Home - Autoren der Gegenwart - deutschsprachige - Andreas Maier - Vom großen Hörensagen. Über Maiers "Wäldchestag"


 

 

Ulrich Greiner

Vom großen Hörensagen

Mit Wäldchestag hat Andreas Maier seinen ersten, völlig besoffenen und völlig überzeugenden Roman geschrieben

Die Wetterau, begrenzt vom Vogelsberg im Osten und vom Taunus im Westen, sei, so erzählt man sich dort, das Herz von Hessen, eine fruchtbare, nördlich von Frankfurt am Main gelegene Senke, die einstmals von Kleinbauern und hier und da eingesprengtem Landadel besiedelt war, heute aber den Weg aller Modernisierung gegangen sei, was nichts anderes heiße, als dass sie von Autobahnen und Schnellstraßen durchquert werde, auf denen tüchtige Bewohner das Schifflein ihres Gewerbes hin und her jagten, zumeist nach Frankfurt hinein und wieder heraus.

Zum Restbestand der alten Bräuche jedoch zähle der Wäldchestag, ein an die Pfingsttage angehängter dritter Feiertag, den man im Wäldchen (nämlich im Freien) mit Wein, Weib und Gesang verbringe, wobei unter Wein der ortstypische, von Fremden erst nach dem dritten Glas als unschädlich und möglicherweise schmackhaft erkannte Apfelwein (hier: Ebbelwoi) zu verstehen sei, was aber einschließe, dass auch ordentliche Mengen an Schnaps, Bier et cetera vertilgt würden, naturgemäß grundiert von allerlei Gegrilltem.

Das alles sei längst bekannt, neu allerdings die Tatsache, dass ein Bad Nauheimer, also ein typischer Wetterauer, sich daran gemacht habe, die Lebens-, Rede- und Trinkgewohnheiten der genannten Region in einem Roman mit dem bezeichnenden Titel Wäldchestag derart durch den Kakao zu ziehen, dass man schon ein echter Wetterauer sein müsse, also von Kindesbeinen an vertraut mit herzhaftem, wenn nicht grobem Witz, um das Werk oder Machwerk des übrigens gerade erst rund dreißigjährigen Nauheimers von der humoristischen Seite zu nehmen, was allerdings nicht ganz leicht sei, denn, abgesehen von einigen wahnsinnig komischen und dann wieder rührenden Szenen, sei der Roman auf etwas befremdliche Weise philosophisch, wozu auch die Tatsache gehöre, dass er vollständig im Konjunktiv geschrieben sei.

Im Konjunktiv allerdings rede man in der Wetterau keineswegs miteinander, dort herrsche der Indikativ gewissermaßen total, und deshalb frage man sich, ob dieser Nauheimer, der sich Andreas Maier nenne, was ja nun durchaus auf ein Pseudonym schließen lasse, am Ende nicht doch ein Eingeplackter, wolle sagen Orts- und Regionsfremder sei. Man werde der Sache nachgehen, müsse aber zugeben, dass dieser Maier mit seinem offenbar ersten Buch einen Geniestreich gelandet habe.

Es sei, so heißt es unter den Wetterauern weiter, verdammt schwer, sich dem Sound dieses Buchs zu entziehen, und selbst einer, den die Wetterau gar nicht interessiere (was allerdings kaum vorstellbar sei), komme nicht umhin, diesem berauschten, halb tief-, halb schwachsinnigen Geschwätz von rund einem Dutzend Wetterauern zuzuhören, wobei ihm binnem Kurzem der Kopf schwirre, weil es vollkommen unklar sei, wer eigentlich was erzähle und wo eigentlich die reale Basis des Erzählten zu finden wäre. Zu dieser Verwirrung, von der letzten Endes alle, übrigens infolge des Wäldchestages und eines allfälligen Leichenschmauses zumeist betrunkenen Personen der Geschichte geschlagen seien, trage der bereits erwähnte Konjunktiv, der ja seinerseits etwas etwas Betrunkenes, vor allem auf Dauer, an sich habe, nicht wenig bei, so dass es kaum möglich sei, der von diesem Andreas Maier hingezauberten und -gefaselten Geschichte im Indikativ gerecht zu werden.

Das kann schon sein. Versuchen wir es dennoch. Natürlich ist, was den Konjunktiv betrifft, der Hinweis auf Thomas Bernhard unvermeidlich, der die österreichische Kanzleisprache zur höchsten Kunstform entwickelt hat. Vor allem seine frühen Romane wie Frost, Verstörung oder Das Kalkwerk sind negative Heimatromane der schwärzesten Art, und der Konjunktiv dient ihm dazu, eine Geistesrotation in Gang zu setzen, die alles Vorgegebene in den Strudel des Verdachts, des Misstrauens und der spekulativen Ungewissheit zieht. Auch Maiers Wäldchestag ist ein Heimatroman, allerdings kein schwarzer, sondern ein kunterbunt gesprenkelter. Von Thomas Bernhard hat er durchaus gelernt, aber er ist keineswegs ein Bernhard-Epigone, denn viel zu sehr (und viel mehr als Bernhard) ist Maier am gesellschaftlichen Wirbel interessiert, am Hin und Her der Täuschungen, Selbstdarstellungen und Entblößungen. Er greift hinein ins volle Menschenleben und fördert einen ganzen Karneval der Affären und Schicksale zu Tage.

Da ist zum Beispiel Schossau, etwa dreißig Jahre alt, seines Zeichens Heimatforscher, Freund des alten Adomeit, dessen Beerdigung just an Pfingsten stattfindet - samt Testamentseröffnung am Tag darauf. Schossau, so hat es zunächst den Anschein, ist der Erzähler, aber trauen können wir ihm um so weniger, als er sich selber nicht traut. „Er habe jetzt ganz klar gesehen“, so heißt es gleich zu Beginn, „daß alle diese Wetterauer wahnsinnig seien. Allerdings drehe er neuerdings auch durch. Er könne gar nicht mehr sagen, was von dieser Geschichte tatsächlich passiert sei, was ihm bloß erzählt wurde oder was er möglicherweise im Verlauf des dauernden Nachdenkens ergänzt oder erfunden habe. Es habe nicht mehr zu reden aufgehört in ihm. Alles habe durcheinander geredet.“

Es redet. Und alles ist ein gewaltiges Stimmengewirr, in dem wir nach und nach einzelne Personen ausmachen können: Wiesner, der mit der Ute geht, aber sie dauernd vor den Kopf stößt, weil er sich mal in die Türkin aus dem Reisebüro, mal in die Großnichte des Erblassers verguckt; Adomeits Verwandte, die erbschleicherisch ventilieren und intrigieren; der Notar, der aus seiner simplen Aufgabe einen bedachtsam inszenierten Auftritt macht; und schließlich all die andern, der Pfarrer, der Bürgermeister, der Dachdecker, die Putzfrau et cetera pp, es nimmt schier kein Ende. Und alle reden sie ununterbrochen, auf der Beerdigung, beim Grillfest, auf der Straße, in der Kneipe, sind willfährige Opfer einer Diarrhöe des permanenten Geplappers.

Es ist, als wäre diese Kleinstadt ein kollektiver Kopf, in dem es gärt und brodelt, wo Größenwahn und Kleingeist, Verrat und Anstand, Neid und Großmut, Treue und Zynismus, Wichtigtuerei und Bescheidenheit dicht beieinander hausen, oft in ein und derselben Person, und als müsse sich dieser Gesamtkopf der deutschen Provinz jäh und rückhaltlos entleeren, einem Exzess des Bekennens anheimgeben, als wäre Big Brother längst und immerzu unter uns.

Was wir hören, ist aber nie das Autorisierte und Authentische, sondern immer nur das konjunktivisch vom Hörensagen Weitergegebene, das Gehörte, Gedachte, Gereimte aus zweiter und dritter Hand. Und längst zeigt sich, dass der anfangs halbwegs vertrauenswürdige Schossau keineswegs übertrieben hat: Die Geschichte entgleitet ihm, sie spinnt sich selber fort, erzeugt ihre eigenen Nebenflüsse und Rinnsale, verzweigt sich immer mehr, und die größte Kunst Andreas Maiers besteht darin, dass er dieses scheinbar unübersehbare Delta am Ende in eine vollkommen schlüssige Geschichte münden lässt, die allerdings einigermaßen banal ist. Denn was passiert? Mein Gott, wenn man das in einem Satz sagen könnte! Nichts Besonderes. Vielleicht: Pack schlägt sich, Pack verträgt sich. Aber es ist ja nicht nur Pack, es sind Zeitgenossen wie du und ich, manche fremd und bizarr, andere vertraut und nah.

Andreas Maier allerdings gibt der Geschichte einen bedeutsamen Rahmen. Denn Schossau hat das erste und das letzte Wort. Er ist der Philosoph, weil er, nach allem was er hört und sieht, an seinem Verstand zweifelt, und selbst an den Dingen: „Es ist, hat Schossau gesagt, als sei allem etwas entzogen worden, wie durch einen chemischen Vorgang, eine Substanz, die nicht mehr in den Dingen vorhanden sei, obgleich sie doch eigentlich in ihnen vorhanden sein müßte. Er könne auch überhaupt nicht sagen, wie er auf diesen Gedanken komme.“ Und dann heißt es: „Meine Gedanken erlegen den Dingen keinerlei Notwendigkeit auf. Er, Schossau, denke diesen Satz in den letzten Tagen immer wieder.“

Dieser, wie es gegen Ende heißt, „cartesianische Satz“, kommt Schossau nunmehr „abgeschmackt“ vor, und er wehrt sich gegen ihn, wenngleich erfolglos. Denn dadurch, dass er quasi zufällig auf die zentrale, von Descartes und später Kant revolutionär beantwortete Frage nach der Wahrheit alltäglichen Erkennens stößt, beginnt er an allem und an sich selber zu zweifeln. Bekanntlich hat Kleist nach der Lektüre Kants eine Lebenskrise erlitten, an deren Ende er den Freitod mit Henriette Vogel wählte. Nicht zufällig geistert durch diesen Roman eine Pistole (die aber nicht wirklich losgeht), nicht zufällig gibt es zwei jugendlich verliebte und verzweifelte Gestalten, denen selbstmörderische Gedanken durch den Kopf gehen. Und der völlig aus dem Lot geratene Wiesner ergreift am Ende eine Schießbudengewehr und versetzt die gesamte Wäldchestaggemeinde in Panik.

Maier nun konterkariert und ironisiert diesen pathetisch grundstürzenden Erkenntniszweifel dadurch, dass der ganze Roman nichts anderes ist als Schossaus Antrag an die Ersatzkasse auf Bewilligung einer Kur. Von ihm, der dieses ganze Wäldchestag-Tohuwabohu bis an den eigenen Rand und bis zu dem als Amoklauf missverstandenen Durchdrehen Wiesners miterlebt und miterlitten hat, heißt es am Ende: „Am nächsten Morgen habe er, Schossau, die Schlagzeile im Wetterauer Anzeiger gelesen: Vermeintlicher Amoklauf am Wäldchestag. Der Bericht sei fast über die gesamte erste Seite gegangen. Unten am Rand der Seite habe ein weiterer Artikel gestanden, dessen Inhalt er, der antragstellende Schossau, nicht sofort begriffen habe, aufgrund dessen er aber nun hier zur Stellung vorgenannten Antrags erschienen sei. Der Artikel laute: AOK-Kuren: Existenzen einen neuen Sinn geben.“

Man dürfe nun allerdings, so ruft jetzt ein Frankfurter ungefragt dazwischen, dieses bizarre und etwas an den Haaren herbeigezogene Ende nicht überinterpretieren. Es neigten eben die Nauheimer generell zum Aufschneiden und zum Übertreiben, was er als Frankfurter schließlich wissen müsse. Und man könne nicht übersehen, dass dieser Nauheimer namens Maier sich manchmal zu sehr auf die Genialität seines Einfalls und auf sein in der Tat gewaltiges sprachliches Vermögen verlasse. Obgleich er als Frankfurter also nicht dazu neige, an Wetterauer Produkten und Geschehnissen übermäßigen Anteil zu nehmen, so wolle er doch zu Protokoll geben, dass ihn selten ein Roman so amüsiert habe, wobei er nicht unter, sondern eher über seinem Niveau gelacht habe. Und er bleibe nach der Lektüre doch einigermaßen nachdenklich zurück, weil er nun begriffen habe, dass hinter all dem Geschwätz, das bekanntlich jede Talkshow breit trete und das schier unerträglich sei, schließlich auch wirklich Menschen steckten, die man zwar nicht lieben müsse, die einem aber in Maiers Buch als mögliche oder wirkliche, als fürchterliche und hier und da auch liebe Nachbarn begegneten, und das sei ja immerhin eine gewaltige Leistung für einen Debütanten, noch dazu aus Bad Nauheim, das müsse er als Frankfurter doch mal sagen dürfen.


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