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Ulrich Greiner

Himmel und Hölle oder Äpfel und Birnen?
Über Literaturkritik und Bucherfolg

Der folgende Vortrag wurde auf dem Jahrestreffen des Verlegerausschusses der AG Publikumsverlage im Januar 2004 im München gehalten

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Verlagsleute,

herzlichen Dank für diese Einladung! Ich freue mich sehr, zu Ihnen sprechen zu dürfen, zumal wir oft miteinander zu tun haben, wenngleich selten so unmittelbar wie heute. Das, was ich mache, hängt sehr von dem ab, was Sie machen; wenn Sie mit Ihrer Arbeit keinen Erfolg hätten, dann wäre meine Arbeit sinnlos, dann gäbe es auch die Literaturredaktion der ZEIT nicht. Ich habe also Grund, Ihnen zu danken, nicht nur für diese Einladung, sondern mehr noch für die große Zahl schöner und guter Bücher, die Sie ermöglichen. Es gibt wohl kaum ein Land auf dieser Welt, das so viele Qualitätsverlage hat, so viele Übersetzungen und eine derart reiche Buchkultur. Das zu sagen ist vielleicht auch einmal notwendig, obwohl ich weiß, dass Kassandra die Schutzheilige der Verleger ist. Aber sie ist ja auch die Schutzheilige der Intellektuellen.

Das Thema meines Vortrags lautet Literaturkritik und Bucherfolg. Der Titel kam während eines ziemlich eiligen Telefonats zwischen Antje Kunstmann und mir zustande, beide waren wir rasch zufrieden damit – Antje Kunstmann, weil er so ziemlich das abdeckte, was sie sich von meinem Vortrag erhoffte, und ich, weil ich ihn noch nicht geschrieben hatte. Ich könnte, so dachte ich, etwas über meine Arbeit erzählen, ein paar Gedanken zur Literaturkritik und über ihre Wirkungsmöglichkeiten. Beim Nachdenken aber kam mir von den drei Wörtern Literaturkritik und Bucherfolg die Konjunktion "und" am merkwürdigsten vor. Was heißt eigentlich "und"?

Die Wörterbücher verzeichnen die aufzählende Bedeutung, die beiordnende, anknüpfende, die steigernde, schließlich auch die gegensatzbildende Bedeutung von und. Ich nenne ein Beispiel für die beiordnende Bedeutung: Äpfel und Birnen. Literaturkritik und Bucherfolg hätten also wenig miteinander zu tun, aber ein bisschen etwas immerhin doch, weil ja Äpfel und Birnen auf Obstbäumen wachsen. Die Obstbäume in unserem Fall wären die Buchbranche und der Literaturbetrieb. Zweites Beispiel: Wir verwenden das Wort und wie in dem Gegensatzpaar Himmel und Hölle. Das hieße: Literaturkritik wäre der reine Widerspruch zum Bucherfolg und umgekehrt.

Ich bin ziemlich sicher, dass es auf beiden Seiten, auf der Seite der Kritiker wie auf der Seite der Verleger, Extremisten gibt, oder soll ich lieber sagen Rechtgläubige?, die genau das für wahr halten: dass die Literaturkritik hier und der Bucherfolg dort notwendige Übel sind, mit denen man leider leben muss. Ein anständiger Publikumsroman macht seinen Erfolg am besten ohne die Kritik, notfalls auch gegen sie. Und eine anständige Literaturkritik schert sich den Teufel um die Lesbarkeit und den möglichen Erfolg eines Buchs. Woraus sich dann der Schluss ergibt, dass ein erfolgreiches Buch unmöglich gut sein kann. Und das wiederum heißt, dass ein von der Literaturkritik gelobtes Buch unmöglich erfolgreich sein kann. Also Himmel und Hölle.

Ist das wirklich so? Wir alle kennen die Beispiele von Erfolgsautoren, die auf die Kritik überhaupt nicht angewiesen sind. Neue Romane von Michael Crichton oder Danielle Steel, von Stephen King oder Marianne Frederiksson gehen ihren Weg ohne die Kritik. Zum großen Teil werden ihre Bücher gar nicht oder nur gelegentlich besprochen, und man kann ohne Übertreibung sagen, dass es fast egal ist, was in den Zeitungen darüber zu lesen steht. Es gibt auch den gar nicht so seltenen Fall, dass ein vollkommen unbekanntes Buch einer unbekannten Autorin zum Erfolg wird, wie uns Die weiße Massai von Corinne Hofmann gezeigt hat. Dieses Buch wurde ein Bestseller ganz ohne Marketing und ganz ohne Kritik.

Ich nehme fast an, dass dies der Traum eines jeden Verlegers ist: mit einem Niemandstitel an allen anderen vorbeizuziehen – wie ein Komet, dessen leuchtender Schweif alle erblassen lässt. Einige von Ihnen denken jetzt vielleicht: Dieser Traum ist der Alptraum der Kritik. Der auf solche Weise erfüllte Verlegertraum nämlich hätte die Kritik entbehrlich gemacht. Was mich betrifft, so habe ich deswegen keine Alpträume, aber ich gestehe, dass mich solche Vorgänge nicht gleichgültig lassen. Ich möchte nämlich mit meiner Arbeit durchaus Wirkung erzielen, und zwar in doppelter Hinsicht: Ich möchte mit dem, was ich selber schreibe, etwas bewirken, und ich möchte, dass die Redaktion, die ich leite, etwas bewirkt. Ich bin zwar Literaturkritiker, vor allem aber verstehe ich mich als Journalist.

Der Unterschied ist nicht ohne Bedeutung. Man kann sich einen Literaturkritiker vorstellen, der sich als Diener oder vielleicht sogar als Priester jener heiligen Angelegenheit begreift, die wir Literatur nennen, und der folglich an solch profanen Dingen wie Auflage und Publikumserfolg gänzlich uninteressiert ist. Ich sage ausdrücklich, dass ich eine solche Haltung, wie wir sie am deutlichsten bei Zeitgenossen wie George Steiner oder Botho Strauß finden, in höchstem Maß respektiere. Wir können nicht darauf verzichten, in Literatur als Kunst etwas Besonderes, Herausragendes zu erblicken, und wir verzichten ja auch keineswegs darauf, wenn wir etwa davon reden, das Buch sei keine Ware wie anderen Waren. Damit verteidigen wir das Privileg der halben Mehrwertsteuer, der Preisbindung und anderer Bevorzugungen, die etwa den Fabrikanten von Kugelschreibern oder Seife nicht zuteil werden. Das ist vollkommen in Ordnung, noch immer wird hierzulande dem Kunstprivileg ein erster Rang eingeräumt. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass diese Berufung auf ein Höheres auch die moralischen und ästhetischen Kriterien unserer Arbeit bestimmt.

Ich bin also Literaturkritiker durchaus in diesem Sinn, aber eben auch Journalist. Einem Journalisten kann es unmöglich egal sein, wie seine Arbeit ankommt. Ich arbeite bei der ZEIT, und natürlich ist die Höhe der Auflage von entscheidender Bedeutung für das Fortbestehen dieser nunmehr 58 Jahre alten Zeitung. Die Höhe der Auflage aber hängt davon ab, ob die Leser unsere Arbeit schätzen und ob sie gewillt sind, dafür Geld auszugeben. Insofern geht es mir haargenau so wie Ihnen. In dieser Hinsicht also wäre nicht von Himmel und Hölle zu reden, sondern von Äpfeln und Birnen.

Erlauben Sie mir, da wir gerade auf materielle Dinge gekommen sind, ein paar Hinweise auf die Grundlagen meiner Arbeit. Es war Roger de Weck, der Vorgänger von Josef Joffe und Michael Naumann, der auf meine Anregung hin im Herbst 1998 beschlossen hat, die bis dato verstreuten Rezensionsseiten zu einem neuen Buchressort zusammenzufügen. Dieses Buchressort erhielt den Namen ZEIT-Literatur, und es vereinigt alles, was mit der Buchkritik zusammenhängt, die Belletristik ebenso wie das Kinder- und Jugendbuch, das Sachbuch wie das Politische Buch und das Hörbuch. Mit einem gewissen Stolz kann ich sagen, dass wir die einzige deutsche Zeitung sind, die ein solches Literaturressort hat. In anderen Zeitungen werden das Sachbuch und das Politische Buch von verschiedenen Ressorts verantwortet und erscheinen auf verschiedenen Seiten. Wir sind insgesamt sechs Kollegen und haben einen Mitarbeiterstab von an die 150 Wissenschaftlern und Kritikern. Die Menge der Bücher, die auf unseren Seiten rezensiert werden, beträgt etwas über tausend Stück pro Jahr. Michael Naumann hat dann im Herbst 2001 die Umstellung der klassischen Literaturbeilage auf das neue Tabloid-Format beschlossen. Tabloid bedeutet genau 40 Prozent einer normalen Zeitungsseite. Wir haben die Zahl dieser Beilagen im vergangenen Jahr auf insgesamt sieben steigern können. Trotz der schwierigen Lage auf dem Buchmarkt, die Sie besser kennen als ich, ist es uns gelungen, den Anzeigenumsatz zu erhöhen, sowohl absolut als auch in Relation zu unseren Konkurrenten. Dieser Erfolg verdankt sich bestimmt auch dem neuen Format. Wir wissen, dass die Leser dieses Format außerordentlich schätzen, es ist handlich, leicht zu lesen und durch ein Register überschaubar – selbst dann noch, wenn wir anlässlich der Frankfurter Messe auf bis zu 120 Seiten kommen. Die Tabloid-Beilagen werden, wenn sie an die Abonnenten ausgeliefert sind, eine Woche danach in Buchhandlungen und an Zeitungsständen separat feilgeboten. Der Verlag verkauft davon zwischen 12.000 und 20.000 Exemplare zusätzlich. Er verdient daran nichts, wegen der hohen Vertriebskosten, aber er macht es, um die Reichweite der ZEIT zu erhöhen. Die Käufer dieser Beilagen sind genau das Publikum, das wir haben möchten.

Sie sehen an diesem kleinen Exkurs, dass mir der Erfolg keineswegs gleichgültig ist. Die Frage, die Sie sich vermutlich stellen, lautet: Ist mein Erfolg auch Ihr Erfolg? Und umgekehrt: Ist Ihr Erfolg auch mein Erfolg? Eins steht fest: Wir alle wollen, dass sich gute Bücher gut verkaufen. Was aber ist ein gutes Buch? Das ist der Streitpunkt, und das ist der Anfang der Kritik. Literaturkritik hat die Aufgabe, ein Gespräch darüber in Gang zu bringen, ob ein Buch gut ist, nicht mehr und nicht weniger. Nicht mehr, weil sie ihr Urteil nicht dekretieren kann – nicht weniger, weil sie sonst keine Kritik ist.

Erlauben Sie mir bitte, dass ich diese zwei Aspekte näher erläutere. Zunächst zum „weniger“. Was weniger als Kritik ist, das hat sich in den vergangenen Jahren immer wichtiger gemacht. Ich meine damit diejenigen journalistischen Formen, die das Erscheinen eines Buchs zum Anlass nehmen, mit dem Autor ein Interview zu führen oder seine näheren Lebensumstände zu betrachten oder – das empfiehlt sich vor allem, wenn es sich um eine Autorin handelt und wenn sie hübsch ist – sie auf einem Spaziergang am Seeufer oder zum nächsten Supermarkt zu begleiten und sie dabei in verschiedenen Positionen und Situationen abzulichten. Alle diese Formen – die Reportage, das Interview, der Bericht, das Porträt – stellen die Person in den Vordergrund, nicht das Werk. Da ist es sicherlich von Vorteil, wenn der Schriftsteller oder die Schriftstellerin eine gute Figur machen – oder haben. Die amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt zum Beispiel ist sicherlich eine schöne Frau (dass sie außerdem wunderbare Romane schreibt, tut nichts zu Sache), und als sie vor einigen Jahren nach Deutschland kam, konnte man sie in allen Illustrierten und Fernsehmagazinen bewundern. Den Gipfel dieser literaturfernen und lebensnahen Betrachtungsweise erreichte jene Agentur, die für einen neuen amerikanischen Autor mit dem Hinweis Werbung machte, der Mann sei 36 Jahre alt, sehe sehr gut aus und sei auf dem Weg zum „literarischen Sexsymbol“.

All das ist keineswegs verächtlich, wir alle haben unsere menschlichen Seiten, haben Unterhaltungsbedürfnisse. Nur: Mit Literatur hat das wenig zu tun, und noch weniger mit Literaturkritik. Damit Sie mich recht verstehen: Ich bin kein Reinheitsfanatiker. Auch wir in der ZEIT drucken Interviews und Porträts, dies aber nur als zusätzliche Information, als Anreicherung unseres zentralen Projekts, und das ist die Kritik. Wobei ich hinzufügen möchte, dass ein Interview, wenn es gut sein soll, extrem viel Arbeit macht. Ein amerikanischer Schriftsteller hat mir einmal erzählt, er sei immer wieder erstaunt darüber, wie oft er von Journalisten, die ihn erkennbar nicht gelesen hätten, um Interviews gebeten werde. Offenbar hielten sie das für die beste Gelegenheit, sich vom Autor einiges über seine Bücher erzählen zu lassen und sie dadurch kennenzulernen.

Wie gesagt: Mit Literaturkritik hat das nichts zu tun. Aber es ist ganz sicherlich so, dass diese Strategien journalistischer Affirmation und Verdoppelung immer wieder zu einem konkreten Bucherfolg beigetragen haben. Ich bezweifle allerdings, ob solche Strategien uns allen auf die Dauer nutzen. Es könnte sein, dass wir damit jenes Kapital verspielen, von dem ich eingangs gesprochen habe, nämlich das Bewusstsein der Öffentlichkeit, dass es sich beim Buch um etwas Besonderes und Schutzwürdiges handelt, das Bestand hat unabhängig vom jeweiligen Autor und unabhängig von der Raffinesse des Marketings. Wenn es nur darum ginge, die Ware Buch optimal zu vermarkten, dann wäre in der Tat jedes Mittel recht. Das Buch jedoch gleicht der Rose von Jericho, die ähnlich grau und unscheinbar daliegt wie ein geschlossenes Buch, das ja nur ein Haufen Papier ist mit Buchstaben. Plötzlich aber, benetzt von ein paar Tropfen Wasser, wird die Rose von Jericho grün und beginnt zu leben; plötzlich, berührt vom Atem des Lesers, öffnet sich das Buch und entfaltet seine Wirkung. In gewisser Hinsicht ist der Leser der wahre Autor, denn er ist es, der totes Papier zum Leben erweckt, in seinem Kopf entsteht die Welt des gelesenen Buchs, und das Fantastische an diesem wunderbaren Vorgang besteht darin, dass keine dieser Welten, die sich in den Köpfen der Leser bildet, der anderen vollkommen gleicht.

Das, glaube ich, ist das eigentlich Aufregende an unserem Gewerbe. Der Literaturkritiker aber ist zunächst nichts anderes als ein Leser, ein hoffentlich erfahrener und gebildeter Leser. Damit bin ich beim zweiten Punkt meiner Erläuterung. Literaturkritik hat die Aufgabe, so habe ich gesagt, ein Gespräch darüber in Gang zu bringen, ob ein Buch gut ist, nicht mehr und nicht weniger. Weshalb nicht mehr? Warum kann sie ihr Urteil nicht dekretieren? Genau deshalb eben, weil sie die Köpfe der anderen Leser im besten Fall animieren, aber keinesfalls lenken kann. Im Gegenteil: Meine Erfahrung zeigt, dass die enthusiastische Rezension sich rasch einem Grenzwert der Überzeugungskraft nähert. Sie überschreitet ihn, wenn sie ins Missionarische überwechselt. Leser sind eigenwillige Wesen, sie lassen sich nicht gern missionieren. Sie misstrauen dem allzu forciert vorgetragenen Urteil. Das gilt auch für den so genannten blutigen Verriss. Zumeist hat er einen Kontraeffekt: Der Leser möchte wissen, was den Kritiker so erregt, er möchte das anhand der Lektüre selber überprüfen, sich sein eigenes Urteil bilden.

Es gibt also potenziell so viele Urteile über ein Buch, wie das Buch Leser findet. Damit aber ein Urteil entstehen kann, muss ein Gespräch in Gang kommen. Zunächst das Gespräch, das der Leser mit dem Buch und dann mit sich selber führt. Schließlich das Gespräch der Leser untereinander. Wir müssen uns dieses Gespräch als einen hoch komplexen, im Prinzip unendlichen Prozess vorstellen. Er beschränkt sich keineswegs auf das wirkliche Gespräch zweier Leser, die sich in einem Café über ein Buch unterhalten. Er schließt alles ein, was aus der Lektüre eines Buches entsteht und erwächst: Einsichten, Gedanken, Gefühle, Erinnerungen, die sich dann in Meinungen und Haltungen äußern und letztendlich in Handlungen münden. Jeder von uns ist ja Produkt vielfältiger Einflüsse und Einreden, so originell, wie wir gerne wären, sind wir zumeist nicht. Bücher können ins Unbewusste sickern, ihre Wirkungen sind tiefgreifend, anhaltend und so verzweigt, dass die Ursache zuweilen gar nicht mehr sichtbar ist.

Dieses imaginäre Gespräch über Bücher und aus Anlass von Büchern anzustoßen, ist Aufgabe von Literaturkritik. Der Anstoß muss gut geschrieben und gut begründet sein, und man kann ihn sich durchaus so vorstellen wie den Anstoß bei einem Fußballspiel. Der Literaturkritiker ist gewissermaßen der erste, der den Ball ins Rollen bringt, und dieser erste Schuss muss sitzen, er muss überzeugen, und er muss so gespielt werden, dass andere den Ball aufnehmen und weiterspielen können. Der Literaturkritiker kann nur überzeugen, wenn er Argumente bringt. Die Argumente müssen sich nicht auf eine rationale Kasuistik beschränken, im Gegenteil wird er gut daran tun, seine eigenen Empfindungen und Erfahrungen nicht auszusparen. Es muss ihm gelingen, den Leser zum Teilnehmer zu machen, derart, dass er den Gedankengang des Kritikers nachvollziehen und nachempfinden kann. Beim Gespräch über Bücher kommt es entscheidend darauf an, dass wir nicht im bloßen Geschmacksurteil stecken bleiben. Das würde bedeuten, dass ich den neuen Roman von Günter Grass ganz schrecklich finde und Sie oder Sie denselben Roman ganz großartig. Und dass wir uns mit diesem Geschmacksurteil voneinander trennen müssten, so wie wir es gewohnt sind, damit zu leben, dass der eine die Farbe Lila nicht ausstehen mag und der andere sie liebt. Das wäre sehr unbefriedigend.

Und es wäre unerlaubt, und zwar aus dem Grund, den Hegel in der Phänomenologie des Geistes näher beschreibt. Er sagt dort: „Indem jener sich auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel beruft, ist er gegen den, der nicht übereinstimmt, fertig; er muss erklären, dass er dem weiter nichts zu sagen habe, der nicht dasselbe in sich finde und fühle; - mit anderen Worten, er tritt die Wurzel der Humanität mit Füßen.“ Die Wurzel der Humanität – sie besteht eben darin, dass wir bereit sind, in den Austausch der Erfahrungen und Urteile einzutreten.

Das ist der Hintergrund, vor dem Literaturkritik wirksam wird. Ich rede, wie Sie bemerkt haben, von der idealen Kritik, und leider ist es wahr, dass die Kritik, wie sie tagtäglich erscheint, diesem Ideal allzu oft nicht gerecht wird. In jedem Fall aber, ob es ihr gelingt oder misslingt, will die Kritik etwas bewirken. Der Kritiker will, dass dieses eine Buch, für das er sich in seiner Rezension einsetzt, von vielen anderen gelesen wird, er will, dass es erfolgreich wird. Und er will, wenn es ihm missfällt, dass die Leser das auch so finden. Der Kritiker ist also durchaus machtbewusst, vielleicht sogar machtgierig, und in der Tat besitzt er Macht, nämlich die Macht des Anstoßes.

Wie aber kann er diese Macht einsetzen? Kann er wirklich über Erfolg und Misserfolg bestimmen? Ja und nein. Anders gesagt: Er hat Einfluss, aber er ist nicht Herr der Lage. Ich bemühe noch einmal das Fußballspiel. Selbst wenn der Anstoß, der erste Schuss vortrefflich gelingen sollte, so ist er doch vergeblich, wenn der angespielte Mann die Chance verschläft, wenn keiner mitspielt oder, der schlimmste Fall, wenn der Kritiker mutterseelenallein auf dem Feld steht und die Ränge leer sind. Sie können mir glauben, dass das nicht selten vorkommt.

Um die Wahrheit zu sagen: Ich weiß nicht, wie man einem guten Buch verlässlich zum Erfolg verhilft. Wüsste ich das, so wäre ich nicht Journalist, sondern Verleger. Ich nenne Ihnen zwei Beispiele aus meinem Kritikerleben. Als der hundertste Geburtstag von Hans Henny Jahnn in Sichtweite kam, fing ich an, den Fluß ohne Ufer zu lesen. Ich war von dieser ungeheuren Leseerfahrung so beeindruckt, ja erschüttert, dass ich beschloss, die Welt an meiner Erkenntnis teilhaben zu lassen. Zusammen mit einigen anderen gründete ich einen Verein, der die Zentenarfeier in Hamburg organisierte. Außerdem schrieb ich einige Beiträge für die ZEIT, darunter einen großen, jedenfalls langen Essay zum Geburtstag.

Ich weiß heute selber nicht mehr, was genau ich erwartet hatte. Sollte die Nation ihre Knie vor Hans Henny Jahnn beugen? Aber gewiss sollte sie das. Leider tat sie es nicht. Hoffmann und Campe verkaufte nur unwesentlich mehr Bücher als zuvor, und bis heute ist Jahnn kein Schulbuchautor. Er ist ähnlich unbekannt und ungelesen wie damals. Ich hatte also versucht, meine Macht einzusetzen, und keinen oder nur geringen Erfolg. Weshalb? Mag sein, dass Jahnn ein hoffnungsloser Fall ist und bleibt; mag sein, dass ich mögliche Leser durch mein Eiferertum abgeschreckt habe. Ich weiß es nicht.

Das zweite Beispiel: Vor rund drei Jahren erschien im Verlag Antje Kunstmann eine kaum hundert Seiten umfassende Erzählung des belgischen Schriftstellers François Emmanuel. Ihr Titel lautete Der Wert des Menschen, sie kritisierte in einer subtilen Konstruktion den modernen Raubtierkapitalismus, sie zog eine kühne Parallele zwischen der Unmenschlichkeit der Nazis und der des modernem Managements, sie las sich spannend wie ein Krimi. Ich war davon fasziniert, ich schrieb darüber den Aufmacher unseres Literaturteils. Der Erfolg war überwältigend. Der bis dato vollkommen unbekannte Autor wurde überall besprochen, sein Büchlein erlebte mehrere Auflagen. Ich habe übrigens den starken Verdacht, dass mich Antje Kunstmann aus genau diesem Grund hier eingeladen hat. Ich habe damals gezeigt, wie man ein Buch erfolgreich machen kann, und jetzt soll ich Ihnen sagen, wie das geht.

Ich kanns aber nicht. Trotzdem will ich eine Hypothese versuchen. Damals im Jahr 2000 war die Zeitstimmung von einem wachsenden antikapitalistischen Gefühl geprägt, das sich in einer neuen Kapitalismuskritik äußerte, die nun weniger von links kam als vielmehr aus dem konservativen Lager. Es war die Zeit der New Economy, die Zeit der großen Konzernzusammenschlüsse. Kurz zuvor hatte der Daimler-Konzern Chrysler gekauft. Zehn Jahr nach dem Zusammenbruch des Kommunismus ging ein neues Gespenst in Europa um: der Kapitalismus. In diese Zeitstimmung passte das Buch von Emmanuel wie die Faust aufs Auge. Man fühlte sich getroffen, man fühlte sich verstanden.

Ich habe mit Antje Kunstmann nicht darüber gesprochen, aber ich glaube nicht, dass ihr das so klar war, als sie sich damals entschloss, das Buch zu machen. Wahrscheinlich hatte sie eher das vage Gefühl, es könnte gehen. Vielleicht war es aber auch so, dass ihr das Buch einfach nur gefiel. So wie mir. Auch ich hatte das Zeitgefühl nicht wirklich begriffen. Ich hatte es natürlich in mir, wie wir alle, und ich fand in diesem Buch einen willkommenen Anlass, aus diesem Gefühl einen Gedanken zu machen, der möglichst viele überzeugen sollte. Was er dann auch tat.

Was lehren uns die Beispiele, was lehren sie mich? Erstens: Die schiere Absicht genügt nicht, auch nicht der gute Wille. Er genügt selbst dann nicht, wenn die Kritik glänzend geschrieben ist. Immer kann es passieren, dass sich der grandiose Schuss in einem leeren Stadion ereignet. Und das Problem ist: Ich weiß ja nicht, ob das Stadion voll oder leer ist. Es geht mir nicht anders wie Ihnen, es geht mir wie jener Gans auf F.K. Waechters berühmter Zeichnung, die einen Kopfstand vollführt und denkt, wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein. Und das Schwein steht daneben und guckt.

Zweitens: Die Literaturkritik kann nur dann zum Bucherfolg führen, wenn sich mehrere günstige Umstände zusammenfinden. Das Buch muss etwas treffen, was die Leser bewegt. Die Kritik muss das spüren und aufgreifen. Und natürlich muss sie überzeugend geschrieben sein und an einem Ort erscheinen, der wahrgenommen wird. Die letzten beiden Umstände, der Ort und die Qualität, sind beeinflussbar, alles andere nicht. Ich bin ja auch nur ein Kind meiner Zeit, ich weiß nicht mehr als Sie, und selbst in solch kleinen Dingen geht es uns wie Hegels Eule der Minerva, die erst mit hereinbrechender Dämmerung ihren Flug beginnt. Mit anderen Worten: Das Meiste kapieren wir erst hinterher. Das ist Menschenschicksal, und es hat ja sein Gutes: Stellen Sie sich vor, einer von uns wäre wirklich mit dem Weltgeist per Du und wüsste immer genau, wie der Hase läuft, er wäre nicht auszuhalten, es wäre nicht auszuhalten. Wenn es dann doch glückt, so sprechen die Gebildeten vom kairos. Kairos war, wie man dem Lexikon entnehmen kann, ein griechischer Gott, der Gott des günstigen Augenblicks. Man sollte ihn am Schopfe packen, wenn er an den Menschen vorbeihuschte. Er hatte aber gar keinen Schopf, seine Haare waren kurz geschoren.

Erlauben Sie mir zum Schluss eine Bemerkung in eigener Sache: Die Literaturkritik ist oftmals totgesagt worden, von zornigen Autoren, von auflagenfixierten Chefredakteuren und auch von enttäuschten Verlegern. Ich glaube, dass die Literaturkritik, ob man sie liebt oder hasst, gar nicht sterben kann. Denn solange es die Literatur gibt, wird sie immer auch ihr Gegenüber hervorbringen: die Literaturkritik als den Ort ästhetischer Debatte. Wo und wie die stattfindet, ist dann eine andere Frage, aber ich beobachte in den letzten Jahren eine für mich erfreuliche Entwicklung: Während es im Zeichen des Pop eine Weile so aussah, als wäre die klassische Kritik eine absterbende Gattung, brauchbar allenfalls für Studienräte im Ruhestand, während es so aussah, als würde sich alles auf das schiere Mediengetöse konzentrieren, also auf das zitierte „literarische Sexsymbol“, hat sich die Stimmung wieder geändert. Nicht zuletzt der erstaunliche Erfolg unserer Beilagen beweist, dass Rezensionen wieder gelesen werden. Sie haben Wirkung, wenn auch oftmals nicht die, die wir, die Kritiker und die Verleger, uns direkt von ihnen erhoffen. Ihre Wirkung ist indirekt, dafür aber hält sie länger an. Die klassische Kritik ist jener Ort, an dem das Gespräch über Bücher beginnt. Die Kritik kann das Gespräch anstoßen, sie kann ihm ein Anfangsrichtung geben, aber sie kann nicht darüber bestimmen, wie es am Ende ausgeht. Die Wege, die ein Buch geht, sind selten vorhersehbar. Dass dies so ist, darüber sollten eigentlich wir alle froh sein.

Literaturkritik und Bucherfolg – Äpfel und Birnen oder Himmel und Hölle? Ich hoffe, mein Vortrag hat Ihnen zumindest dies gezeigt: Das "und" entspricht nicht dem "und" in Himmel und Hölle, sondern dem in Äpfel und Birnen. Eine Alltagsweisheit rät uns, Äpfel und Birnen nicht miteinander zu vergleichen. Genau das sollte man aber tun, und wenn man es genau betrachtet, haben sie mehr miteinander gemein, als man gewöhnlich denkt.

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