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Ulrich Greiner

Wie aus den Lüften herabgestürzt
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Ulrich Schachts Novelle „Grimsey“

Ulrich Schachts „Grimsey“ hat mir ein Freund mit der Bemerkung geschenkt, es sei die schönste Erzählung des Jahres. Da ich ihn als erfahrenen Leser kenne, schlug ich das Buch neugierig auf und war nach wenigen Seiten gefangen. Eine derart klare und leuchtende Prosa habe ich lange nicht gelesen. Sie wirkt wie ein langer Atemzug, in dem Gegenwart und Vergangenheit zu einem großen Jetzt verschmolzen sind.

Die Gegenwart, das ist die Reise des Erzählers auf die isländische Insel Grimsey; und die Vergangenheit, sie taucht in jenen Bildern auf, wie sie wohl jedem vors innere Auge kommen, wenn er den Fluss der Gedanken durch den Kopf nicht stoppt, sondern zulässt, dass die eigene Geschichte ihr Recht erhält.

„Grimsey“ ist ein Buch der verlangsamten Wahrnehmung, der Abrüstung der Affekte. Es widersteht der gegenwärtigen Sucht, Erlebnisse zu sammeln und Reize zu steigern. Die ruhige und konzentrierte Prosa vertraut den Sinnen dieses erfahrenen und wachen Reisenden, der sich ein seltsames Ziel ausgesucht hat: Die 40 Kilometer nördlich von der Nordküste Islands gelegene Insel. Sie wird von rund hundert Menschen bewohnt, ist etwa fünf Kilometer lang und zwei breit, hat einen kleinen Flugplatz, eine Kirche, einen Leuchtturm und natürlich einen Hafen, wo die Fischer ihren Fang anlanden.

Es ist ein Ort von sprödem Reiz. Der Erzähler, der einen halben Tag hier verbringt, ist Fotograf, und er schildert uns die Szenerie mit einem geschulten Blick für das ästhetisch Besondere. Wir sehen das Grün der Wiesen, die zarten Blumen (es ist Sommer), die bescheidenen Bauten, die Felskanten, gegen die der Ozean brandet, und den Blick hinüber auf die fernen isländischen Berge:

„Eine dünne Wolkenschicht, die den Einfallswinkel der Sonne an diesem Punkt noch nicht durchschnitt, sorgte für dunklen Glanz bis kurz unter die Küste Islands. Ein letzter Streifen zwischen dem Meer und dem Ufer am Fuße der bläulich schimmernden Gipfelkette, fein wie eine unendlich lange Degenklinge und grell wie weißgekochter Stahl, brachte das Inselmassiv, das er nur mit Hilfe zweier Flugzeuge hatte überqueren können, auf dem Element, dem es entwachsen war, zum Schweben.“

Schritt für Schritt wandern wir mit Ulrich Schacht über dieses Eiland, und jeder enthüllt ein neues Bild: den kleinen Jungen, der in einer Pfütze spielt, oder die Verkäuferin im Supermarkt, die ihn herzerfrischend anlächelt. Es sind nicht nur schöne Bilder. Auf den Fensterbänken der Kirche entdeckt er Berge sterbender Fliegen, und auf der Wiese die weißgefiederten Leichen von Möven. Er findet leere Patronen. Offenbar hat jemand zum Spaß in die Vogelschwärme geschossen. Der Anblick verstört ihn. Die toten Vögel scheinen wie aus den Lüften herabgestürzt, und es kommt ihm vor, als wären sie ein Sinnbild seiner Lebensträume.

So führt ihn der Spaziergang über Grimsey in die Tiefen der eigenen Geschichte. Er erinnert sich daran, wie er als Junge am Strand der Ostsee unermüdlich Inseln baute, wohl wissend, dass sie am nächsten Tag von der Flut weggespült würden. Auch eine andere Insel kommt ihm in den Sinn: Der private Gesprächskreis – da war er schon Student – mit dem Professor, wo sich eine Gruppe von Gleichgesinnten über die Vorsokratiker austauschte und an den Texten der Antike die Freiheit des Denkens übte. Das war in der DDR. Der Professor wurde relegiert und der Student von Stasi verhört.

Ulrich Schacht, geboren 1951 im Frauengefängnis Hoheneck, wo seine Mutter inhaftiert war, studierte evangelische Theologie, wurde 1973 wegen „staatsfeindlicher Hetze“ zu sieben Jahren Haft verurteilt und 1976 von der Bundesrepublik freigekauft. In seinem Buch „Vereister Sommer“ (2011) erzählt er die Geschichte seiner Eltern. Die Mutter verliebte sich 1950 in einen russischen Besatzungsoffizier, wurde schwanger und wollte den Mann heiraten. Als die Kommandatur die Eheschließung verbot, wollten die beiden in die englische Zone fliehen. Der Plan flog auf, der Offizier wurde bestraft und die Mutter kam ins Gefängnis. Viele Jahre später ist der Sohn dann seinem Vater in der Nähe von Moskau begegnet.

Kein Wunder, dass Ulrich Schacht zu einem leidenschaftlichen antitotalitären Denker wurde. Dabei war ihm die Äquidistanz zu den großen Ideologien ein zentraler Gedanke. 1994 hat er zusammen mit Heimo Schwilk den damals heftig inkriminierten Sammelband „Die selbstbewusste Nation“ herausgegeben, in dem auch der ebenfalls angefeindete Essay „Anschwellender Bocksgesang“ von Botho Strauß zu lesen gewesen war.

Die damaligen Erregtheiten kann man sich heute nur mit Mühe ins Gedächtnis zurückrufen. Man muss auch die autobiografischen Hintergründe nicht kennen, um „Grimsey“ zu verstehen. Ulrich Schacht erwähnt sie nur beiläufig. Man ahnt, weshalb dieser einsame Reisende ein Sammler von Inseln ist, vor allem von arktischen. Es ist die Menschenleere, die ihn anzieht. Als er den Leuchtturm von Grimsey besichtigt, erinnert er sich an die Großmutter, die davon träumte, auf einer Hallig zu leben. „Wer auf einem Leuchtturm lebte, lebte unter einem Licht, das zu leuchten begann, wenn es finster wurde; so gab er anderen Zeichen, die für deren Wohlergehen notwendig waren, ohne selber erreichbar zu sein. Auf einem Leuchtturm lebte man gewiß allein, einsam lebte man dort deshalb noch lange nicht. Auch konnte man dort nicht verraten oder verraten werden, allenfalls sich selbst zu verraten war möglich.“

Doch der Erzähler ist keineswegs ein Menschenfeind. Als er mit dem Schiff nach Island zurückkehrt, mach er die Bekanntschaft eines kleinen Mädchens. Sie heißt Bergfridur. „Bergfridur, dachte er, was für ein eigentümlicher Name. Aber er klang ihm auffallend schön, auf eine ganz fremde, dunkle, friedliche Weise. Gern hätte er ihr auf die Stupsnase getippt, wie damals die junge Frau ihm, dem Zehnjährigen, der frisch operiert worden war und sich nun langsam erholte. Meist hatte sie Nachtdienst, und wenn alles schlief, kam sie in das Zimmer, in dem er lag, berührte ihn leicht an der Nase und fragte leise, bist du noch wach? Ja, flüsterte er dann selig, weil er wußte, daß sie ihn mitnehmen würde, mitnehmen für ein, zwei Stunden ins Nachtwachenzimmer. Dort hörten sie aus einem Kofferradio Musik aus Hamburg, aßen Kekse oder Waffeln und tranken etwas dazu.“

Es ist schön, wie Schacht die Parallelwelten des Damals und des Jetzt leichthändig aneinanderfügt. Es entspricht den Bewegungen in unserem Kopf, für den die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen kein Problem bedeutet.

Einmal begegnet er auf Spitzbergen einer Malerin. Sie kommen ins Gespräch, und sie fragt ihn, wohin die Reise gehe. „Wir wollen noch bis zum Achtzigsten, vorher Blomstrandhalvoeya, da setzen wir Leute ab, dann Magdalenefjord, Däneninsel, Amsterdaminsel, vielleicht noch Moffen, kennen Sie sicherlich alles schon. Das ist die Paradestrecke, sagte sie und nickte, aber sie nützt sich zum Glück nicht ab vom Vorbeifahren. Wir gehen auch an Land, sagte er. Natürlich, sagte sie, doch auch das reicht nicht, Gott sei Dank. Hier ist Schönheit noch stark, der einzige Trost.“

Ein seltsamer Satz. Worin bestünde der Trost? Offenbar in einer Art von Weltflucht. Manche der von Ulrich Schacht geschilderten (gemalten) Bilder wirken fast so, als wäre der Standort der schwarzen Gestalt auf Caspar David Friedrichs Bild „Der Mönch am Meer“ (ca. 1810) heutzutage die ideale Position, um sich aus der endlosen Unrast herauszuziehen und zur Ruhe zu finden.


Auf einer Reise zum Franz-Josefs-Archipel lernt er ein Ehepaar kennen, das seit Jahren eine Wetterstation versorgt. „Die Station, auf der die beiden, wie eine Raumpatrouille am Rande der Galaxie, ihr glückliches Leben angesichts unendlicher Stille und Räume verbracht hatten, sollte aufgegeben werden.“ Die beiden sind todunglücklich darüber, und Schacht erzählt:

„Als er mit den anderen Expeditionsteilnehmern in den Hubschrauber kletterte und aus der aufsteigenden Maschine herabsah auf das kleiner und kleiner werdende Menschenpaar vor seiner weltfernen Behausung kurz unter dem 82. Breitengrad, wurde es ihm für für die Zeit einer bis heute dauernden Sekunde zum lebendigen Bild dessen, was gemeint gewesen sein könnte mit der Genesis-Geschichte von Urpaar. Nur schien dieses Paar, das dem abfliegenden Hubschrauber und seinen Insassen im grellen Licht der Polarsonne noch lange nachwinkte, rehabilitiert zu sein. Es hatte die falsche Erkenntnislust überwunden und deshalb zurückkehren dürfen. Der bevorstehenden neuerlichen Vertreibung, das wußte er, war diese Deutung nicht gewachsen. Vielleicht, sagte ihm ein schrecklicher Verdacht, bestand der wahre Sündenfall des Menschen in dem unausrottbaren Wunsch nach Zeitlosigkeit für sein Glück.“

Das ist wohl leider so. Doch für die Zeit der Lektüre dieses Buches genießen wir ein zeitloses Glück.







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