Die Quadratur des Gerüchts: der Roman Klausen von Andreas Maier
Andreas Maier, Jahrgang 1967, der begabteste Schwadroneur unter den jüngeren Autoren, hat wieder zugeschlagen. Die hessische Wetterau in seinem verblüffend guten Roman Wäldchestag (2000), das Gelände heillos ineinander verstrickter Schicksale und Affären, hat sich hier, in seinem zweiten Roman Klausen, in die Provinz Südtirol verwandelt, in die an der Brennerautobahn gelegene Stadt gleichen Namens. Und wieder hebt ein gewaltiges Rumoren an, ein heftiges Gesummse und Gewese, gibt es viel Lärm um nichts, wieder zeigt sich Maier als gewitzter, sprachbegabter Stimmenimitator, der die Personen, ohne jemals ihr Äußeres zu schildern, anschaulich macht und auf den Begriff bringt.
Am Ende, nach rund 200 Seiten vergnügter Lektüre, reibt sich der Leser die Augen: Was war da? War da was? Gut, es gibt eine Bürgerinitiative gegen den Lärm der Autobahn, es gibt Streit darüber im Gemeinderat, bitter umkämpfte Geräuschmessungen, schließlich eine Prügelei, wobei nicht ganz klar ist, wer da wen und aus welchen Gründen attackiert. Im Hintergrund agiert noch eine radikale Vogelschützer-Sekte, die ihre Wut gegen einen ortsbekannten Baulöwen richtet und ihn nächtlings zusammenschlägt. Ein illegales Asylantenlager wird plötzlich zum Schauplatz wilder Sauforgien und übler Verdächtigungen, zugleich gärt wieder der alte, bis in die Zeiten des Faschismus führende Konflikt zwischen deutschsprachigen und italienischen Südtirolern.
Die geläufige Mischung aus heimatverbundenen Traditionsbürgern und Opfern der beschleunigten Modernisierung, aus deutschtümelnden Touristen und korrupten Lokalpolitikern, das Gebräu aus Ehrgeiz und Treuherzigkeit, aus Ressentiment und Idealismus erreichen binnen weniger Tage einen kritischen Zustand. Gerüchte machen die Runde, es ereignet sich permanent, wie es heißt, die "bloße Kombination im Raum schwebender Motive". Die Kombination erzeugt den Verdacht, und der Verdacht richtet sich, wie so oft, gegen den fremden Typus, gegen Ausländer, Intellektuelle, Künstler.
Der Ausländer ist hier ein schon jahrelang ansässiger und allen bekannter Pakistani, den zufällige Kneipengäste einem strengen Verhör unterziehen. Der Künstler, ein versoffenes Genie, gilt unter Eingeweihten als großer Lyriker und spielt am Ende während einer Blockade der Autobahn eine bizarre Rolle. Der Intellektuelle ist ein abgebrochener Akademiker, der in Berlin studiert hat, jetzt im Fremdenverkehrsbüro arbeitet und arglose Touristen in die Irre schickt. Dieser Mann mit Namen Gasser ist die heimliche Hauptfigur, eine ruheloser, mit sich selbst und der Welt zerfallener Grübler, der einmal, nachdem er seine Mutter wegen ihrer Lektüre billiger Magazine kritisiert und sie ihm geantwortet hat, sie lese doch "einfach nur", sagt: "Nichts ist einfach nur." So beginnen Verschwörungstheorien.
Die Verschwörung, die alle hinter allem wittern, findet gar nicht statt, sie hat es nie gegeben, und gegen den von allen verdächtigten Gasser gibt es nicht den Hauch eines Beweises. Beweis wofür? Dafür, dass so gut wie nichts passiert ist. Aber auch das ist für die meisten kein Beweis, denn: "Die Nichtausführung des Plans wies für sie völlig logisch auf die Existenz genau dieses Plans hin."
Das sind die Pointen, auf die Andreas Maier lustvoll und wirkungsvoll hinarbeitet. Literatur und Wirklichkeit fallen auf einmal ineinander, weil die Wirklichkeit nichts als erzähltes Leben ist - und die Literatur, indem sie dem erzählten Leben Gestalt gibt, nur ein anderer Aggregatzustand der Wirklichkeit. "Mitten im Getümmel, so behaupteten später einige, sei plötzlich Gasser erschienen. Niemand konnte das bestätigen, aber die Rede hielt sich hartnäckig. Allerdings stellte sich später heraus, dass dieser Gasser ein bloßes Wahngebilde war, eine aus dem Abend in den Mittag vorgezogene Epiphanie. (...) Die Erscheinung ist die höchste Form des Gerüchts." Und später: "Sie behaupteten sogar, Gasser habe maßgeblich dazu beigetragen, dass sich die Demonstration aufgelöst habe; und wenn sie es auch nicht mit eigenen Augen gesehen hatten, so hatten sie es doch erzählt bekommen."
Andreas Maier entwirft am zufälligen Ort Klausen das überzeugende Soziogramm des Gerüchts. Es entsteht automatisch bei kommunikativer Verdichtung, es ist gleichermaßen Nährboden und Frucht des Geredes, das uns alle umgibt, das wir alle produzieren. "Je weniger man sagen konnte, woher (also von wem) das Gerücht stammte, desto exakter wurde es."
Zweierlei, verglichen mit dem Wäldchestag, ist an diesem Buch anders. Erstens hat Maier die Blickwinkel seiner Erzählung vervielfacht. Er wechselt (abgesehen von wenigen aneinander geschraubt wirkenden Passagen) elegant aus der Vogelperspektive in die Nahaufnahme, er lenkt seine Figuren von außen wie von innen. Die Formen der Darstellung sind reicher als im ersten Roman, der fast nur aus einer einzigen berauschenden Konjunktiv-Orgie bestand. Diesem Gewinn entspricht ein Verlust an Plastizität der Hauptfiguren. Sie kommen uns nicht nahe. Sie bleiben Agenten und Getriebene dessen, was man Gesellschaft nennt. Selbst Gasser, eine Art Schattenfigur des Erzählers, ist nur ein Schatten der Projektionen, die das Gerücht auf ihn wirft. Das ist in der Konzeption des Romans nur logisch, aber Logik allein ist nicht alles. Zwar erleben wir überraschend jene Folgen des alltäglichen Gequatsches, die wir uns nur dann bewusst machen, wenn wir dessen Opfer sind. Insofern amüsiert und belehrt uns dieses Buch. Aber weil wir uns von den Akteuren leicht distanzieren können - so wie sich der Autor von ihnen distanziert -, bewegen sie uns nicht wirklich.
Nach einem ersten Erfolg das zweite Buch zu schreiben ist bekanntlich schwer, und nicht wenige scheitern daran. Andreas Maier hat die Hürde mit Schwung und Geschick gemeistert. Er ist jetzt als Autor vorhanden und kann in seinem nächsten Buch gelassen zeigen, was alles noch in ihm steckt.
Andreas Maier: Klausen. Roman; Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002