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Ulrich Greiner

Das Leben der Toten
Nootebooms Erzählungen "Nachts kommen die Füchse"

Wo eigentlich sind die Toten? All die Menschen, die wir gekannt, vielleicht geachtet, gar geliebt haben, wo sind sie hin? Kindern sagt man zuweilen, sie seien im Himmel. Keine schlechte Antwort. Der Himmel ist ein weites Feld und lässt vielen Vorstellungen Raum. Wo immer die Toten sein mögen, gänzlich verschwunden sind sie nicht. Sie leben fort in ihren Nachkommen, Taten, Gedanken und Zeugnisssen. Gestorben sind sie immer, tot sind sie selten. Willkommen sind sie uns meist nicht, uns Lebenden, die wir mit Dringlichem beschäftigt sind. Wir wollen damit möglichst wenig zu tun haben. Aber wir kennen den unerwünschten Augenblick der Verlangsamung und des Innehaltens. Ein plötzlicher Windhauch fasst uns von hinten an, ein Bild taucht in der Erinnerung auf. Was war das, wer war das?

Mit diesem Augenblick beginnt der neue Erzählungsband Nachts kommen die Füchse des großen Cees Nooteboom. Ein Mann, a rather elderly man, wie Melville seinen Bartleby beginnt, stößt auf ein altes Foto und kann sich nicht wehren gegen den Ansturm der Erinnerungen. Da steht er nun an der Riva degli Schiavoni, am berühmten Kai des Markusplatzes, und sucht jene Stufe, auf der er vor vierzig Jahren gesessen hat, neben ihm diese junge Amerikanerin mit den schieferfarbenen Augen und den roten Haaren. An irgendeiner griechischen Küste hatte er sie kennengelernt. „Lächerlich musste das gewesen sein, wie er plötzlich von der Kaimauer aufgestanden war und diese Handbewegung gemacht hatte wie ein Polizist, der den Verkehr stoppen will. Und genau das hatte er auch gesagt, STOP! Sie war so erstaunt gewesen, dass sie sofort stehenblieb.“

Nur allmählich kommen sie sich nah, schlafen miteinander. Etwas Starkes, aber auch Rätselhaftes verbindet die beiden, das 17jährige Mädchen und den Mann um die Dreißig. Sie fahren zusammen nach Venedig, dort macht ein Passant dieses Foto, dann bringt der Mann sie zum Zug. Etwa zwanzig Jahre später erhält er einen Brief aus Kalifornien. Sie hat einen Aufsatz von ihm gelesen (er ist Kunstkritiker) über eine Malerin, die ihr sehr nahe ist. Er entschließt sich, sie zu besuchen. Am Flughafen in San Francisco holt sie ihn ab. „Falten um die Augen, das Haar noch immer mit dieser roten Glut, nun aber von einem Schleier überzogen, die Schrift der Zeit, und dadurch eine plötzliche Kollegialität, vielleicht sogar Gerührtheit. Mehr Liebe als damals, das wusste er sofort, und zwar eine, mit der nichts anfangen würde, das wusste er genauso schnell. Die Verletzbarkeit war größer geworden.“ Bei einem Spaziergang am Strand des Pazifik erzählt sie von ihrem Leben. Sie hat Schicksalsschläge ertragen müssen, leidet an einer tödlichen Krankheit. Danach korrespondieren sie wieder, und eines Tages kommt ihr letzter Brief, zusammen mit all den anderen, die er ihr geschrieben hat.

Jetzt hält er dieses alte Foto in der Hand und sucht die Stelle, wo sie gesessen hatten. „Etwas war passiert, Distanz war dazwischengekommen und Zeit, Verschleiß, Vergessen. Ab und an ein Gedanke, eine vage Erinnerung, das war normal, so lief das, außer, man hatte keinen Frieden damit. Etwas stand noch aus, eine Verifikation, eine Form von Abschied. Dinge mussten zu Ende geführt werden, nicht nur für einen selbst, sondern auch für den anderen.“ Aber „der andere“, hier die Frau, ist doch tot, oder? Nein, in gewisser Weise nicht, denn in diesem Augenblick wird die Vergangenheit zur Gegenwart. Die Erinnerung spricht.

Und einmal, in der schönsten und längsten Erzählung, spricht die Tote selber. Wieder ein alter Mann, diesmal in einer kleinen Wohnung irgendwo in den Niederlanden. Die Wohnung ist fast leer, denn radikal hat sich der Mann von allem getrennt, was sein früheres Leben war, nur eine Seemannskiste mit Tagebüchern ist noch da, und als er den Kram sortiert, fällt ihm das Titelblatt einer alten Ausgabe der Vogue in die Hand, es zeigt Paula. Jetzt erinnert er sich der frühen Jahre, jenes lockeren Freundeskreises, der sich immer zum Pokerspiel traf und wo sie eines Tages auftauchte, diese verwegene Spielerin und knabenhafte Schönheit, in die sich alle Männer verliebten, auch er. Sie hatten eine kurze Affäre, die ihn tief berührte und sie offenbar kalt ließ. Einmal waren sie nach Nordafrika zu den Beduinen gefahren, und sie hatte nachts im Zelt mitbekommen, dass er unter Angst vor Dunkelheit litt. Die Drohung der Großmutter ging ihm nicht aus dem Sinn: „Nachts kommen die Füchse.“

Irgendwann verschwand Paula ebenso plötzlich, wie sie gekommen war, und wenig später hörte er, sie sei bei einem Hotelbrand umgekommen. Jetzt, Jahrzehnte später, sitzt er auf dem einzigen Stuhl, den er noch hat, und betrachtet das ans Fenster gelehnte Foto, während draußen der Regen gegen die Scheibe schlägt. Und er denkt so intensiv an Paula, dass die Tote zu ihm spricht. Wir können hören, was sie sagt: „Ich bin meine Erinnerungen, aber ich weiß nicht, wie lange ich sie noch festhalten kann. Ich bin zwar gestorben, aber ich bin nicht tot. Für mein Gefühl muss ich vorher noch etwas zu Ende bringen.“ Und dazu gehört, dass sie bekennt, wie sehr sie ihn geliebt hat, so sehr, dass sie sich von ihm trennen musste. Sie hätte sich, sagte sie, seiner Abwesenheit ausliefern müssen. „Das, weswegen du allein in deinem Zimmer sitzt, hat es schon immer gegeben. Ich habe es sofort erkannt. Du bist nicht wesenhaft da für andere Menschen.“ Und am Ende heißt es: „Du hast dein Fenster geöffnet. Windstoß. Das war ich. Rascheln, Flüstern. Das Geräusch von Füchsen, eine Nacht in der Wüste. Gedachte Füchse, keine echten. Alles sehr flüchtig. Wie wir. Weg.“

Ein Totenbuch also, aber kein traurig-tristes, sondern eins voller Gelassenheit und Weisheit. Und voller Bilder, die man nicht vergisst. Das Helle und das Dunkle, der Wind und das Wasser sind wiederkehrende Motive, auch die Melancholiker, die Alten und der Alkohol, der vor zuviel Erinnerung schützt. Viele dieser Erzählungen spielen irgendwo im Mittelmeerischen, auf einer Insel, an einer Küste, wo die Brandung gegen die Felsen schlägt, wo im Herbst die Stürme kommen, die den Gang zur Kneipe mühsam machen. Mühsam etwa für die kleine alte Dame, die jeden Tag ihren Gin Tonic nimmt (öfter auch zwei), ihre Dunhills raucht und zu dem ebenfalls nicht mehr jungen Kellner eine sehr komische und sehr bizarre Liaison unterhält. Aber auch hier sind die Toten noch da, die englische Lady zumindest, deren Gehilfin die Dame einst war und deren Kleider sie nun aufträgt. Und ziemlich böse ist die Geschichte dieses Ehepaars, das vor dem Gewitter Zuflucht in einem Strandlokal findet und sich in einen schlimmen Streit verstrickt. Die junge Frau versucht, die Blitze zu fotografieren, der Mann schlägt ihr die Kamera aus der Hand und rennt, als sie ihn beschimpft, wütend hinaus ans Ufer, wo der Blitz ihn erschlägt. Beobachtet wird dies von einem anderen Paar. Er ist Künstler, bekannt für seine Holzplastiken. Und wir sehen, wie der Künstler, vordem depressiv gestimmt, durch diesen Unglücksfall zu neuem Leben erwacht: Er hat einen Gedanken, ein Motiv für sein nächstes Projekt gewonnen.
  
Cees Nooteboom ist ein Meister der sparsam illustrierten und suggestiven Szene. In diesem Buch aber ist er vor allem ein stoizistischer Denker, der die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Leben und Tod erzählend erforscht. „Er verspürte ein merkwürdiges Entzücken, weil die Dinge so waren, wie sie waren“, heißt es einmal. Und plötzlich fällt uns auf, dass dies eigentlich schon immer sein Thema gewesen ist. Nicht allein in dem Bildband Tumbas, worin er zusammen mit seiner Frau, der Fotografin Simone Sassen, die Gräber von Schriftstellern auf dem ganzen Erdball besucht und beschreibt, nicht nur in seinem Berlin-Roman Allersseelen, wo die Toten der Kriege in die Gegenwart der Erzählung zurückkehren, sondern auch in seinem früheren Roman Die folgende Geschichte, deren zweiter Teil in einem Totenreich spielt. Es sind eigentlich antike Vorstellungen, die ihn dabei begleiten, und er führt sie mitten hinein in unsere gegenwartssüchtige Gegenwart. 

Dieses Buch gewinnt dem dunklen Thema des Todes eine fast heitere, jedenfalls friedvolle Seite ab. Es erzählt davon, dass der Augenblick der Erfahrung dem wirklichen Begreifen nicht günstig ist. Oft verstehen wir erst viel später, was wir erlebt haben, und der Einwand, etwas sei vorbei und folglich sei es zu spät, sich damit zu befassen, etwa, weil die Menschen, die uns begegnet sind, nicht mehr leben, oder weil wir uns verändert haben, uns selber fremd geworden sind – dieser Einwand zählt nicht, denn im Grunde genommen ist immer alles da, die Vergangenheit, die Erinnerungen. Auch die Toten sind da. Dass man mit ihnen reden kann, zeigt Nooteboom. Man muss es nur üben. Dabei geht es nicht um Nekrophilie, sondern darum, eine Sache zu Ende zu bringen. Abschied ist immer. Der wahre Abschied ist kein Abschneiden, sondern sondern eine Heimkehr in die Gleichzeitigkeit.

Literatur kann vielerlei, sie kann uns amüsieren, unterhalten, belehren, sie kann uns in die Länder der Träume und der Visionen entführen. Sie kann uns auch zum Nachdenken über die letzten Dinge bringen. Manchmal widerfährt uns der unerwünschte Augenblick der Verlangsamung und des Innehaltens. Ein plötzlicher Windhauch fasst uns von hinten an. Und dann ist dieses großartige Buch ein tröstlicher Begleiter. Dass es hervorragend übersetzt ist, verdanken wir der unermüdlichen Helga van Beuningen.

Cees Nootboom: Nachts kommen die Füchse
Erzählungen. Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008


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