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Ulrich Greiner

Tote Seelen schlafen nicht
Landschaften der Geschichte und der Philosophie, der Liebe und der Abschiede: Der große Roman "Allerseelen" von Cees Nooteboom

Ja, es stimmt: Es muß sich Zeit nehmen, wer diesen Roman genießen möchte, und wer ihn schnell liest, verliert seine Zeit. Das schrieb die holländische Zeitung De Morgen über Cees Nootebooms Allerseelen. Und es stimmt zugleich nicht. Genießen kann dieses Buch nur, wer Trauer als einen Genuß betrachtet. Zeit verlieren, Zeit gewinnen. Die Alltagsrede wirkt auf einmal flach, wenn man die vertrackten Botschaften und die verhangenen Landschaften Nootebooms durchwandert. Es sind die europäischen Landschaften des Zweifels und der Erleuchtung, des Haders und der Weisheit, Landschaften der Geschichte, der Philosophie, der Abschiede und der Liebe. Am Ende verspürt man eine starke Trauer, und die ist vielleicht kein Genuß, aber ein Gewinn. Für einen Augenblick ist man imstande, der vergehenden Zeit ins Angesicht zu sehen, ohne den Fluch der Vergänglichkeit zu empfinden.

Allerseelen ist ein Berlin-Roman, ein historischer Roman und ein Unterhaltungsroman. Letzteres insofern, als sich die Menschen dieser Geschichte sehr oft miteinander unterhalten. Sie tun es in Berliner Kneipen und Wohnungen, der Kameramann Arthur Daane und seine Freunde: der holländische Bildhauer Victor, der deutsche Privatgelehrte Arno, die russische Wissenschaftlerin Zenobia und, vor allem durchs Telefon und im inneren Zwiegespräch, die Amsterdamer Freundin Erna. Sie reden über Gott und die Welt, über Nietzsche und Saumagen, Blutwurst und Hegel, sie trinken und faseln, werden sentimental und frivol, und am Ende schwankt Daane einsam durch die Berliner Nacht.

Ein Berlin-Roman ist Allerseelen nicht allein, weil Berlin der Hauptschauplatz ist. Der Dokumentarfilmer Daane hat die Welt gesehen, ihre friedlose, bedrückende Seite, die Kriege, die Slums, die verbrannte Erde. In Berlin bleibt er, weil es keinen anderen Ort gibt, der die Katastrophen dieses Jahrhunderts derart gnadenlos sichtbar macht, daß nur die Verdrängung es erlaubt, dort zu existieren. Jede Straßenecke, jeder Keller, jede Baulücke erzählt dem, der es hören kann, die unerhörte Geschichte. Arthur Daane, weil er ein Fremder ist (und fremd wird er bleiben, fremd von Anfang an), erkundet mit dem erstaunten Blick des Ethnologen ein Gelände, das wir, die Deutschen, zu kennen glauben, aber, flanieren und denken wir zusammen mit ihm, in Wahrheit nicht kennen - dank jener alltäglichen Amnesie, für die Daane großes Verständnis, ja Sympathie zeigt. Denn wie soll man leben, wenn der Hekatombendruck der Toten jeden Atemzug zu ersticken droht.

"Kaiserreich, Revolution, Versailles, Weimar, Wirtschaftskrise, Hitler, Krieg, Besetzung, Ulbricht, Honecker, Wiedervereinigung, Demokratie. Doch eine eigenartige Wegstrecke, würde man sagen. Und noch immer in derselben Stadt, mitgemacht oder nie mitgemacht, auf der richtigen Seite, auf der falschen Seite, zwei, drei, vier Vergangenheiten, die in sich zusammengebrochen sind, ein ganzes Geschichtsbuch hat sich in diese Gesichter gekerbt, Kriegsgefangenschaft in Rußland, im Widerstand gewesen oder mitgelaufen, Scham und Schande, und dann wieder alles weg, verschwunden, Fotos in einem Museum, Fähnchen schwenkend, Erinnerungen, Puder, nichts mehr, nur noch die anderen, die nichts davon begreifen." So spricht Arthurs Freund Victor, und ein andermal sagt er: "Wir sind die größten Helden der Geschichte, wir müßten bei unserem Tod alle dekoriert werden. Keine Generation hat je so viel wissen, sehen, hören müssen, Leid ohne Katharsis, Scheiße, die man in den neuen Tag hineinschleppt."

Allerseelen ist ein historischer Roman, denn das Vergehen von Zeit und also das Vergessen gebiert Geschichte. Sie beginnt, wenn Erinnerung versagt und zugleich not tut. Aber wann genau? Schon Begriffe wie Berliner Mauer, Vopo und Stasi sind erklärungsbedürftig. "So etwas konnte man schon jetzt nicht mehr erklären. Wer es nicht miterlebt hatte, konnte es nie mehr nachempfinden, und wer es mitgemacht hatte, wollte nichts mehr davon wissen." Als Daane mit seiner neuen Freundin (aber Freundin wäre nicht das richtige Wort, sie heißt Elik und ist für ihn eher eine Feindin, weil Leidenschaft auch feindlich sein kann) an der Grenze des früheren West-Berlin die Spuren von Stacheldraht und Wachturm sucht, geraten die beiden in einen Disput. Er, der Ältere, findet das schon halb vergessene Drama der Teilung tragisch und bedeutend; sie, die Jüngere, nur noch komisch und belanglos. Elik promoviert über eine spanische Königin des 12. Jahrhunderts. Denn die Geschichtsschreibung, so denkt sie, hat die Aufgabe, das, woran keine Erinnerung mehr reicht, zurückzuholen und dem Vergessen zu entreißen - während Arthur, der Frau und Kind durch ein Unglück verlor, Gegenwart als schiere Flüchtigkeit erfährt, die im Handumdrehen zum unwiederholbar Vergangenen wird.

Mit seiner Kamera streift Arthur Daane durch Berlin, und überall sieht und dokumentiert er das Verschwinden der Gegenwart, in den Spuren der Fußgänger im Schnee, in den Schuhen der Passanten auf der U-Bahn-Treppe, am Bauzaun des Potsdamer Platzes in der Dämmerung. Die Grauzone, das Erlöschen des Lichts, das Schwinden des Jetzt: es treibt ihn um. "Die Stadt als Ansammlung von Stimmen. Weg waren sie, die Worte, ihren Toten vorausgeeilt, und doch hatte man die Vorstellung, daß sie noch da waren, daß die Luft mit ihnen gesättigt war, daß man durch diese unsichtbaren, unhörbar gewordenen Worte watete, einfach, weil sie hier einmal ausgesprochen worden waren, das geflüsterte Gerücht, das Urteil, das Kommando, die letzten Worte, der Abschied, das Verhör, die Meldung vom Hauptquartier." Daane ist ein Historiker der späten Zeit.

Und dann geschieht es doch. Das Jetzt bricht herein. Diese Geschichte, von der man eine gute Weile denken mochte, sie erschöpfe sich im Flanieren und Spekulieren eines red- und denkseligen Autors, gewinnt Dramatik durch die Begegnung von Elik und Arthur. Eine düstere, eine lodernde Liebe erfaßt das scheinbar entspannt-melancholische Daseins Daanes. Denn natürlich, wie jeder gute Roman, ist Allerseelen auch ein Liebesroman. Die alte Regel besagt, daß sich das Können eines Autors im Gelingen der ersten Nacht zeige. Wenn sie gilt, so ist Nooteboom ein Meister. Vom ersten Augenblick an (beide greifen fast gleichzeitig zu El País am Zeitungsständer im Café) bis zur ersten Berührung und zur verwunderten, verwundeten, ohnmächtigen Preisgabe erscheint diese Liebe als ein Fatum. Widerstand ist sinnlos. Elik, die keinen Mann mehr will, weil Männer (der Vater) ihr nur gewalttätig begegnet sind, und Arthur, den die Erinnerung an seine Toten heimsucht - sie sind füreinander bestimmt. Sie fliehen voreinander. Und dann verfolgt er sie, bis nach Amsterdam, bis nach Madrid und Santiago.

"Später wußte er noch, daß sein Gefühl dabei eines der Bestürzung und der Ungläubigkeit gewesen war, als könne es nicht sein, daß diese Frau ihn streichelte und küßte, als sei es nicht wahr, daß sie sich jetzt über ihn schob und ihn damit in Besitz nahm, ohnmächtig machte, nichts von diesen Handlungen schien mehr mit ihm zu tun zu haben, vielleicht hatte dieses Gesicht mit den geschlossenen Augen, vielleicht hatte dieser Körper, der sich in Ekstase immer weiter zurücklehnte, ihn ja vergessen, auf ihm ritt eine Frau, die etwas zu murmeln, zu raunen schien, eine Stimme, die schreien würde und dann auch schrie, und im selben Moment, als sei es ein Befehl gewesen, kam er mit einem Schmerz, der, als müsse das so sein, sofort erstickt wurde, weil sie mit ihrem Kopf neben dem seinen auf das Kopfkissen schlug, noch immer murmelnd oder fluchend, flüsternd."

Das Ende ist offen. Am Ende ist klar, daß keiner seiner Geschichte entgeht, seiner eigenen nicht, der des anderen nicht, auch der seines Landes nicht. Die Geschichte holt jeden und alles ein. Nooteboom zeigt, was es heißt und welche Mühe es kostet, Herr dieser Geschichte zu werden. Fertig wird man nie. Und zugleich erzählt er auf intime Weise von einer höchst intimen, also einzigartigen, also völlig zufälligen Begegnung zweier Planeten, die aufeinander zu rasen. Die Leuchtspur, die sie hinterlassen, gehört ebenso zur Menschheitsgeschichte wie die der ungezählten Toten.

Am filigranen, straff gespannten Bogen dieser schwierigen Liebe hängt der Roman wie die Brücke überm Abgrund. Die Konstruktion ist riskant, denn Nooteboom liebt die Langsamkeit und das Verweilen, das Nachdenken und das haltlose Spekulieren mehr als die dramatische Bewegung. Er ist ein Flaneur der alten Schule, der es keinem noch so schwierigen Thema gestattet, sich seiner Reflexion zu entziehen. Darin äußert sich der altmodische, vielleicht holländische Hochmut des selbstverständlich gebildeten Citoyens, der Anteil nimmt und hat. So hört man beim Lesen dieser eigenartigen und bewegenden Geschichte beides: den kolloquialen Brummton des intellektuellen Stammtischs - und zugleich den fremdartigen, helldunklen Klang des melancholischen Einzelgängers. So wandern wir mit Daane durch novemberliches Schneetreiben, sturmzersauste Nächte, in klamme Hinterhöfe, apokalyptische Diskotheken, vorbei an Schaufenstern und Schnapsleichen, vorbei an Caspar David Friedrich und alten Widerstandskämpferinnen im Wartehäuschen. Und zwischendrin meldet sich ein seltsamer Geist zu Wort, ein Engel über Berlin, ein allwissender, aber machtloser Weltgeist, der im Pluralis majestatis die seltsamen Wege der Menschen kommentiert: "Eines der Dinge, die wir nicht verstehen können, ist, wie schlecht ihr in euer eigenes Dasein paßt."

In Arthur Daane hat Nooteboom sein Gegenbild und Ebenbild entworfen. Daane ist vergleichsweise groß und jung, was beides Nooteboom nicht ist. Wir wollen es ihm nicht verargen, daß er sich zwanzig Jahre jünger und etwas größer macht, aber manchmal, an den besonders langsamen Stellen, haben wir das Gefühl, daß Daane ein bißchen weiser ist, als ihm zusteht. Das macht aber nichts, denn nun, nach langer Pause - und wir erinnern uns an Nootebooms wunderbare Romane Rituale (1985) und Die folgende Geschichte (1991) - hat er wieder einen großen und ausgeruhten, einen europäischen und kosmopolitischen Roman geschrieben, den Helga van Beuningen (wenn sie nur das Wort "beinhalten", Bein-Halten, lassen könnte!) kongenial übersetzt hat.

Cees Nooteboom: Allerseelen. Roman; aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen; Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999

Erschienen in der ZEIT vom 25.2.1999


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