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Ulrich Greiner

Jünger der Kunstreligion

Wie Marcel Reich-Ranicki und Fritz J. Raddatz zentrale Positionen des Literaturbetriebs eroberten und weshalb ihnen keiner gefolgt ist

Als Fritz J. Raddatz Ende 2001 nach 25 Jahren die ZEIT verließ, da habe ihm, wie er in seinen eben erschienenen Memoiren (Unruhestifter) bitter vermerkt, "niemand, kein Herausgeber, kein Chefredakteur, kein Redakteur auch nur die Hand gedrückt". Wahr hingegen ist, dass kurz zuvor der ZEIT-Verlag ein großes Geburtstags- und Abschiedsfest zu seinen Ehren gegeben hatte. Im Hamburger Literaturhaus floss der Champagner, wie Raddatz in einer Reportage einmal geschrieben hat, "in Strömen". Fast die ganze Redaktion war versammelt, es gab reichlich Prominenz, es gab Dankes- und Abschiedsreden. Man trank und man lachte, man erinnerte und man verabschiedete sich. Dass die ZEIT, deren Feuilleton er von 1977 bis 1985 geleitet hat, in seinen Erinnerungen schlecht wegkommt, mag man bedauern oder auch nicht. Interessant ist die Frage, weshalb. Die zentrale Kategorie seines Verdikts ist die Dankbarkeit. Es läuft darauf hinaus, dass er, Raddatz, dem Blatt publizistische Höhepunkte verschafft, ja, dass er es in rastloser, sich selbst nicht schonender Tätigkeit und durch das Engagement unzähliger Autoren von weltliterarischem Rang aus seiner Provinzialität herausgeführt habe. Dafür, denkt Raddatz, hätte ihm Dank gebührt, und dessen angebliches Ausbleiben kränkt ihn.

Hier liegt eine Verwechslung vor. Nehmen wir an, der Vorsitzende eines Vereins erhalte von seinen Mitgliedern die beantragte Entlastung und darüber hinaus einen besonderen Dank für die geleistete Arbeit. Der Vorsitzende wird nun, wenn er gut beraten ist, nicht den Fehler begehen, den formalen Dank als ein Votum über seine ganze Person zu betrachten - und dessen mögliches Ausbleiben als ein Vernichtungsurteil, das ihn kränken müsste. Denn die Person des Vorsitzenden ist mit seiner Funktion nicht identisch.

Die tragische Besonderheit von Raddatz besteht eben darin, dass er diesen Unterschied nie begriffen, jedenfalls nicht gemacht hat. Als er 1958 den Verlag Volk und Welt und damit zugleich die DDR verlässt, schreibt er: "Das Spiel war aus. Doch ein Spiel war es nicht gewesen. Vielmehr Hinwendung, Zuwendung gar voller Elan, Leidenschaft und ein Angebot der Treue. Dass die Welt derlei nicht lohnen mag, habe ich spät gelernt. Galt es doch noch zwei Mal in meinem Leben, diese Erfahrung zu machen: Die Rowohlt-Zeit und die ZEIT-Zeit." Da sieht sich ein Ich von der "Welt" betrogen. Es bot Treue und erntete Verrat.

Das klingt grandios und erhaben, aber es ist ein Missverständnis. Denn leicht ließe sich, so gedacht, die Figur umkehren: Müsste nicht Raddatz dankbar dafür sein, dass die ZEIT ihm ein Podium zur Verfügung gestellt hat? Dankbarkeit aber ist eine persönliche Tugend, die für das Verhältnis von Menschen untereinander, nicht aber für das Verhältnis von Mensch und Institution bedeutungsvoll ist. Sie einzuklagen erinnert an die fatale Frage: "Liebst du mich?" Institutionen (soziologisch gesehen ist ein Zeitungsverlag ebenso eine Institution wie eine Universität oder ein Gesangsverein), Institutionen müssen, um Bestand zu haben, auf dem Unterschied zwischen Funktion und Person beharren. Damit schützen sie auch die in ihr Beschäftigten. Äquivalent für deren Tätigkeit ist üblicherweise das Gehalt; Sekretärin, Dienstwagen, Prestige und andere Gratifikationen mögen bei wachsendem Rang hinzukommen. Dankbarkeit kann auf Betriebsfeiern oder sonstwo eine Rolle spielen, aber sie ist sekundär.

Fritz J. Raddatz jedoch ist nicht der Einzige, dem diese Kategorienverwechslung unterläuft. Marcel Reich-Ranicki macht in seiner 1999 erschienenen Autobiografie der ZEIT den Vorwurf, sie habe ihn "ausgegrenzt". Zwar habe er über 14 Jahre hinweg die bedeutendsten Neuerscheinungen besprechen dürfen, seine Rezensionen von oft beträchtlicher Länge seien gerne und rasch gedruckt worden, ihn selber jedoch habe man nicht in der Redaktion haben wollen. "Wonach ich mich sehnte, das hatte ich gefunden: eine Heimstätte - allerdings nur für meine Arbeit, nicht für meine Person." Auch hier ein Angebot der Hinwendung, Zuwendung gar, das von der Institution ausgeschlagen wurde. Die "Heimstätte" hätte darin bestanden, dass die Wertschätzung, die die ZEIT seinen Texten entgegenbrachte, sich auch auf die Person erstreckt, dass man ihm also eine Redakteursstelle angeboten hätte.

Im Dezember 1973 wurde Reich-Ranicki Literaturchef der FAZ. Der erste Tag sei durchaus nicht angenehm gewesen. "Das mir zugeteilte Zimmer war verwahrlost, das Mobiliar in einem erbärmlichen Zustand." Da ging es ihm nicht besser als wenig später Raddatz, der, als er im Januar 1977 Feuilletonchef der ZEIT wurde, sein Zimmer einen "Käfig" nannte: "durchgewetzte Ikea-Möbel und Kunstdrucke an der Wand". Und nicht einmal ein Blumenstrauß zum Dienstantritt.

Die Parallelen zwischen Reich-Ranicki und Raddatz gehen über die Vorliebe für schöne Möbel hinaus. Man kann sich fragen, weshalb es diesen beiden so gegensätzlichen Literaten gelang, zwei der wichtigsten Positionen des Literaturbetriebs zu besetzen und für viele Jahre zu teils glanzvollen, teils umstrittenen Instrumenten ihres Ehrgeizes zu machen. Beide waren sie Flüchtlinge, vom Kommunismus enttäuschte Emigranten, mit einem bedeutenden Unterschied allerdings: Der eine entkam dem Holocaust, der andere der DDR. Raddatz schildert die entsetzlichen Kriegserlebnisse des Knaben, der das Elternhaus verlor und zum Waisenkind wurde, und sagt von sich selber: "Ohne Eltern, ohne Familie, so heimatlos wie herrenlos wie klassenlos, selbst mit der Nation haperte es bei mir, der ich nicht wusste, ist er nun mehr französisch oder mehr deutsch."

Beide waren sie 1958 nach Westdeutschland gekommen: Raddatz aus Ost-Berlin, 27 Jahre alt, Reich-Ranicki aus Warschau, 37 Jahre alt. Sie besaßen nichts außer ihren Koffern. Beide waren sie gezwungen, sich neu zu erfinden, und das Medium, das ihnen dabei half, war die Literatur. Es ist erstaunlich, mit welch radikaler Unbedingtheit sie ihre ganze Existenz auf das Reich der Bücher gründeten. Was der Ursprung war, innere Not, äußerer Zufall oder beides, kann hier außer Acht bleiben, Tatsache scheint jedenfalls, dass sie, ansonsten jeglichen Glaubens verlustig, einen Glauben an die überragende Bedeutung der Kunst hegten und hegen. Der Kommunismus, aus dem sie kamen, hatte diesen Glauben insofern bestätigt, als er die Literatur überaus ernst nahm, am stärksten da, wo er Zensur übte. Den blinden Zufall des Lebens also hatten sie beide erfahren, der ewige Bestand des Geistes gab ihnen Trost. Aus dieser Kunstreligion aber resultiert eine doppelte Überschätzung: die der Literatur und die der eigenen Person.

Gleichgültig, wie hoch man Literatur als Kunst schätzt, sie findet doch immer ihre Grenze darin, das sie nicht das Leben selber ist, sondern eine abgeleitete, nachträgliche und nachtragende Form, die das ungeheuer Unbegreifliche des menschlichen Lebens darzustellen und zu verstehen versucht. Das Leben geht der Kunst voraus. Der Jünger der Kunstreligion jedoch glaubt, es verhalte sich umgekehrt. Indem er ihr sein eigenes Leben weiht, ist er geneigt, es wie einen ungeschriebenen Roman zu betrachten und zu erzählen. Er belädt die Poesie mit den allerhöchsten Erwartungen. Dabei ist sie doch nur das von Menschen Gemachte. Sie kann das Leben nicht ersetzen, und wenn man die Autobiografien von Raddatz und Reich-Ranicki liest, so spürt man die untergründige Trauer darüber, dass der imaginäre Himmel der Literatur für das wirkliche Leben nur ein Ersatz ist.

Die Gier etwa, mit der Raddatz die Bekanntschaft, gar Freundschaft angesehener Künstler gesucht hat, der Eifer, mit dem er in seinem Buch die großen Namen, in deren Sonne er sich wärmte, auflistet, ist ja doch seltsam. Nicht immer ist es ersprießlich, was Raddatz gelegentlich zugibt, bedeutende Schriftsteller persönlich kennen zu lernen. Es sind selten nette Menschen (wären sie nett, müssten sie wohl nicht schreiben), und selten trägt ihre Bekanntschaft zu einem tieferen Verständnis des Werkes bei. Für Raddatz jedoch scheint es immer von größter Bedeutung gewesen zu sein, auf der Bühne der weltliterarischen Prominenz zu stehen und als einer betrachtet zu werden, der dazugehört.

Für Marcel Reich-Ranicki hingegen, der oft und glaubhaft seine Liebe zur Literatur bekannte, war die Freundschaft mit Autoren nachrangig. Sie wäre ihm auch auf seinem Weg zum bekanntesten Literaturkritiker hinderlich gewesen. Der Literaturpapst wird nicht gewählt, er muss sich den Weg nach oben über Feindschaften erkämpfen. In dieser Hinsicht war Reich-Ranicki nie zimperlich. Anders als im Falle Raddatz konnte sich kein Schriftsteller seiner Gunst sicher sein. Aber auch für Reich-Ranicki gilt, dass er sein Leben ausschließlich der Literatur gewidmet hat. Seine Hochachtung des Kunstschönen ist ebenso berühmt wie seine Verachtung des Naturschönen.

Der übergroßen Bedeutung, die Raddatz und Reich-Ranicki den Künsten beimessen, entspricht eine Selbstüberbietung, Selbstübersteigerung. Indem sie sich als Diener oder gar Priester der denkbar größten Sache verstanden, verschwamm die Differenz zwischen Beruf und Berufung, zwischen öffentlicher Funktion und privater Existenz. Die Dignität ihres Gegenstandes half ihnen hinweg über die eigenen Zweifel und Schwächen. Sie gab den Heimatlosen eine im Überzeitlichen gründende Heimat. Sie konnten dann, vom Schwung ihres Auftrags getragen, nichts mehr falsch machen, und ihr privates Empfinden wurde unverzüglich zum Maß eines allgemeinen. Der berühmte und typische Satz Reich-Ranickis, er habe bei der Lektüre von Martin Walsers Roman Ein springender Brunnen "unmenschlich gelitten", ist merkwürdig, weil die Leiden eines Kritikers nicht Gegenstand öffentlicher Erörterung sein können. Dieser ungehemmte Subjektivismus, den man auch bei Raddatz oft findet, erscheint seinen Urhebern nicht als solcher. Sie sprechen, was immer sie in Angelegenheiten der Literatur verkünden, nie bloß als sie selber - wie auch der Papst in Dingen des Glaubens nicht.

Weil dieser Logik zufolge der Unterschied zwischen Privatem und Öffentlichem entfällt, verliert auch die Kategorie des Peinlichen ihre Bedeutung. In seinen Erinnerungen erzählt Raddatz, wie ihn, den zwölfjährigen Knaben, sein Vater dazu gezwungen habe, unter Anleitung die junge Stiefmutter zu beschlafen, woraus Raddatz schließt: "Es mag wohl meine Beziehung zu Frauen fürderhin geprägt haben." Reich-Ranicki hat zwar derlei Intimitäten nie publik gemacht, aber seine Entgleisungen ins Schlüpfrige, zumal im Literarischen Quartett, seine öffentlichen oder halböffentlichen Infamien und Hassausbrüche sind legendär. Auch hat er, anders als Raddatz, langjährige Freundschaften, etwa die zu Joachim Fest oder Walter Jens, oft jählings aufgekündigt. Man erinnert sich ungern seines Nachrufes auf Hans Mayer: Dem homosexuellen Freund sagte er nach, er sei im Zuchthaus gelandet, weil ihn die Polizei mit einem Minderjährigen aufgespürt habe.

Während Reich-Ranicki seine Macht durch Unberechenbarkeit zu stabilisieren suchte, setzte Raddatz eher auf Berechenbarkeit. In den ideologisch aufgeladenen siebziger Jahren machte er das Feuilleton der ZEIT zum Medium des linken Zeitgeistes. Der Ruhm aber, den beide erlangt haben, hat auch damit zu tun, dass Medien nie nur Institutionen sind, sondern immer auch Zirkus. Jeder Zirkus braucht einen Clown, der mit seinen gespielten oder wirklichen Abstürzen das Publikum amüsiert. Die Clownskunst ist die höchste der Zirkuskünste, sie verbindet Weisheit und Dummheit, Tragik und Komik. Beide, Raddatz wie Reich-Ranicki, haben es darin so weit gebracht wie niemand sonst. Aber wenn sich das Publikum genug amüsiert hat, kommen die Dressurreiter.

Es bleibt die Frage, weshalb Jüngere den beiden Veteranen des Literaturbetriebs nicht nachgefolgt sind. Falls es Versuche in dieser Richtung gegeben hat, so sind sie unbemerkt geblieben. Die Antwort ist einfach: Erstens hat sich die Bedeutung des literarischen Werks innerhalb des Kulturbetriebs verringert. Damals, als beide auf dem Höhepunkt ihrer Macht standen, war die Literatur das zentrale Medium intellektueller Aufklärung und Selbstaufklärung. In ihr verständigte sich eine zunehmend politisierte Gegenöffentlichkeit, die den berühmten Hassausbruch von Franz Josef Strauß ("Ratten und Schmeißfliegen") als Bestätigung ihrer auch politischen Relevanz verstehen durfte. Heute benötigen die generell politisierten Feuilletons die Literatur nicht mehr in derselben Weise, was auch den Vorzug hat, dass eine von der ideologisch-moralischen Beweislast befreite Literatur sich leichter auf ihren ursprünglichen Auftrag besinnen kann. Es kommt hinzu, dass damals das literarische Leben überschaubar blieb, es gab vergleichsweise wenig neue Bücher und bedeutend weniger Medien. Die Aufmerksamkeit für einen neuen Roman von Böll, Grass oder Walser war ungleich größer als heute, und wer in den wenigen wichtigen Feuilletons die Macht hatte, der hatte sie wirklich. Reich-Ranicki hat zeitig erkannt, dass sich der Einfluss des geschriebenen Wortes mindern würde, und sich dem Fernsehen zugewendet, mit größtem Erfolg.

Zweitens aber sind die Biografien von MRR und FJR einmalig, in einem ebenso fürchterlichen wie großartigen Sinn. Niemand kann wünschen, sie ließen sich wiederholen. Beide haben sie auf seltsam ähnliche Weise die wundersame Blüte des deutschen Feuilletons möglich gemacht, keineswegs allein, aber doch in leitender und vorauseilender Rolle. Dass sie die besten Literaturkritiker ihrer Zeit gewesen seien, wird niemand behaupten. Es genügt, auf Kritiker wie Günter Blöcker oder Reinhard Baumgart zu verweisen, um zu sehen, dass MRR und FJR Meister der Machtentfaltung, aber nicht der subtilen ästhetischen Wahrnehmung sind.

Gute oder sehr gute Literaturkritiker hat es danach oftmals gegeben, und es gibt sie heute in größerer Zahl als damals, in der vergangenen, scheinbar großen Zeit. Aber keiner mehr hat Anspruch auf die vakante Position des Großkritikers erhoben. Der nachfolgenden Generation, aufgewachsen im bescheidenen und beschützenden Gehege der Bundesrepublik, wäre es kaum in den Sinn gekommen, sich selber wichtiger zu nehmen als die Aufgabe, die sie zu erfüllen hatte. Sie nahm sich auf ganz andere Weise ernst: indem sie ihre Selbstverwirklichung nicht mit ihrer beruflichen gleichsetzte.


Erschienen in der ZEIT am 18.9.2003

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