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Ulrich Greiner Andreas Maier: „Kirillow“ Sturm und Drang – das ist nicht nur eine literarische Epoche, es ist das Vorrecht der Jugend, ein berauschendes, schmerzendes Lebensgefühl. Es ergreift jeden, der ein Herz hat, und es kann ihn um den Verstand bringen. So wie Julian, einen der Helden in Andreas Maiers "Kirillow", den die banalsten, die tiefsten Fragen umtreiben: Kann man den miserablen Zustand der Welt ändern? Wie hängt alles miteinander zusammen? Was ist der Sinn des Lebens? Nächte hindurch streitet er darüber mit Freunden. Beneidenswert, bedauernswert, wer so fragt, bis an den Hals gefüllt mit Energie und Zweifel, und nirgends ein Ziel. Eines Abends sind Julian und seine Freunde Gast auf einer Party, die Julians Vater, seines Zeichens Landtagsabgeordneter, zu Ehren des Ministerpräsidenten gibt. Da sind also die Erwachsenen, die den Durchblick und die Macht haben. Julian, angefüllt von Widerwillen und Ekel, betrinkt sich, es kommt zum Eklat. Ein scharfer Wortwechsel, eine Beleidigung, eine drohende Ohrfeige. Hier wirft sich Frank, der ältere Freund Julians, mit einer jesuanischen Tat dazwischen, fällt dem Schlagenden (einem hochrangigen Politiker) in den Arm und schneidet sich mit einem zerbrochenen Glas den Unterarm auf: ein Blutopfer für die Sünden dieser Welt, dieses Abends, eine Szene, wie von Dostojewskij erfunden. Frank ist die am wenigsten definierte Figur des Romans, man weiß, da er meist schweigt, fast nichts über ihn. Er aber scheint etwas zu wissen, eine Erfahrung gemacht zu haben, die Julian (auch seiner Schwester Anja, seinem Freund Jobst) erst bevorsteht. Der Roman schildert die Stationen auf dem Weg dorthin: das Schwadronieren und Philosophieren; den dramatisch angekündigten, aber nicht vollzogenen Freitod; die anarchische Tat des Vandalismus; die politische des Widerstands gegen die Castor-Transporte. Alles scheitert. Es endet mit Franks Tod, der sich wieder wie ein hilfloser Engel dazwischenwirft, diesmal vergebens. Andreas Maier hat hier eine neue Stufe seines Könnens erreicht. Es gibt keinen lokalisierbaren Erzähler mehr, auch fehlen die Konjunktiv-Orgien des Wäldchestags, die alles in ein Delirium des Mutmaßlichen zogen. In "Kirillow" springt die Erzählstimme von Person zu Person, von innen nach außen, und wir erleben, wie sich diese Sinnsucher und Kneipenschwätzer immer tiefer in eine irreale Welt eingraben, wobei ganz unklar ist, was eigentlich die reale wäre. Unmerklich (auch das hat Maier von Dostojewskij gelernt) sind die Übergänge vom Schwach- zum Tiefsinn, vom Komischen ins Tragische, vom Halluzinatorischen ins Seherische. Meisterhaft das Anschwellen der Kakofonie bis hin zu einer Philosophie der unbedingten, abstrakten Tat, die aber zu nichts führt. Es sei denn zur Caritas, zur interesselosen Sorge für die alte Frau Gerber, die einen Haltepunkt im Sturm und Drang der jungen Leute bildet. "Kirillow" ist abgrundtief ernst und verzweifelt komisch, und anders kann man unsere Lage nicht nennen.
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