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Ulrich Greiner

Tauben im Gras

Ingo Schulzes Erzählungen "Simple Storys"

Es geht also doch. Da heißt einer Ingo Schulze und schreibt plötzlich den Roman der Vereinigung, zielt unerschrocken ins Herz der deutschen Zwietracht, mitten hinein in diese Tristesse aus Arbeitslosigkeit und Beziehungskiste, aus Herz und Schmerz mit Sättigungsbeilage. Derlei mit literarischem Anstand bewältigt zu haben, wäre allein schon erwähnenswert, obgleich die Frage naheläge: Will man sowas lesen? Die alte Hollywood-Weisheit „Eine Frau, die tagsüber am Spülstein steht, geht nicht abends ins Kino, um eine Hausfrau am Spülstein zu sehen“, gilt ja auch sonst. Von Literatur dürfen wir mehr verlangen als bloße Widerspiegelung. Ein bißchen Illumination soll sein. Sonst machen wir uns lieber gleich ein paar schöne Stunden.

Das Wunder dieses Romans aus der ostdeutschen Provinz, wie er sich selber nennt, besteht darin, daß er sich keineswegs erschöpft mit seinen erschöpften Figuren, daß er sich seiner Allerweltsrealität keineswegs mit einem Allerweltsrealismus nähert. Das Wunder leuchtet wie der Sonnenuntergang überm Baumarkt. Plötzlich wird die Welt durchsichtig, und alles scheint möglich, sogar das gute Ende.

Ob Jenny und Martin, die auf der letzten Seite Hand in Hand durchs Bild schreiten, einander gefunden haben und glücklich werden? Wir wissen es nicht, aber man müßte, um die schöne, die traurige Komik dieser 29. und letzten Geschichte begreiflich zu machen, die näheren Umstände schildern: die Taucherbrillen und Taucheranzüge, in denen die beiden stecken; die Fußgängerzone, wo sie für ein Fischrestaurant Werbezettel verteilt haben; das schmähliche Ende, als einer der Passanten plötzlich Martin niederschlägt; Martins bittere Bemerkung, keiner der Umstehenden habe sich gerührt, und Jennys tröstenden Hinweis: „Sie wollten sich nicht blamieren, falls es sich als Kunst oder Straßentheater herausstellt“; und schließlich den Platzregen, unter dem sich die Passanten seitwärts zu den Häusern wegducken, während Jenny und Martin wie ein submarines Brautpaar davongehen. Und eine Kapelle im weißen Zelt spielt die Polka dazu.

Schließlich müßte man erzählen, wer Jenny ist und wer Martin, denn inzwischen, nach 300 Seiten, wissen wir schon manches über die beiden (daß Martin ein arbeitsloser Kunsthistoriker ist und Jenny eine lebensfrohe Krankenschwester) - aber dann könnte man ebensogut den ganzen Roman erzählen. Und das ist kaum möglich, weil er das „Ensemble der menschlichen Verhältnisse“ darstellt (und jedenfalls in diesem Punkt dem guten alten Marx folgt), weil er in 29 Geschichten 29 Personen auftreten läßt, aber keineswegs hübsch der Reihe nach, sondern in einem sehr gekonnten Rhythmus wechselnder Perspektiven, neuer Gruppierungen, so daß wir denselben Menschen unter einem anderen Blickwinkel und in einer anderen Situation mehrfach begegnen.

Am Ende sind sie uns seltsam nahe, diese ständig scheiternden, immer neu sich aufrappelnden Zeitgenossen aus den blühenden Landschaften, diese abgewickelten Parteigenossen und zum Erfolg verdammten Kleinunternehmer, diese schrägen Vögel und wortkargen Arbeitstiere, diese eigensinnig tapferen Frauen, sentimentalen Schnodderschnauzen, süßen Mädchen. Die Liebe dauert oder dauert nicht, wie es in der Dreigroschenoper heißt, die Paare wechseln, die Sehnsucht geht seltsame Wege, und Patrick liebt Lydia, die ihn verläßt, Edgar liebt Danny, schläft aber mit Ute, während Danny Patrick liebt, der aber zu Lydia zurückkehrt.

Wie Tauben im Gras hüpfen sie umher, rastlos auf der Suche nach ein bißchen Glück nur, ein bißchen Sicherheit. Und so wie Wolfgang Koeppen in seinem Roman Tauben im Gras (1951) darauf verzichtet, den einen und einzigen Helden in den Mittelpunkt zu stellen, und stattdessen ein ganzes Panorama der Begierden und Ängste ausbreitet, so webt auch Ingo Schulze einen Teppich postsozialistischen Lebens, dessen scheinbar wirre Fäden sich zu einem neuen, nie gesehenen Muster fügen. Aber anders als Koeppens reich orchestrierte Erzählung wählt Schulze, geschult an der amerikanischen Short Story und inspiriert von Autoren wie Raymond Carver, den Weg der Sparsamkeit, der Andeutungen, der Auslassungen, des scheinbar engen Blickwinkels. Knapp die Hälfte der Geschichten erzählt nicht der Autor, sondern eine der Personen. Dann lautet der Untertitel etwa so: „Edgar Körner erzählt von einer Fahrt mit Danny über ein Stück alte Autobahn. Die Frau am Steuer, oder wenn beide gerne fahren. Wahre und erfundene Geschichten. Wirkliche Liebe kann warten.“

Ingo Schulze ist ein Formkünstler, ein Imitationsvirtuose. Die Stimme, die er seinen Figuren leiht, klingt wie Originalton, er springt mitten hinein in die Szene, mit Umständlichkeiten hält er sich nicht auf, Erläuterungen werden nicht gegeben, und erst spät und sehr allmählich reimt sich der Leser zusammen, was zusammengehört. Nicht immer gelingt es, und ich gebe zu, daß ich zwei, drei Geschichten nicht verstanden, daß ich öfter ein Personenverzeichnis (wie in englischen Krimis) vermißt habe. Die wahre Kunst aber dieses verwirrend vielköpfigen, geschichtenüberquellenden Romans besteht in der völligen Abwesenheit pädagogischer Ziele. Nichts wird bewiesen, aber alles wird gezeigt. Und wie bei Carver zum Beispiel kommt die Pointe der Storys ganz beiläufig, manchmal fehlt sie ganz, und es mutet an wie das Flugbild einer Schwalbe, die scheinbar grundlos einen jähen Bogen zur Seite und hinauf ins Blaue beschreibt. Daraus entsteht dieses stille Leuchten, das kaum etwas Tröstliches hat, sondern eher wie ein Glasbild erscheint, das sein Licht von hinten empfängt.

Da gibt es zum Beispiel Patrick und Lydia und die Geschichte eines mißlungenen Abends. Eingeladen zu einer Party draußen auf dem Land verfahren sie sich in der Dunkelheit, kommen erst an, als das Fest beinahe schon vorüber ist. Auf der Heimfahrt werden sie von einem Verrückten auf einsamer Straße bedrängt und verfolgt. Panisch steuert Patrick eine blau leuchtende Tankstelle an. Eine aufgekratzte, angeheiterte Gesellschaft feiert mitten in der Nacht eine Party. Lydia trinkt Jim Beam und macht Patrick den Vorwurf, er habe sie allein gelassen:

„‘Du hättest mir wenigstens deine Hand geben können oder sagen, daß ich keine Angst haben muß, daß du mich beschützt, irgend wo was.‘ - ‚Ich wollte kein Drama draus machen‘, sage ich endlich, ‚Das war ein dummer Junge.‘ - ‚Du verstehst nicht‘, sagt sie. ‚Jeder war für sich. Du saßt da, und ich saß da, schrecklich.‘ - ‚Das stimmt nicht‘, sage ich. - ‚Natürlich stimmt es.‘ Sie schraubt den Jim Beam auf. (...) Plötzlich lehnt sie sich herüber, schlingt ihre Arme um mich und beginnt, mein rechtes Ohr zu küssen.“

Trockener, sprachloser kann man eine Liebesgeschichte nicht erzählen, genauer: kann Patrick seine Liebesgeschichte nicht erzählen. Kein Wunder, daß Lydia ihn verläßt. Ein Wunder, daß sie einander wiederfinden.

Kleine Wunder in der großen, grauen Turbulenz. Im Grunde sind fast alle diese Schicksale trostlos, auch wenn die Menschen es kaum so sehen. Sie sind die Inseln jenes Archipels, das nach der Implosion der sozialistsichen Welt übriggeblieben ist. Jeder ist seines Unglückes Schmied, Scheitern ist Alltag. Der ehemalige Schuldirektor ist arbeitslos und wird nach und nach verrückt. Das ehemalige Mitglied des Kollegiums, seinerzeit durch Unbotmäßigkeit aufgefallen, erleidet einen Infarkt. Der kubanische Taxifahrer wird von Neonazis niedergestochen. Auf einer Betriebsfeier trinkt man einander in Grund und Boden, und der pinkfarbene Slip einer besoffenen Kollegin erscheint als zarter Schimmer der Verheißung an einem Horizont der Hoffnungslosigkeit.

Bei Ingo Schulze ereignen sich die Dinge zwischen den Sätzen. Die Leerstellen sind groß. Sie lassen Raum für die Einbildungskraft des Lesers, und er sieht: Dieses seltsame, unbegriffene und ziemlich deutsche Deutschland der Gegenwart ist trostloser und schöner, grauer und spannender, als er dachte. „Überall ist Wunderland. / Überall ist Leben. / Bei meiner Tante im Strumpfenband / Wie irgendwo daneben“, schrieb Joachim Ringelnatz.

Ingo Schulze: Simple Storys. Roman aus der ostdeutschen Provinz. Berlin Verlag 1998

Erschienen in der ZEIT 1998


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