verdrängungswettbewerb, der die Verlage dazu zwingt, mit aller Macht und allen Tricks das neue Programm in die Buchhandlungen zu pressen. Und weil die Programme zu umfangreich sind, setzt man auf zwei, drei Bücher, am besten auf die Titel ausländischer, vorzugsweise amerikanischer Autoren. Die werden dann eingeflogen und gehen auf Lesereise. Die Presseabteilungen sind gehalten, Interviews und Berichte zu organisieren. Vor Wochen erhielt ich den Anruf einer Pressedame aus Wien, die mich fragte, ob ich ihren Spitzentitel des Frühjahrs erhalten habe, den Roman einer bei uns noch unbekannten jüdisch-amerikanischen Autorin. Natürlich wußte die Dame, daß ich ihn erhalten hatte, sie hatte ihn mir ja geschickt. Wie ich ihn denn finde? Ich hatte ihn nicht gelesen. Schade, sagte die Dame, denn die Autorin komme nächste Woche nach Hamburg. Am folgenden Tag meldete sich eine weitere Dame, diesmal aus Hamburg, die sich auf das erwähnte Gespräch bezog und sich als Literaturagentin besagter Autorin vorstellte. Sie erklärte mir mit froher Stimme, die Autorin komme in wenigen Tagen in die Stadt, ich möge ihr doch bitte mitteilen, welcher Interviewtermin mir genehm sei. Meine Antwort war etwa: Ich glaube nicht, daß unsere Leser gerne das Interview mit einer Autorin läsen, von der sie noch nie gehört hätten und deren Buch sie nicht kennen könnten, da es eben erst ausgeliefert worden sei. Die Agentin fand meine Antwort offenbar befremdlich und schlug vor, ich solle mir die Sache noch einmal überlegen. Nun war ich neugierig geworden, und ich las ich ein bißchen in dem Roman herum, fand die Mischung aus Sex und Auschwitz und New York nicht übermäßig eindrucksvoll und überlegte, ob ich das Buch zur Rezension vergeben solle. Da erhielt ich wieder einen Anruf, diesmal von einem Herrn der Presseabteilung in Wien. Ob ich den gewünschten Interviewtermin bekommen habe? Andernfalls sei er gerne behilflich.
Es kam noch ein vierter Anruf, aber ich breche diese langweilige Geschichte hier ab und vermute, daß meine Beobachtung, man müsse die Bücher rechtzeitig gelesen haben, ergänzt werden muß. Um am literarischen Leben Anteil zu nehmen, muß man überhaupt keine Bücher gelesen haben. Ein amerikanischer Schriftsteller erzählte mir, er sei immer wieder erstaunt darüber, wie oft er von Journalisten, die ihn erkennbar nicht gelesen hätten, um Interviews gebeten werde. Offenbar hielten sie das für die beste Gelegenheit, sich vom Autor einiges über seine Bücher erzählen zu lassen und sie dadurch kennenzulernen.
Das gilt wohl auch für das alles in allem erhebliche Publikum, das sich Abend für Abend in den Kulturfabriken und Staatstheatern, in den Kunsthallen und Volksbüchereien, in den Buchhandlungen und Literaturhäusern zu Lesungen einfindet. Die Menge dieser Veranstaltungen ergibt aneinandergelegt eine Strecke von der Länge der Lindenstraße. Dort flanieren die literarischen Groupies, die alles über den Schriftsteller wissen, über seine Lebensgewohnheiten und Affären und Krisen, über seine Schreibweise und über die Geschichten seiner Bücher. Die müssen dann gar nicht mehr gelesen werden.
Die öffentliche Lesung wird zum literarischen Ereignis, das die Lektüre ersetzt, man hört die sonore Stimme des Dichters, sieht die scheue Gebärde der Dichterin, und man darf die Frage aller Fragen stellen: Warum schreiben Sie? Der sogenannte event ist an die Stelle der Literatur getreten. Er kann den Charakter einer Talk Show annehmen, einer Weihestunde, einer Party mit Musik und Tanz. Lesungen finden ja überall statt, in Diskotheken, Restaurants, Ausflugsdampfern, Bierzelten und Parkanlagen. Das literarische Leben blüht, der Betrieb tanzt.
Die Medien spiegeln die event-Kultur wider und verstärken sie. Literatur im Fernsehen leidet ohnehin unter dem Fluch, daß der Text und damit das Eigentliche nicht abbildbar ist. So rettet man sich ins Akzidentielle. Auch die gedruckten Magazine verschonen ihre Leser mit den Mühen einer umständlichen Literaturkritik und ersetzen sie durch das Interview oder durch das neuerdings in Mode gekommene Zwiegespräch zweier Prominenter. Sie stellen die Person in den Vordergrund, und da ist es von Vorteil, wenn der Schriftsteller oder die Schriftstellerin eine gute Figur machen – oder haben. Siri Hustvedt zum Beispiel ist sicherlich eine schöne Frau (daß sie außerdem wunderbare Romane schreibt, tut nichts zu Sache), und als sie im vergangenen Herbst nach Deutschland kam, konnte man sie in vielen Magazinen bewundern. Dieser Tage machte eine Agentur Werbung für einen neuen amerikanischen Autor, mit dem Hinweis, der Mann sei 36 Jahre alt, sehe sehr gut aus und sei auf dem Weg zum „literarischen Sexsymbol“.
All das ist keineswegs verächtlich, wir alle haben unsere menschlichen Seiten, haben Unterhaltungsbedürfnisse. Nur: Mit Literatur hat das wenig zu tun, und noch weniger mit Literaturkritik. Der Betrieb tanzt, und wenn dem Autor das Mittanzen gelingt, ist die Qualität seiner Bücher von nachgeordneter Bedeutung. Die Kunst, die er beherrschen muß, besteht darin, auf der Welle des Medieninteresses zu surfen. Robert Schneider, so scheint mir, kann das schon recht gut, und es verleitet ihn zu dem Schritt, sich von der Literaturkritik freizukaufen und ihr baldiges Ende vorherzusagen. An dieses Ende glaube ich nicht, weil ich nicht an das Ende der Literatur glaube. Solange es die Literatur gibt, wird sie immer auch ihr Gegenüber hervorbringen: die Literaturkritik als den Ort äshetischer Debatte.
Die Frage ist aber, ob es diesen Ort noch in einem öffentlichkeitswirksamen Ausmaß gibt. Ich glaube, man sollte strikt unterscheiden zwischen der klassischen Rezension einerseits, die immer auch eine Diskussion der Form, der Sprache, der ästhetischen Erscheinung zu sein hat; und den übrigen Formen andererseits, die sich dem Werk über den Umweg der Person und des bloßen Erzählstoffes nähern, also Interview, Porträt oder Reportage. Mein Eindruck ist, daß die Rezension unter den Druck der Beschleunigungstendenzen auf dem Buchmarkt geraten ist und daß es ihr schwerer fällt als früher, den subtilen Marketingstrategien der Verlage standzuhalten. Auch scheint ihre Bedeutung für den Buchhandel zurückzugehen, vor allem deshalb, weil der traditionelle, der gebildete Buchhändler, der Literaturbeilagen liest und sich bei seinen Kundengesprächen davon leiten läßt, zu einer immer selteneren Erscheinung wird.
Hans Magnus Enzensberger hat schon vor vielen Jahren die These aufgestellt, der Literaturkritiker alten Schlages sei durch den Typus des Literaturagenten ersetzt worden. Der Literaturagent funktioniert in den Mechanismen des Betriebs, er beherrscht und bedient sie. Hat nicht Robert Schneider auch ein bißchen recht, wenn er von den Vampiren spricht? Wenn er darauf besteht, der Schriftsteller und sein Werk seien das Eigentliche? Und alle anderen, die davon leben, sollten sich dessen bewußt sein? Wenn Schneider das Wort „Demut“ gebraucht, dürfen wir darüber lächeln, aber wir sollten auch daran denken, daß eine vielleicht bedeutendere Instanz denselben Gedanken mit großer Leidenschaft vorgetragen hat. Es war George Steiner in seinem Buch Reale Gegenwart. Er plädierte dafür, daß wir uns dem literarischen Kunstwerk voller Achtung und Höflichkeit nähern sollten.
Den wahren Leser muß man dazu nicht anhalten, aber wieviele wahre Leser gibt es? Von Arno Schmidt stammt die Formel, die Zahl dieser Leser in einer gegebenen Population sei immer gleich, sie entspreche der dritten Wurzel aus P. Wie groß ist die dritte Wurzel aus 80 Millionen? Ziemlich genau 430. 430 Leser: Das ist etwa die Zahl, die ein Lyrikband, nach Abzug der Bibliotheks- und Rezensionsexemplare, erreicht. 1984 erschien im Andreas-Haller-Verlag ein von Eva Hesse herausgegebener und übersetzter Band mit Gedichten von Robinson Jeffers. Das Büchlein wurde damals ein paar mal achtungsvoll besprochen, und dann vergaß man diesen Mann wieder, einen der bedeutendsten amerikanischen Poeten. Fünf Jahre später erschienen die Fragmente der Undeutlichkeit von Botho Strauß, die poetisch-philosophische Annäherung an einen Geistesverwandten. Viele hörten damals den Namen zum erstenmal, und ein paar begannen, Jeffers zu lesen - diesen titanischen, furchterregenden Poeten, der sich einen Turm aus Stein an der pazifischen Küste erbaute und düstere Rhapsodien über den Flug der Vögel und das Ende der Menschheit dichtete. Bis heute, vierzehn Jahre später, beträgt die verkaufte Auflage 1850 Exemplare.
So gehen die Wege der Literatur, manchmal mitten hinein ins Getöse und in den Betrieb, und manchmal an den Tagesthemen vorbei. Damit sage ich nicht, der eine Weg sei besser als der andere, und ich plädiere nicht für das literarische Arkanum. Ich behaupte nur: Die Literatur bleibt letztlich von dem, was wir Betrieb nennen, unberührt. Ihre Geltung hat mit dem Maß ihrer Verbreitung und Anerkennung nichts zu tun. Letztlich ist es für die Literatur gleichgültig, wie groß und wie aufmerksam die Öffentlichkeit ist, die sie wahrnimmt.
Nur für uns Leser ist es nicht gleichgültig. Das Nichtlesen der großen Werke schadet nicht den Werken, sondern uns. Und für die Literaturkritik ist es schon gar nicht gleichgültig, ob es noch wahre Leser gibt, erschütterbare Leser, die sich dem Text und seiner Botschaft noch zu öffnen vermögen. Daß der Betrieb tanzt, ist gewissermaßen seine Sache, und man muß das gar nicht beklagen. In gewisser Hinsicht hat er immer getanzt.



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