Der Mann, der nichts spürte Les Murray: "Fredy Neptune"
"Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes", so Johann Heinrich Voß in seiner klassischen Übersetzung der Odyssee, "welcher so weit geirrt nach der heiligen Troja Zerstörung, / Vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat, / Und auf dem Meere so viel' unnennbare Leiden erduldet…" Das sind die ersten Verse von rund 12 000, der erste Gesang von 24. Ein langer Gesang ist auch dieses ungeheure Epos, der Fredy Neptune des australischen Dichters Les Murray, die Geschichte eines Matrosen und seiner Reise durch die halbe Welt. Die ersten der rund 10 000 Verse zeigen uns ein Familienfoto: "Das war am Schlachtwursttag / auf unsrer Farm bei Dungog. / Das sind mein Vater Reinhard Böttcher / und meine Mutter Agnes und mein Bruder Frank, / der später starb an Hirnbrand, Meningitis." So der Übersetzer Thomas Eichhorn.
Hier der Schlachtwursttag, dort die Schlacht um Troja; hier der große Odysseus, der mehr als einmal Schiffbruch erlitt, dort der kleine Fred, der Seemann, der viele Meere befuhr, der Muskelmann, der viele Kriege überlebte. Die Geschichte des Odysseus, aufgeschrieben von Homer, erzählt uns die Muse. Die Geschichte des Fredy Neptune, aufgeschrieben von Les Murray, erzählt uns Fred. Nehmen wir an, Odysseus, der vermutlich kein Abitur hatte und nicht mal Homer kannte, müsste seine Geschichte selber erzählen, sie klänge ganz ähnlich wie die, die jetzt vor uns liegt, eine australische Odyssee, die Geschichte des 20. Jahrhunderts, wahrgenommen, erlitten von einem Farmerssohn aus Dungog am Arsch der Welt.
Odysseus kehrt nach wunderbaren und schrecklichen Abenteuern in seine Heimat Ithaka zurück und trifft auf einen Saustall. Fredys Abenteuer sind ebenfalls wunderbar und schrecklich, und als er endlich in Dungog anlangt, ist der Saustall (nämlich die Schweinezucht) in fremdem Besitz, der Vater tot, die Mutter verschollen, man jagt ihn davon. Er ist deutscher Abstammung, und die Deutschen in Australien sind, nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, gefürchtet und verhasst wie selbst Odysseus nicht.
Das Zeitalter der Literatur, wie wir sie kennen, begann mit der Erfindung des Buchdrucks. Seitdem ist alles Geschriebene durch die Möglichkeit gesegnet (oder verflucht), dass Tausende oder Millionen es lesen können. Davor hat es aber auch Literatur gegeben, und zuweilen war sie großartiger als vieles Spätere. Diese Literatur musste sich, um wirken zu können, auf die Kraft der mündlichen Überlieferung verlassen. Sie benötigte die einprägsame Form (den Rhythmus, den Reim) und den starken Stoff, der sich im Weitergeben nicht verbrauchte, sondern auflud.
Auch wenn Les Murray in seinem Nachwort die Analogie zur Odyssee abwehrt, so dürfen wir sie dennoch ziehen: Wann zuletzt hätte es ein derart gewaltiges Versepos gegeben, das sich anschickt, eine ganze Epoche, ja die ganze Welt im Schicksal eines einzigen Mannes zu bündeln? Fredy Neptune lebt in der vergangenen, aber nicht verlorenen Tradition mündlicher Literatur. Große Versepen hat es immer wieder gegeben, vor allem in Nordamerika - denken wir nur an Walt Whitman, Herman Melville und Robinson Jeffers.
Wer ist dieser seltsame Dichter, der seinen mächtigen Bauch über der verbeulten Hose trägt und aussieht wie einer dieser Tanklastwagenfahrer, die in der Foster's-Reklame auf der Holzveranda sitzen, bemehlt vom roten Staub der Wüste? Geboren 1938 als Sohn eines Milchfarmers in Nabiac im Bunyah, New South Wales, studierte er in Sydney moderne Sprachen, darunter Deutsch, arbeitete als Übersetzer an der Universität Canberra und gab die Zeitschrift Poetry Australia heraus. 1986 kehrte er auf die heimatliche Farm zurück, verheiratet und Vater von fünf Kindern. Von seinen mehr als 30 Büchern ist der Gedichtband Ein ganz gewöhnlicher Regenbogen 1996 auf Deutsch erschienen (Hanser). Schon hier hatte man es nicht mit gewöhnlicher Lyrik zu tun, sondern mit weit ausholenden Gesängen, die uns hineinführten in die unendliche Weite des australischen Landes und seiner Naturschönheit, in die unbegreifliche Welt menschlicher Verwirrungen und Sehnsüchte.
Hier, im Fredy Neptune, hat Les Murray seine Kunst des erzählenden Langgedichts zu atemberaubender Höhe geführt. Niemals hätte er diese Geschichte in simpler Prosa erzählen können. Die gebundene Rede (wie das Lehrbuch die Versformen zusammenfassend bezeichnet) zwingt einerseits zu sprachlicher Verknappung, andererseits erlaubt sie im Wechsel pathetischen und komischen Sprechens einen größeren melodischen Reichtum. Das reicht vom derben Blues bis zum erhabenen Hymnus.
Aber hören wir den Klang von Murrays Gesang. Durch etliche Zufälle (wir sind am Beginn des Ersten Weltkriegs) verschlägt es den australischen Matrosen Fred auf ein deutsches Kriegsschiff. "Wir hingen auf dem Schwarzen Meer herum und zogen unsre Flagge / auf vor der Stadt und spielten Skat und aßen Gulasch." In der türkischen Hafenstadt Trabzon (dem ehemaligen Trapezunt) haben sie Landgang und sehen Frauen ohne Schleier auf der Straße:
Entsetzt und weinend drängten sie sich aneinander, sich immerfort
bekreuzigend, umringt von Männern, die wie Wilde brüllten.
Und ihre weiten losen Kleider trieften. Man roch es: Kerosin. Die Männer
stelzten um sie herum, begrapschten sie, stießen sie an: Kommt, tanzt! -
dann - poff! paff! - brannten sie, die Frauen, dunkle Dochte von riesigen
orangeroten Flammen, und heulten. Hätten wir Gewehre mitgehabt,
wir hätten diese Kerle kaltgemacht. Wir hatten Fäuste nur und Stiefel.
Die eine Frau hing sich an einen Mann: auch er fing Feuer und schrie los.
Vom Schiff kam 'ne Patrouille, sonst hätten die uns umgebracht.
Der historische Hintergrund: 1915 wurden armenische Frauen in der Türkei bei lebendigem Leib verbrannt. Das Gedicht des Armeniers Atom Yarjanian, von Les Murray als Motto vorangestellt, berichtet von einem Augenzeugen der Untat, und es heißt: "Diese meine Augen - wie soll ich sie aus ihren Höhlen reißen, wie nur, wie?" Irgendwann später erzählt Fred von einem Mann, der immerzu an die Gräuel des Krieges denken muss und sich schließlich umbringt: "Er dachte immer, man ist schuld an dem, was man gesehen hat."
Ein archaischer und ein sehr humaner Gedanke. Er ist das Leitmotiv dieser Geschichte. Dass ich ein Verbrechen sehe, stellt zwischen ihm und mir eine Verbindung her. Ich kann nicht mehr so tun, als wäre es nicht gesehen, nicht geschehen, und nun habe ich, auch ohne direkte Schuld, Anteil daran. Was geschieht mit uns, die wir an manchem Abend via Bildschirm Zeugen der ungeheuerlichsten Vorgänge werden? Wohin stecken wir diesen Anteil? Das probate Mittel ist die Abstumpfung. Wir tun so, als hätten wir nichts gesehen, und in gewisser Weise haben wir das auch nicht. Es war nur im Fernsehen.
Aber Fred hat die Verbrennung der Frauen wirklich gesehen. Auch er stumpft ab, aber auf grauenerregende Weise. Er verliert die körperliche Empfindung. Zunächst bekommt er Lepra und irrt als Aussätziger auf türkischen Straßen umher. Kameraden lesen ihn auf, er kommt mit einem Verwundetentransport nach Berlin, dann in ein Leprakrankenhaus an der Weser. Er reißt aus und heuert auf einem Schiff nach Rio an. Unterwegs löst sich der Schorf, "brannte, klebte fest an meinen Kleidern, mir fiel die Rinde ab wie Eukalyptus". Und als sie ab ist, spürt er, dass er nichts mehr spürt: "Kein Schmerz und keine Lust. Nur wie ein Schemen von dem Sinn, / der meldet, wo ein Teil von einem ist, und das Bedürfnis drinnen anzeigt…"
Und hier beginnt das Drama des Fredy Neptune (wie man ihn erst später in jenem Zirkus nennt, wo er als Muskelmann Eisenstangen biegt), die Geschichte eines absurden Jesus aus Dungog, der die Sünden dieser Welt sieht und auf sich nimmt. Er büßt sie mit dem Verlust seiner Empfindung, nicht der seelischen, wohl aber der körperlichen. Wo immer er kann, geht er dazwischen. Er ist stark wie kein anderer. Aber seine Stärke rührt daher, dass er jenen Schmerz, den die äußerste Anspannung der Kräfte erzeugt, überhaupt nicht empfindet. Erst wenn die Knochen krachen und die Ohnmacht naht, hört er auf. Er kann Autos hochheben und Eisentore aus den Angeln heben.
Auf der Fahrt nach Rio fängt die Kombüse Feuer, er holt den Smutje raus und steht selber in Flammen. Man löscht ihn, aber die Mannschaft hält ihn für des Teufels. Da lernt er, sein Stigma zu verbergen und rechtzeitig zu schreien, wenn ihm etwas auf die Füße fällt. So wird er zum Helden, zu einem tragikomischen allerdings, zu einem Slapstick-Helden, der wie Chaplin, um den Unfall anderer zu verhindern, den eigenen herbeilockt. Und nicht selten vereitelt er Untaten um den Preis von neuen. Im Nazi-Berlin - aber wir greifen weit voraus - wird er Zeuge, wie die SA den Bart eines alten Mannes in Milch tunkt und ihn zwingt (während die Passanten die Straßenseite wechseln), damit den Bürgersteig zu schrubben. "Ich verdrosch sie, eins, zwei, drei, / da zog der vierte 'ne Pistole – und heulte auf, / als ich ihm die Hand zerquetschte ..." Und dann: "Sie krochen übers Pflaster, / und der arme Jude sagte: Junger Mann, Sie haben / mich umgebracht."
Allmählich lernt Fred, mit seiner Stärke umzugehen, aber bitterlich erfährt er sie als Schwäche. Denn auch er, gerade er, hat Gefühle, aber keine Möglichkeit, sie zu spüren und auszudrücken. Das macht ihn unfähig zur Liebe. Und vielleicht gleicht er darin nicht wenigen Männern, den damaligen wie den heutigen. Seine Liebe zu Laura leidet unter diesem Makel. "Ich konnt' nicht lieben", sagt er auf dem Tiefpunkt seines Unvermögens. Als Laura merkt, wie es um ihn steht, trennt sie sich von ihm. Es bringt ihn fast um. Aber hören wir ihn selber:
Das Weinen hatte noch Geschmack und ließ den Atem stoßweis gehn
und überschwemmte meinen Blick. Nichts, was ich seit Trabzon
zum ersten Mal tat, fühlte sich an wie irgendwas. War kein Gefühl,
kein Eigenes darin. Das von zuvor, das ging nach dem Gedächtnis:
Müdsein macht einen schwer und langsam. Aber Brennen riecht nur
und erschreckt die andern, wenn man zu meinem Stamm gehört, und was
ihr Liebe nennt, das schmeckt nach Salz und nach getragner Wäsche -
mit Zärtlichkeit davor und auch danach, wenn's wirklich Liebe ist.
Und auch mit Babys, Liebe oder nicht. Wär'n sie wohl taub wie ich?
War ich der Anfang einer neuen Rasse, von der's noch keine Frauen gab?
So wie der erste Mensch, der nur mit Affen schlafen konnte,
wenn die Religion im Unrecht war. Der muss sich
komisch vorgekommen sein, ganz warm und dusselig mit seinen Nächsten,
doch aufrecht im Geheimnis, nicht zufrieden mit Geschnatter, und zu nackt.
Schon wahr, ich hatte ordentliches Mitleid mit mir selber,
aber ich war ja auch der einzige, der wusste, dass ich Mitleid brauchte.
Die großartige Leistung des Übersetzers Thomas Eichhorn können wir leicht überprüfen, denn die Ausgabe ist zweisprachig, was man nicht genug rühmen kann. Und man sieht, wie virtuos Les Murray Maß und Rhythmus setzt. Die Strophen haben je acht Langzeilen, und zuweilen marschieren sie im klassischen Versmaß, um dann wieder unbeholfen zu stocken oder kurz und hart zu werden, wenn der Augenblick es verlangt. Manchmal springt der Vers über die Strophen hinweg, manchmal wirkt die Sprache wie kunstlose Prosa, dann wieder schwingt sie sich ein in den Flügelschlag der Hebungen und Senkungen, gewinnt Höhe und Strahlkraft. Es erzählt ja der ganz und gar ungebildete Fred, sein Englisch hat er nicht in Oxford gelernt, sondern in Dungog unter deutschen Einwanderern. Es ist ein grobes, verkürztes Englisch, praktisch und robust und leicht ausgefranst wie das Hemd eines Landarbeiters. All das ist im Deutschen fast perfekt wiedergegeben, und da, wo es hapert, lehrt ein Blick auf die linke Originalton-Seite, warum es nicht besser ging. Schade nur, dass Eichhorns Anmerkungen so mager sind. Gern wüsste man mehr über die sprachlichen und die zeithistorischen Bezüge.
Natürlich ist das australische Arbeiter-Englisch ein Kunstgriff. Wirksam wird er dadurch, dass diese Sprache in ganz andere Klänge eingebettet wird, denn Fred, ein wissbegieriger Bursche mit exzellentem Gedächtnis, schnappt gerne Redeweisen auf und übt sich im fremden Ton. Er kommt ja auch weit genug herum. New York, Messina, Konstantinopel, Berlin, Rotterdam, Buenos Aires, Malta, Alexandria, Kairo, Jerusalem, Izmir - das sind lediglich einige Stationen des ersten Kapitels. Er arbeitet als Lastenträger, Fischer, Schausteller, Leibwächter, Schwarzmarkthändler; er spielt den Kriegsreporter, wird Statist in Hollywood und lernt Marlene Dietrich kennen, wird Steward an Bord des Zeppelins und gerät unter die Nazis, erlebt und überlebt den Zweiten Weltkrieg, heiratet doch noch seine Laura, die einen Sohn von ihm hat. Dieser Sohn, Soldat im Krieg, kehrt heim als ein wildes, krankes Tier. Was er gesehen und erlebt hat, kann er, auf andere Weise als der empfindungslose Vater, nicht ertragen.
Am Schluss erreicht Fred die späte Nachricht vom Tod seines besten Freundes. Sam, ein Jude, kam auf der Flucht ums Leben. Das erschüttert ihn bis ins Innerste. "Mein Selbst sprach zu mir, das Selbst, / das zwischen uns und Gott das letzte ist, wenn alle andern gehn." Dieses "Selbst", ein heller Geist des Erkennens, kommt über ihn und zwingt ihn zur Vergebung. Er soll wirklich allen vergeben, auch den Opfern, den brennenden Frauen, den Juden, Gott selber soll er vergeben. Das ist absurd, aber weil es absurd ist, glaubt er es. Er betet und vergibt. Da geschieht das Wunder, seine Empfindung kehrt wieder. Am nächsten Morgen spürt er die Kälte des Weckers, die wärmende Last der Bettdecke, er spürt seine Haut:
…behaart und porig. Alte Erinnerung stürmte zurück, die Nullzeit
ungeschehn zu machen, so schnell, dass mir nur jener eine Tag
zur Neuentdeckung blieb. Wie Wasser trocknet, und wie Milch,
wie Kälte an den Knien und Schultern anfängt, wo das Fleisch so dünn ist,
wie ein gestoßner Zeh den Schmerz sekundenlang zurückhält und dann ziept -
aber sie schloss sich drüber, meine ganze einsam heimliche Geschichte.
So versöhnlich-versöhnt und tatsächlich human endet der Ritt durch dieses inhumane 20. Jahrhundert, ein Ritt hinweg über die Kontinente und Ideologien, hinein in die Finsternisse der Menschen, hinein in ihre Gemeinheit, ihre Verführbarkeit und - trotz allem - ihre Größe. Verschweigen wir nicht, dass dieser Ritt bisweilen ein Gewaltritt ist, mit Irrwegen und Durststrecken, aber wie kann es anders sein. Wann je hätte man eine solche Reise erfahren? Wir haben die Epoche noch einmal gesehen, mit den kindlich großen, vor Entsetzen und Staunen geweiteten Augen des armen Mannes aus Dungog. Wir werden ihn nicht vergessen. Bereichert und erschöpft legen wir dieses grandiose Epos aus der Hand. Es ist das erstaunlichste Buch des Frühjahrs und seit langer Zeit.
Les Murray: Fredy Neptune. Aus dem Englischen von Thomas Eichhorn; Ammann Verlag, Zürich 2004