Das folgende Gespräch wurde am 11. Oktober 2009 geführt, nachdem die Schwedische Akademie am 8. Oktober mitgeteilt hatte, dass Herta Müller den Literaturnobelpreis 2009 erhalten werde. Das Interview ist das einzige, das Herta Müller danach gegeben hat. Es erschien in der ZEIT vom 15. Oktober.
DIE ZEIT: Was freut Sie am Nobelpreis? Herta Müller: Ich sehe darin eine Belohnung. Viele glauben, wer den Nobelpreis bekomme, gewinne einen besonderen Status. Als Schriftsteller aber kann man keinen Status haben. Es freut mich, dass die Behandlung meines Themas belohnt wird, bei dem es immer um Diktatur geht, um das planmäßige Zerstören des Einzelnen, der in der totalitären Gesellschaft überhaupt nichts zählt. Es freut mich für die Freunde, die Opfer des Terrors wurden, und das sind nicht wenige. Und es freut mich für Oskar Pastior. Ich glaube, er hätte sich kindlich darüber gefreut. ZEIT: In Ihrem neuen Buch Atemschaukel haben Sie diesem wunderbaren Schriftsteller, der vor fünf Jahren gestorben ist, ein Denkmal gesetzt. Müller: Ja, schon, aber es ist bitter, dass er das nicht mehr erleben durfte. Man sagt sich dann, vielleicht sitzt er in seinem Wolkenzimmer und schaut zu. Das ist ein magischer Trost, aber ich glaube nicht daran. Seine Urne wurde in die Erde getan, nicht in den Himmel. ZEIT: Manchmal hat man die Hoffnung, die Vergangenheit könnte vergehen. Kann sie das? Müller: Sie vergeht bei keinem Menschen, egal, unter welchen Umständen er gelebt hat. Jeder hat Ängste, etwa wenn Beziehungen zerbrechen oder wenn man an einer Krankheit leidet. Durch solche Dinge wird man verändert, die bleiben. Und das gilt erst recht, wenn man mit extremen Situationen zu tun hatte, die einen beschädigt haben, wenn man Todesangst erlitten hat, weil man wie ich von einem repressiven Apparat verfolgt wurde, und das fünfzehn Jahre lang. Aber auf seltsame Weise gewöhnt man sich daran, es wird zu einer gespenstischen Normalität. Man zähmt seine Angst und versucht, daraus etwas anderes zu machen. Das gelingt sogar zeitweise, obwohl man immer weiß, dass es eigentlich anders ist. Man steht neben sich, und das habe ich in all den Jahren lernen müssen: neben mir zu stehen. So wie ich auch jetzt neben mir stehe, wenn es um diesen Preis geht. Ich bin auf eine sehr praktische Weise schizophren. ZEIT: Haben Sie uns im Westen, als Sie 1987 hierherkamen, als ahnungslos empfunden? Müller: Insofern nicht, als man sich hier in Deutschland mit Diktaturen auskennt. Man hat den Nationalsozialismus nicht nur erlebt, man hat ihn ja gemacht. Und dann kam die Diktatur in der DDR, die denselben Zuschnitt hatte wie die anderen osteuropäischen Diktaturen. ZEIT: Hier und da gab es Vorbehalte gegen Ihr Werk. Müller: Es gab den Vorwurf, ich würde immer nur über die Vergangenheit schreiben. Wann, fragte man, schriebe ich endlich über Deutschland und die Gegenwart. Ich fand das seltsam. Bei Autoren wie Primo Levi, Jorge Semprún oder Georges-Arthur Goldschmidt hätte man die Beschäftigung mit den Verbrechen der Nazis nie infrage gestellt. ZEIT: Vielleicht liegt es daran, dass man in der Bundesrepublik die rechte Ideologie schärfer gesehen hat als die linke. Müller: Das stimmt, der kommunistische Terror wurde lange nicht wahrgenommen. Die Schikanen, die man als Westdeutscher auf der Transitstrecke oder am Bahnhof Friedrichstraße hätte ertragen müssen, hat man sich lieber erspart und fuhr in die andere Richtung, ins Offene, nach Frankreich oder Italien etwa, wo man was erleben konnte. Was auch hätte man in der DDR erleben können, in diesem so kalten, düsteren, frustrierten Land? Die DDR war ja kein Staat. Die Rumänen waren Rumänen, die Ungarn waren Ungarn, aber die Deutschen im Osten konnten sich von denen im Westen nur durch die Ideologie unterscheiden. Die wurde dann aufgezwungen, und deshalb war die DDR so gnadenlos. ZEIT: Als Sie Rumänien endlich verlassen durften, wurden Sie vom Bundesnachrichtendienst als Mitarbeiterin des rumänischen Geheimdienstes, der Securitate, betrachtet. Müller: Die Securitate war verhasst, und wenn man jemandem schaden wollte, hat man ihn als ihren Mitarbeiter denunziert. Das hat die Securitate mit mir gemacht, weil ich keine Spitzeldienste leisten wollte, und der BND hat es geglaubt. Er muss die Fehlinformation vom Büro der Landsmannschaft bezogen haben, die saßen ja im selben Haus, im Übergangslager Langwasser, meiner ersten Station nach der Ausreise. Ich kriegte, schon bevor ich nach Deutschland kam, Briefe von sogenannten Landsleuten, ich sei unerwünscht. Es gab Kampagnen gegen mich in landsmannschaftlichen Zeitungen, wo ich als Spitzel gebrandmarkt wurde. Man hat sogar behauptet, ich hätte mein erstes Buch, die Niederungen, im Auftrag des Geheimdienstes geschrieben. Und der BND hat mich so empfangen, als wäre ich ein Spitzel. Ich sollte dann sagen, mit welchen Geheimdienstlern ich zu tun gehabt hätte, und ich erklärte: Die hatten mit mir zu tun, nicht ich mit ihnen, das ist ein Unterschied. Da sagte der Beamte: Lassen Sie die Unterscheidung meine Sache sein, dafür werde ich bezahlt. Das hat mir fast das Herz gebrochen. Ich wäre am liebsten sofort weitergereist, aber wohin? Und als ich dann nach Berlin kam, das war nur einige Wochen später, tauchte der Verfassungsschutz auf und erzählte mir, dass ich gefährdet sei durch die Securitate-Leute, dass sie zu meinem Schutz Streife fahren würden. Ich solle mir eine Schreckschusspistole kaufen, keine Geschenke annehmen, nicht in fremde Wohnungen gehen. Der letzte Satz, als ich das Büro des BND endlich verlassen durfte, war: Wenn Sie einen Auftrag haben, können Sie es immer noch sagen. Das alles passte überhaupt nicht zusammen. ZEIT: Nun haben Sie ja keine Sachbücher geschrieben, sondern poetische. Was bedeutet die literarische Anverwandlung für Sie? Müller: Ich habe mir nie vorgenommen zu schreiben. Ich habe damit angefangen, als ich mir nicht anders zu helfen wusste, als die Schikanen gegen mich immer unerträglicher wurden. Mein Vater starb damals, und ich wusste nicht mehr, wo ich stehe und wer ich eigentlich bin. Als ich zum Staatsfeind gemacht worden war, distanzierten sich die Kollegen in der Fabrik von mir, sie mieden mich, und so wurde ich in die Einsamkeit hineingetrieben. Das hat wehgetan, und da habe ich angefangen zu schreiben, über dieses Nitzkydorf, wo ich herkam, über die Bauern, die da schon seit 300 Jahren leben und dort immer geblieben sind. Aus dem Dorf heraus führten nur die großen Katastrophen, die Weltkriege und die Deportationen. Und wer das überlebt hatte, der kehrte, wie von einem Magneten angezogen, wieder in sein Dorf zurück. ZEIT: Und dann haben Sie immer weitergeschrieben. Müller: Ja, doch nach jedem Buch denke ich: Jetzt nicht mehr, jetzt ist es gut. Aber wenn man einmal damit angefangen hat, sein Leben so aufzufädeln, dann kann man offenbar nicht mehr damit aufhören, man wird es nicht mehr los. ZEIT: Ihre Bücher sind sehr verschieden voneinander, haben jeweils einen anderen sprachlichen Duktus, eine andere Melodie. Wie kommt das? Müller: Es ist kein Vorsatz. Wenn ich in dem Thema eines neuen Buches erst einmal drin bin, dann sucht sich das Thema seine Möglichkeiten, den Rhythmus, die Schnitte. Das Thema übernimmt die Regie. ZEIT: Sie müssen dann nur noch die Sprache finden? Müller: Sprache an sich gibt es nicht, oder es gibt sie in der Literatur so, wie es sie im Alltag auch gibt. Das Erlebte ist ja nicht in der Sprache erlebt, sondern an Orten, an Tagen, mit bestimmten Menschen, und das alles muss ich in Sprache auflösen. Das ist künstlich, wie eine Pantomime des Geschehenen. Und ich kann nur versuchen, es so hinzukriegen, dass es in die Nähe des Eigentlichen kommt. ZEIT: An der Atemschaukel fällt auf, dass das Leben Oskar Pastiors nicht chronologisch erzählt wird, seine Deportation aus Rumänien, sein Leben im sowjetischen Lager, seine Heimkehr. Müller: Es ging mir nicht um die Aneinanderreihung dieser fünf Jahre. Ich wollte eine Beschädigung deutlich machen, und ich musste Situationen zeigen, die das Trauma verursacht haben. Dazu musste ich den Alltag im Lager schildern, der sich immer aufs Neue wiederholt hat und dabei von Jahr zu Jahr schlimmer wurde. Oskar wusste nie, ob er jemals aus dem Lager wieder herauskäme. Er hat sich gesagt: Wenn es dabei bleibt, dann ist es halt mein Leben, die Russen leben ja auch. ZEIT: Es gibt einen Hoffnungssatz in diesem Buch, den Satz der Großmutter: Ich weiß, du kommst wieder. Müller: Oskar hat mir gesagt, dieser Satz habe ihn am Leben gehalten. ZEIT: Kann es Versöhnung geben? Müller: Man kann sich doch nicht mit einer Katastrophe versöhnen. Wie soll ich mich mit der Securitate versöhnen? ZEIT: Und mit dem Offizier, der Sie damals gequält hat? Müller: Ich habe ihn zufällig getroffen, als ich nach dem Sturz von Ceau?escu nach Rumänien kam. Ich begegnete ihm auf der Straße und erkannte ihn nicht gleich, es war kalt, und er war in einen Mantel und eine Pelzkappe gehüllt. Ich habe ihn nur erkannt, weil er so erschrocken war, dass er sich in einer Warteschlange zu verstecken suchte. Ich bin zu ihm hingegangen und habe gesagt: Sehen Sie, jetzt müssen Sie vor mir Angst haben, so wie ich damals vor Ihnen, wozu war das gut? In den Wochen kurz nach dem Ende der Diktatur waren die Menschen so aufgebracht, dass er Angst haben musste, gelyncht zu werden. Inzwischen ist er verstorben. Aber er hätte sich nicht mit mir versöhnen können, denn er war ja der Vertreter eines Apparates. Und ich mich nicht mit ihm, denn ich habe viele Freunde, die tot sind. Ich hätte mich auch in deren Namen versöhnen müssen, und das hätte ich nie verantworten können. ZEIT: Also kann man nur versuchen, darauf hinzuwirken, was Sie ja tun, dass dieses Kapitel nicht vergessen wird. Müller: Man kann es selber nicht vergessen, und wenn man darüber schreibt, dann trägt man notgedrungen dazu bei, dass auch andere das zur Kenntnis nehmen. ZEIT: Notgedrungen? Müller: Ich habe ja keine Mission, ich habe nur ein Problem mit mir, mit dem, was mir angetan worden ist, mir und vielen anderen. Wie viel Unglück habe ich gesehen, wie viele Menschen wurden zerbrochen! ZEIT: Sie haben gesagt, der Nobelpreis sei eine Belohnung. Ist er auch eine Wiedergutmachung? Müller: Das kann es nicht geben, aber es ist wichtig, dass man die Diktaturen dieser Welt beobachtet und sie nicht einfach gewähren lässt. Leider gibt es immer noch viel zu viele, das hört ja nicht auf. Denken Sie an China, jetzt Gast auf der Frankfurter Buchmesse. Denken Sie an den Künstler Ai Wei Wei, der von Sicherheitsleuten zusammengeschlagen wurde. Es ist traurig, dass man sich damit arrangiert, es relativiert und versucht, einen Kompromiss zu finden, der China präsentabel macht. Oder denken Sie an Iran, wo die Verbrecher, die selber vor Gericht gestellt werden müssten, andere vors Gericht zerren, ins Gefängnis stecken oder sie sogar umbringen. Wer solche Gesellschaften kennt, der weiß, was das bedeutet, er kriegt wieder dieses Gefühl der Ohnmacht, diesen Zorn. ZEIT: Wird sich Ihr Leben jetzt verändern? Müller: Was soll sich verändern? Ich schaue mir eigentlich nur zu, und ich wundere mich. Ich habe so viel Glück gehabt, das verstehe ich oft nicht. Und es tut mir weh, wenn ich an die Freunde denke, die tot sind. Es gibt die guten und die bösen Zufälle, das Leben ist ein Labyrinth. ZEIT: Haben Sie gute Nerven? Müller: Ich habe schlechte Nerven, aber ich bin abgebrüht. ZEIT: Haben Sie eine Idee, was Sie mit dem vielen Geld – fast eine Million – machen werden? Müller: Nein. Mit Geldhaben habe ich wenig Erfahrung, mit Nichthaben wesentlich mehr.