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Ulrich Greiner

Am anderen Ende der Geschichte

»Die Straße« von Cormac McCarthy: Ein ungeheurer und ungeheuer finsterer Roman. Will man so etwas lesen? Ein Selbstgespräch

Cormac McCarthy also. Reden wir über diesen merkwürdigsten Einsiedler der amerikanischen Literatur. Sein Werk ist der geistige Wallfahrtsort aller untergangsseligen Fantasten. Sehr suggestiv, in der Tat, sehr unheimlich und ziemlich verdächtig.

Verdächtig? All die schönen Pferde oder Die Abendröte im Westen sind grandiose Romane. Erst recht das neue, absolut apokalyptische Buch Die Straße. Es gibt dafür keinen Vergleich in der Gegenwart. Das hat den Rang von Edgar Allan Poe oder Herman Melville.

Du greifst zu hoch. Vergiss nicht: Misstrauen ist die erste Kritikerpflicht. Deine Begeisterung führt dich mitten in die schwärzeste Romantik.

Warum nicht? Aber Begeisterung ist das falsche Wort. Ich erfahre jenes Schaudern, wofür einst das sogenannte Erhabene zuständig war. Caspar David Friedrichs Mönch am Meer, der am äußersten Rand des festen Bodens steht, blickt hinaus in die Nacht des Chaos. Er wendet uns den Rücken zu, wir sehen seine Augen nicht, aber sie können nicht anders als schreckensstarr gewesen sein. Schreckensstarr wie meine Augen, als ich McCarthys Roman Die Straße las.

Auch mich rührte die Geschichte zu Tränen. Gerade das gab mir den Verdacht schierer Sentimentalität. Wir kennen doch den sauren Kitsch zur Genüge, den moralisch-intellektuellen Masochismus, das Schwelgen im Monströsen.

Verwechselst du McCarthy mit Bret Easton Ellis und all den anderen Talkmastern der Finsternis? Monströs ist der Roman in der Tat, aber nicht monströser als die Realität. Die globale Katastrophe ist seit Erfindung der Atombombe möglich. Und sie ist insofern wahrscheinlich, als jede Pistole, die in einer Kriminalgeschichte auftaucht, unweigerlich losgeht. Die Menschheitsgeschichte war immer auch eine Kriminalgeschichte.

Jetzt muss ich lachen. Du erinnerst mich an Günther Anders und die legendäre Atomtod-Debatte.

Oder an die Nachrüstungsdedatte der Achtziger und Filme wie The Day After. Aber du lachst zu früh. Dass die Angst vorm Atomtod außer Mode ist, spricht nicht gegen sie. Du redest lieber von der Klimakatastrophe. Aber für McCarthys Roman ist das unerheblich. Bei ihm hat die Katastrophe, welchen Ursprungs auch immer, schon stattgefunden, vor schätzungsweise zehn Jahren. Etwa so alt ist der Junge. Er wurde geboren, als sie hereinbrach. Jetzt stolpert er an der Hand seines Vaters durch ein Toten- und Todesreich. Alles verbrannt, zerstört, geplündert. Irgendwie essbare Tiere sind ausgestorben, die Städte leer. Nur hier und da noch, in Höhlen und Lagern, Abkömmlinge der menschlichen Rasse. Die meisten sind Untermenschen. Sie nähren sich von Raub und Mord und Menschenfleisch. Der Vater nennt sie »die Bösen«. Wie viele von den »Guten« es noch gibt, weiß er nicht. Seine größte Sorge ist, den Kannibalen zu begegnen. Er hat noch einen einzigen Schuss in seinem Revolver. Vater und Sohn schieben ihren Einkaufswagen mit wenigen Habseligkeiten durch ein Gestöber aus Asche und Schnee. Ewiger Winter herrscht über der Erde.

Erlaube den Hinweis, dass wir das nicht wissen. Wir wissen nicht, ob dieser Winter die ganze Welt beherrscht oder nur Virginia. Ein einziges Mal ist von Piedmont die Rede, und davor sind die beiden einen höheren Berg hinauf- und schließlich hinabgestiegen. Ich nehme an, es sind die Appalachen. Aus unklaren Gründen vermutet der Vater, es müsse im Süden, unten am Meer, besser oder wärmer sein, was natürlich nicht zutrifft, im Gegenteil, alles wird immer schlimmer, noch nässer und noch kälter. Woher die beiden kommen, erfahren wir nicht. Sie müssen schon Jahre unterwegs sein. Der Vater hustet sich die Seele aus dem Leib, wird schwach und schwächer und stirbt schließlich in den Armen seines Sohnes. Der wird wenig später von den »Guten« aufgelesen.

Wie du das erzählst, klingt es missmutig.

Es gibt ja nicht viel zu erzählen. Wir haben das andere Ende der Geschichte vor uns, und es bedeutet in gewisser Weise auch das Ende der Geschichten. Im Grunde geht das gar nicht, was McCarthy hier macht. Er variiert ein einziges Standbild. Es ist ein Endspiel, aber anders als Beckett schwelgt er im Düsteren. Du erinnerst dich an die Szene, als beide mal wieder kurz vorm Verhungern sind und auf die Reste eines Lagerfeuers stoßen. Der Vater will sich das genauer ansehen, in der Hoffnung, etwas Essbares zu finden. Der Junge hat schreckliche Angst: »"Kann ich dich bei der Hand halten?" - "Ja. Natürlich." Der Wald bestand nur aus verbrannten Stämmen. "Ich glaube, sie haben uns gesehen", sagte der Mann. "Ich glaube, sie haben uns gesehen und sind abgehauen. Sie haben gesehen, dass wir einen Revolver haben. Sie haben ihr Essen zurückgelassen." - "Ja." Sehen wirs uns mal an. "Ich habe richtig Angst, Papa. - "Da ist niemand. Keine Sorge." Sie traten auf die kleine Lichtung, der Junge an seine Hand geklammert. Bis auf das schwarze Ding, das über der Glut auf einem Spieß steckte, hatten die Leute alles mitgenommen. Er stand da und schaute prüfend in die Runde, als der Junge sich zu ihm umdrehte und das Gesicht an seinem Körper vergrub. Mit raschem Blick versuchte er festzustellen, was passiert war. "Was ist denn?", fragte er. "Was ist denn?" Der Junge schüttelte den Kopf. "O Papa", sagte er. Der Mann sah genauer hin. Was der Junge gesehen hatte, war der verkohlte Leib eines Kleinkindes, ohne Kopf, ausgeweidet und auf dem Spieß langsam schwärzer werdend. Er bückte sich, nahm den Jungen auf den Arm und lief, während er ihn fest an sich drückte, in Richtung Straße los. Es tut mir leid, flüsterte er. Es tut mir leid. Er wusste nicht, ob der Junge je wieder etwas sagen würde.«

Das ist schrecklich. Es gibt einige solche Szenen. Trotzdem hast du das Buch bis ans Ende gelesen.

Sogar mit Spannung. Obgleich ich nicht sagen kann, weshalb. Ich habe gefroren beim Lesen. Es ist ein beklemmendes Gefühl, unseren Alltag aus der postapokalyptischen Perspektive beschrieben zu sehen: geplünderte Supermärkte, entgleiste Züge mit Toten darin, Kreuzungen mit verlassenen Autos, Landstraßen mit Leichen an den Telegrafenmasten. Warum liest man das, warum tut man sich das an?

Du musst ja nicht. Nur wenige Bücher taugen als Wärmestube. Die großen Werke der Weltliteratur sind oftmals Expeditionen in die Nacht. Und bei Expeditionen zählen lediglich Mut und Präzision. Du musst zugeben, dass McCarthy diese Tugenden besitzt. Er schwafelt nie. Am Rand des Überlebens sind technische, handwerkliche Details von größter Bedeutung. Etwa, wie man aus Altöl, Benzinresten und anderen Hilfsmitteln eine Lampe konstruiert. Derlei beschreibt McCarthy mit Akkuratesse.

Also mein Strom kommt aus der Steckdose. Warum sollte ich mich für das Leben nach dem Leben interessieren?

Die Straße ist kein Handbuch fürs Überleben. Aber sie zeigt, was es heißt zu überleben. Sie hat eine wirkungsvolle Dramaturgie. Ich lese das Buch mit angehaltenem Atem. Kurz nachdem die beiden fast in die Hände der Kannibalen gefallen wären und kurz bevor sie vor Hunger und Kälte fast sterben, entdecken sie im Garten eines zerstörten Hauses einen verlassenen Bunker, ausgestattet mit allem, was sie sich nur wünschen, Lebensmittel, sauberes Wasser, Gas zum Kochen und Heizen. Offenbar haben es die Hausbewohner nicht mehr geschafft, ihr rettendes Domizil zu erreichen, es fehlt jede Spur von ihnen. Hier erholen sich unsere letzten Helden von all dem Horror und wir uns mit ihnen. Da kehrt plötzlich die Erinnerung an das frühere Leben in Wohlstand und Sicherheit zurück. Ein Leben, das der Junge nie kennengelernt hat.

Ihr Glück dauert nicht lange.

Nein, sie müssen fürchten, entdeckt zu werden. Immer wieder ziehen marodierende Banden durchs Land, und man kann den Eingang zum Erdbunker natürlich nicht von innen tarnen.

Klar. Ich hatte kein gutes Gefühl, als sie die paar Tage da unten verbrachten. Sie saßen in der Falle. Seltsam: Ich wollte, dass sie überleben, ich war, obwohl angeödet von dieser schwarzen Monotonie, auf ihrer Seite.

Es ist ja nicht nur schwarze Monotonie. Es ist auch die Geschichte einer Liebe zwischen Vater und Sohn, wie sie reiner und schöner kaum gedacht werden kann. Am Ende dreht sich das Verhältnis des Sohnes zum Vater um. Jetzt ist der Alte schwach, und der Sohn ist der Erbe.

Was er erbt, ist nichts.

Aber es ist auch ein Beginn. Auf den ersten Seiten wird erzählt, wie der Vater dem Jungen eine Flöte schnitzt. Als sie weiterziehen, hört er ihn spielen: »Nach einer Weile fiel der Junge zurück, und wieder etwas später konnte der Mann ihn spielen hören. Eine formlose Musik für das kommende Zeitalter. Oder vielleicht die letzte Musik auf der Erde, beschworen aus der Asche ihres Untergangs.«

Ja, das ist eine schöne Passage, und schön sind auch die Dialoge, äußerst wortkarg, voller Nähe. Jeder ist, wie es einmal heißt, die ganze Welt des anderen. Eine religiöse Vorstellung.

Genau. Das ist der Grund, weshalb ich dieses Buch mit so großer Anteilnahme lese. Es ist ein Werk der Transzendenz, es überschreitet die bequeme, aber doch kümmerliche Welt unsres Alltags, unsrer kleinen Egoismen. Gleich am Anfang heißt es: »Als es hell genug wurde, um das Fernglas zu benutzen, suchte er das unter ihm liegende Tal ab. Alles verblasste in die Düsterkeit. Über dem Asphalt flog in lockeren Wirbeln die weiche Asche. Er senkte das Fernglas, zog sich den Baumwollmundschutz vom Gesicht, wischte sich mit dem Handrücken die Nase und suchte erneut die Landschaft ab. Dann saß er, in der Hand das Fernglas, einfach nur da und sah zu, wie das aschene Tageslicht über dem Land gerann. Er wusste nur, dass das Kind seine Rechtfertigung war. Er sagte: Wenn er nicht das Wort Gottes ist, hat Gott nie gesprochen.«

Ein verwegener Gedanke: dass dieser kleine Junge Gottes Sohn sei, der die zerstörte Welt vielleicht erretten werde.

Ja, verwegen und tröstlich. Und dazu passt, dass es am allerletzten Ende eine Frau ist, eine von den »Guten«, die den Jungen in den Arm nimmt. Wenn ich es recht verstehe, beginnt nun ein neues Zeitalter, eine andere Geschichte. Aber das nun ist wirklich monströs: dass ausgerechnet ein Roman, dass die Literatur die Menschheit retten soll.

Was sonst?

Cormac McCarthy: Die Straße
Roman; aus dem Englischen von Nikolaus Stingl; Rowohlt Verlag, Reinbek 2007; 252 S., 19,90
Erschienen 2007 in der ZEIT

 


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