Home - Club der toten Dichter - deutschsprachige - Adalbert Stifter - Der Nachsommer
|
Ulrich Greiner Welch ein Sommer hätte sein können, wenn einer gewesen wäre! Adalbert Stifter: „Der Nachsommer“ Wer das Abenteuer des Lesens liebt – und Abenteuer heißt ja wohl, dass man fremdes Gelände aufsucht, ohne Weg und Ziel genau zu kennen –, der wird früher oder später auf Adalbert Stifters „Nachsommer“ stoßen, einen der seltsamsten und großartigsten Romane, den die Literatur kennt. Und wer sich in diese 800 Seiten umfassende, ebenso schöne wie monströse Landschaft hineinbegibt, der macht jene Erfahrung, die der Märchenheld erlebt, wenn er in den alten Kleiderschrank klettert und auf der Rückseite eine weitere Tür entdeckt. Sie öffnet sich in eine andere Welt, wo das Zeitmaß, das wir kennen, nicht mehr gilt, wo das Licht sanfter ist, die Schatten länger sind und die Menschen aussehen, als wären sie alten Gemälden entstiegen. Die andere Welt des „Nachsommers“ ist so fremdartig, dass sich wahrlich nicht jeder darin zurechtfindet. Was mich selber betrifft, so kam ich durch meine Tante dorthin, die mir, als ich noch ein Junge war und bereit für das Ungewöhnliche, Stifters „Bergkristall“ vorlas, jene zauberisch unheimliche und tröstliche Geschichte zweier Kinder, die am Weihnachtsabend, als sie von der Großmutter zu den Eltern heimkehren, in einen Schneesturm geraten und nur durch ein Wunder errettet werden. Ich war davon so gebannt, dass ich alles las, was meine Tante von Stifter besaß, darunter auch den „Nachsommer“. Dass ich ihn verstanden hätte, kann ich im Ernst nicht behaupten, aber ich habe ihn nicht weggeworfen – wie jene mir nahestehende Dame, die ihn auf eine Segelfahrt mitnahm und, nachdem sie sich mit wachsendem Zorn rund hundert Seiten hineingearbeitet hatte, den Roman vom Boot in die Ägäis schleuderte. Stifter, der zu seinem Leidwesen das Meer erst am Ende seines Lebens nur kurz gesehen hat, wird sich gefreut haben, auf diese Weise noch einmal hingekommen zu sein. Wahrscheinlich kann man den „Nachsommer“ nur lieben oder hassen. Friedrich Hebbel, ein Zeitgenosse Stifters, der sich damals als scharfer, manchmal nur schmissiger Rezensent betätigte, schrieb 1858 in der „Leipziger Illustrierten Zeitung“ einen Verriss, der so beginnt: „Drei starke Bände! Wir glauben Nichts zu riskiren, wenn wir Demjenigen, der beweisen kann, daß er sie ausgelesen hat, ohne als Kunstrichter dazu verpflichtet zu sein, die Krone von Polen versprechen.“ Ein starker Satz, der Stifter tief gekränkt hat, aber wahr ist, dass der „Nachsommer“ bei seinem Erscheinen 1857 nur wenige geneigte Leser fand, anders etwa als seine erste Erzählung „Der Condor“ (1840), die auf große Zustimmung gestoßen war. Nietzsche allerdings liebte den Roman: „Wenn man von Goethes Schriften absieht: was bleibt eigentlich von der deutschen Prosa-Literatur übrig, das es verdiente, wieder und wieder gelesen zu werden? Lichtenbergs Aphorismen, das erste Buch von Jung-Stillings Lebensgeschichte, Adalbert Stifters Nachsommer und Gottfried Kellers Leute von Seldwyla, – und damit wird es einstweilen am Ende sein.“ Nietzsche muss erkannt haben, dass dieses Buch den gewöhnlichen Realismus weit übersteigt, hin zu einer Überwölbung des menschlichen Daseins und Auftrags. In gewisser Hinsicht handelt auch der „Nachsommer“ vom Übermenschen, der bei Stifter jedoch, anders als bei Nietzsche, sein Ziel nicht durch die grandiose Geste erreicht, sondern durch konservative Entsagung, durch Einübung ins Richtige und letzten Endes Unvermeidliche. Eigentlich handelt es sich um eine Utopie, um die Utopie gelingenden Lebens, und wir dürfen den Begriff wörtlich verstehen: Utopie ist hier der Nicht-Ort, die Nicht-Zeit. Zwar wird die Landschaft genau, oft übergenau beschrieben, aber die Örtlichkeiten werden selten lokalisiert (meist ist von „der Stadt“ die Rede, sicherlich Wien), auch die Zeit der Handlung ist unklar, und die Menschen, denen wir begegnen, tragen zunächst keine Namen. Erst am Ende erfahren wir indirekt, dass der Held (der Icherzähler) Heinrich Drendorf heißt. Der junge Mann entstammt einer begüterten Kaufmannsfamilie in der „Stadt“, er treibt naturwissenschaftliche Studien, er wandert durch die Berge, um sie zu untersuchen, zu vermessen und zu zeichnen. Einmal sucht er Schutz vor einem Gewitter und fragt am Tor eines auf dem Hügel gelegenen Herrenhauses um Unterkunft. Der Besitzer, ein älterer Mann mit weißen Haaren, bittet ihn herein, und nun gerät Heinrich in einen Kosmos eigener Art. Das ausgedehnte Anwesen mit Feldern, Gärten, Gewächshäusern und Werkstätten ist ein Denkmal praktischer Vernunft. Sie richtet sich auf die Nachhaltigkeit, auf das allseits Bekömmliche, und nicht auf den schnellen Eigennutz. Ihr Ziel ist nicht das ökonomische Wachstum, sondern das innere. Ihre Idee ist das rechte Maß, der Einklang mit dem Gesetz der Natur, das recht verstanden das Gesetz des Menschen ist. Das Rosenhaus, wie seine Bewohner es zumeist nennen, ist ein ökologisches Paradies. Es wird sichtbar, es blüht im wahrsten Sinn an jener die ganze Front verschönernden Rosenwand, deren Vollkommenheit zu beschreiben Stifter niemals müde wird. Der Besitzer – es handelt sich um den Freiherrn Gustav von Risach, aber auch diesen Namen erfahren wir erst am Ende – führt ganz konkret vor, wie die Rosenpracht, gestört von keiner Krankheit und keiner Laus, zustande kommt: durch geduldiges, kluges Erkennen natürlicher Gesetzmäßigkeiten, wozu etwa gehört, dass man jene Vögel hegt und pflegt, die sich von den Schädlingen ernähren. Die alljährliche Rosenblüte, zu der sich unser Heinrich stets pünktlich einstellt, bildet das sinngebende Zeitmaß des Romans, bis hin zu jener Brautwerbung und Hochzeit, mit der die Handlung endet. Denn wenig mehr ist von ihr zu sagen als dies: Dass Heinrich auf dem Rosenhof seiner Natalie begegnet und dass diese wahrhaft glückliche Begegnung die Wiedergutmachung jener zutiefst unglücklichen bedeutet, die das Leben des alten Risach und der gleichfalls gealterten Mathilde (Nataliens Mutter) ein für allemal bestimmt hat. Wieder werden wir bis zum Ende warten müssen, um von diesem Ausbruch liebender Leidenschaft Näheres zu hören, ein Ausbruch, der tragisch ausgeht, eben weil er das Maß übersteigt. Und am Ende verstehen wir die entsagungsvolle Weisheit des Alten, dessen Devise „Ergebung, Vertrauen, Warten“ lautet. Und einmal sagt er, es gebe „nichts Falscheres, als wenn man von edlen Leidenschaften spricht“. So redet das gebrannte Kind, und es ist gut möglich, dass Stifter selber eins war. Wir wissen nicht, weshalb er sich von der geliebten Fanny, der er die glühendsten Briefe schrieb, davonstahl und statt dessen in die kenntnisreichen Arme der in jeder Hinsicht ungebildeten Amalie flüchtete. War es am Ende nur die erotische Gier, die sich dann, als sie ermattete, in die Essensgier verwandelte? Denn Amalie kochte hervorragend, das inzwischen in Linz lebende Ehepaar (der weithin bekannte Dichter war Schulrat gworden) liebte es, gut und vor allem reichlich zu tafeln. Stifter muss, bevor seine Leber versagte, nahezu fett gewesen sein. Von solch sinnlichen und auch tristen Genüssen ist im „Nachsommer“ keine Rede. Er verkündet den asketischen Gegenentwurf, und dessen Wurzel liegt in jener Lebensgeschichte, die der alte Risach dem jungen Heinrich, der sich anschickt, die Tochter seiner Mathilde zu ehelichen, mit auf den Weg gibt. Risach kam, so wird erzählt, aus einfachsten ländlichen Verhältnissen, der Vater starb früh, die Mutter war arm, der Sohn kam ins Internat und wurde einer der Besten. Bald verdiente er sich durch Nachhilfe ein Zubrot, und später, als er in der „Stadt“ studierte, wurde er Hauslehrer vermögender Familien. All dies gleicht auffällig Stifters eigenem Leben. Ob das, was nun folgt, dazu gehört, kann man nicht wissen, aber es bildet die Antriebsenergie des ganzen Romans. Risachs Ruf ist so groß, dass eine namhafte aristokratische Familie ihn als Hauslehrer einstellt. Draußen auf dem ländlichen Schloss wird er wie ein Sohn aufgenommen, bis zu jenem himmelstürzenden Augenblick, da er sich in die Tochter des Hauses verliebt. Die Liebe überkommt den jungen Mann und das Mädchen mit der Gewalt des Plötzlichen: „Da flog sie auf mich zu, drückte die sanften Lippen auf meinen Mund und schlang die jungen Arme um meinen Nacken.“ Von nun an ist alles wie verzaubert: „Tausend Fäden fanden sich, an denen unsere Seelen zueinander hin und her gehen konnten. Die Lüfte, die Gräser, die späten Blumen des Herbstes, die Früchte, der Ruf der Vögel, die Worte eines Buches, der Klang der Saiten, selbst das Schweigen waren unsere Boten. Und je tiefer sich das Gefühl verbergen mußte, desto gewaltiger war es, desto drängender loderte es im Innern.“ Als der junge Mann sich ein Herz fasst und der Mutter alles gesteht, reagiert sie sehr entschieden: Der Bund, den beide geschlossen hätten, sei ohne Ziel, Mathilde noch ein Kind, er selbst noch ganz am Anfang seiner Laufbahn. Sie verlangt von ihm die tragische Tat: Er müsse Mathilde zur Trennung (einer vielleicht einstweiligen) bewegen. Er tut es, weil ihm das Gebot der Eltern heiliges Gesetz ist, und er findet Mathilde außer sich vor Verzweiflung und Zorn. Ihr Zorn richtet sich gegen ihn: weil er dem Gebot der Mutter gefolgt sei, nicht dem des Herzens. Er sei es, der den heiligen Bund beider gebrochen habe. Die entscheidende Szene spielt vor einem Rosenstrauch: „Sie drückte das Angesicht ganz in die Blumen und weinte so, daß ich glaubte, ich fühle das Zittern ihres Körpers. Ich griff mit der bloßen Hand in die Zweige der Rosen, drückte, daß mir leichter würde, die Dornen derselben in die Hand, und ließ das Blut an ihr niederrinnen.“ Diese Geschichte ist der Taifun, dessen Wüten bis in die Gegenwart der Erzählung nachbebt, und der Roman ist nichts anderes als sein Auge. Denn Stifter wendet seine ganze Kraft daran, jede Bewegung zu verlangsamen, jede Emotion zu bändigen und den Fluss der Zeit anzuhalten. Der Ausbruch verderblicher Leidenschaft soll rückwirkend gut gemacht werden. Und daraus entsteht die einzigartige erzählerische Strategie des Romans: alles, was sich zu einem Ereignis oder einer Handlung entwickeln könnte, in eine ereignis- und handlungslose Ruhe münden zu lassen. Leitmotivisch kehren die Jahreszeiten wieder, der Winter, den Heinrich in der Stadt verbringt, das Frühjahr, wo er hinaus in die Berge zieht, der Sommer, der ihn pünktlich zur Rosenblüte auf den Asperhof bringt. Stifter versucht nicht im geringsten, das Gleichmaß der Wiederkehr abwechslungsreich zu gestalten. Im Gegenteil, er betont es bis zum Überdruss. Auch der Rhythmus der Gepflogenheiten, die rituellen Besuche, Gespräche, Spaziergänge - all das wird bis ins Detail immer von neuem wiederholt. "Der Tag verging ungefähr wie der vorige, und so verflossen nach und nach mehrere", heißt es einmal, und einige Seiten später lesen wir: "Nach dieser Unterbrechung gingen die Tage auf dem Rosenhause dahin, wie sie seit der Ankunft der Frauen dahingegangen waren", und wenig später findet sich der typische Satz: "Die Gespräche waren wie gewöhnlich", und dann heißt es: "Man wiederholte vielleicht oft gesagte Worte, man zeigte manches, das man schon oft gesehen hatte, und machte sich auf Dinge aufmerksam, die man ohnehin kannte." Solche Passagen stellen die Geduld des modern beschleunigten Lesers auf die Probe. Er wird das Gefühl haben, als werde das Tempo seines Lesens und also auch Lebens durch einen entschiedenen Bremsvorgang verzögert, und bald sieht er sich vor der Wahl, das Buch ins Meer zu werfen (falls eines in der Nähe ist), oder abzuwarten, was diese Verlangsamung aus ihm macht. Arno Schmidt, auch er einer der Verächter Stifters, hat in seinem Essay "Der sanfte Unmensch" (1957) "die pleonastische Plattheit der Sprache" gerügt, und Hebbel hat in dem erwähnten Verriss bemerkt: "Was wird hier nicht Alles weitläufig betrachtet und geschildert; es fehlt nur noch die Betrachtung der Wörter, womit man schildert, und die Schilderung der Hand, womit man diese Betrachtung niederschreibt." Beide haben sie recht, aber anders, als sie dachten. Denn Stifter geht es keineswegs darum, etwas Neues oder Aufregendes mitzuteilen. Er vermeidet in seiner Sprache die expressiven Spitzen, er moduliert sie herunter auf ein zartes Moll und erreicht dadurch einen Effekt, wie wir ihn aus der minimalistischen Musik kennen: Da alles scheinbar gleich bleibt, aber eben nur scheinbar, gewinnt jede Variation eine höhere Bedeutung. Mit Sorgfalt vermeidet Stifter das Besondere, das Auffällige, und er gibt sich große Mühe, gerade das, was auf der Hand liegt, das Selbstverständliche, das Gemeinplätzige, immer wieder mit denselben Worten zu erzählen. Das ist so auffällig, dass es zweifellos Produkt eines präzisen Kunstwillens ist. Liest man die Briefe Stifters, dann sieht man, was auch die Urszene zwischen Gustav und Mathilde auszeichnet: dass er leidenschaftlicher Empfindungen und einer lebendigen Sprache fähig war. Die Sprache des "Nachsommers" wirkt umständlich, weil es darauf ankommt, jede unnötige Bewegung zu vermeiden. Die Ausdehnung des Augenblicks auf eine immerwährende Gegenwart ist Ziel der sprachlichen Form. So erklärt sich, dass Stifter die Kanzleisprache, deren er sich als Schulrat in seinen Berichten bedient, auch im "Nachsommer" verwendet. Wenn ein Gewitter beschrieben werden soll, sagt er: "An dem Himmel, dessen Dämmerung heute viel früher gekommen war, hatte sich eine Veränderung eingefunden." Die Form des Satzes dementiert seinen Inhalt. Oder Heinrich sieht am Glasdach des Gewächshauses, "dass hier kein Herabtropfen vorhanden sei." Bis in die kleinste Zelle der Sprache hinein geht das Bewegungsverbot, und dadurch gewinnt die Landschaft des Romans eine kristalline Struktur. Das Leben ist erstarrt. Das Rad der Zeit, dessen Lauf niemand zu stoppen vermag - hier stottert und ruckt es und scheint auf einmal stillzustehen, wie die Speichen einer Kutsche im schnellen Lauf die Illusion erzeugen, das Rad halte inne und laufe rückwärts. Daraus resultiert die ungeheure Spannung zwischen der Oberfläche und dem, was darunter liegt, die Spannung zwischen der Ruhe, die scheinbar herrscht, und der Unruhe, die an zentralen Stellen heftig zum Vorschein kommt. Arno Schmidt hat den Roman die „Magna Charta des Eskapismus“ genannt, und auch das ist richtig. Aber obwohl diese aparten Einzelgänger im Wohlstand leben – der von Fleiß und Arbeit herkommt, was allerdings vorausgesetzt und nicht geschildert wird –, handelt es sich nicht um Müßiggang, sondern um die tätige Aneignung und Bewahrung des Schönen. Ein nicht geringer Teil der Aktivitäten des alten Risach besteht darin, mit Hilfe kundiger Handwerker die vergessenen Kunstschätze des Landes zu zeichnen und zu inventarisieren. Auch gibt er Geld für die Restaurierung einer alten Dorfkirche und sammelt Bilder. Und Heinrich inventarisiert die Schönheiten der Natur, so wie sein Vater ein Sammler schöner und wertvoller Edelsteine ist. Alle sind sie auf der Suche nach dem Haltbaren (der Stein) und dem Unvergänglichen (die Kunst). Das ist Teil jenes radikal idealistischen Veredelungsprogramms, das ein Bollwerk gegen das Rohe und Gemeine bilden soll, gegen die Maßlosigkeit, also auch gegen die Leidenschaft. Das Gesetz, dem der Mensch zu seinem eigenen Besten folgen soll, ist ein göttliches. Aber Stifter, der immer Held eines katholischen Konservatismus gewesen ist (dem wohl auch meine Tante zugeneigt hat), hat, wenn man genau hinsieht, mit christlicher Theologie nicht viel im Sinn. Sein Gottesbegriff erinnert mehr an den von Goethe, den er tief verehrte, hat mehr zu tun mit jener romantischen Kunstreligion, die das Schöne gleichsetzt mit dem sittlich Richtigen. Der Gedanke des Gesetzes übrigens erlebt bei Stifters Nachfolgern heute, zu denen Schriftsteller wie Peter Handke und Botho Strauß, Arnold Stadler und Andreas Maier zählen, eine die Literatur belebende Wiedergeburt. Das Schöne ist Gesetz, und nicht bloß Geschmackssache. Als Risach sich einmal ein Konvolut alter Kupferstiche zur Ansicht kommen lässt, beschließt er, obwohl die Qualität der Blätter äußerst unterschiedlich ist, sie zu kaufen. Er und seine Berater kommen aber zu dem Schluss: „Die schlechten Blätter wollte man vernichten, weil sie durch ihr Dasein eine gute Wirkung nicht nur nicht hervorbringen, sondern das Gefühl dessen, der nichts Besseres sieht, statt es zu heben, in eine rohere und verbildetere Richtung lenken, als es nähme, wenn ihm nichts als die Gegenstände der Natur geboten würden. Denn den Geist des Menschen, sagten die Männer, verunreinige falsche Kunst mehr als die Unberührtheit von jeder Kunst.“ Das der „Nachsommer“ im geläufigen Sinn „aktuell“ sei, lässt sich wirklich nicht sagen, aber diese These beschreibt ein gegenwärtiges Problem und verdient unser Nachdenken. Es wird also durchaus gehandelt in diesem handlungsarmen Buch, aber dieses Handeln ist retrospektiv und kontemplativ. Dahinter steckt auch eine Verneinung der Welt, in der Stifter lebte, die nie direkt angesprochene, immer aber spürbare politische Realität der Monarchie, die ja selber ein Muster der Bewegungslosigkeit war und der vom Erdbeben der 48er Revolution ärgste Gefahr drohte. Der Stillstand, den Stifter literarisch formulierte, war politisch. Die März-Revolution, auf die er seine Hoffnungen gesetzt, von der er eine Lockerung des politischen Drucks und der Zensur erwartet hatte, enttäuschte ihn tief. Weniger, weil sie als Revolution scheiterte, sondern weil er sah, dass bedrohliche politische Energien freigesetzt wurden, die in Gefahr standen, Österreich aus den Angeln zu heben und jene „zentrifugale Bewegung“ zu verstärken, die der Archivdirektor und Dramatiker Franz Grillparzer, Stifters Freund, so fürchtete. Aus all dem folgt die soziale Handlungshemmung, die Wolf Lepenies in seinem Buch „Melancholie und Gesellschaft“ (1969) beschrieben hat; es folgt, weil jede Bewegung falsch ist, die Bewegungslosigkeit; es folgt, weil kein realer Handlungsspielraum existiert, die zeitlupenhafte Verlangsamung und die sprachliche Vernichtung von Handlung; es folgt, weil es keine Zukunft gibt, der Versuch, die Gegenwart als Gegenwart der Vergangenheit unendlich zu machen. Es ist aber die Bastion, die Stifter im „Nachsommer“ errichtet, keineswegs lückenlos, dafür war er zu intelligent. Er hat die Vorzeichen der Moderne durchaus wahrgenommen. Bei einer der Disputationen mit seinem jungen Freund sagt der alte Risach, eine „neue Zeit“ werde kommen: „Wir stehen noch zu sehr im Brausen dieses Anfanges, um die Ergebnisse beurteilen zu können, ja wir stehen erst ganz am Anfange des Anfanges. Wie wird es sein, wenn wir mit der Schnelligkeit des Blitzes Nachrichten über die ganze Erde werden verbreiten können, wenn wir selber mit großer Geschwindigkeit und in kurzer Zeit an die verschiedensten Stellen der Erde werden gelangen, und wenn wir mit gleicher Schnelligkeit große Lasten werden befördern können? Werden die Güter der Erde da nicht durch die Möglichkeit des leichten Austauschens gemeinsam werden, daß allen alles zugänglich ist? Jetzt kann sich eine kleine Landstadt und ihre Umgebung mit dem, was sie hat, was sie ist und was sie weiß, absperren; bald aber wird es nicht mehr so sein, sie wird in den allgemeinen Verkehr gerissen werden.“ Und ganz am Ende, als der jüngere Bruder Nataliens ins Blickfeld rückt und die Älteren mit Verwunderung sehen, wie aus dem Knaben ein verführerisch schöner Jüngling geworden ist, sagt der alte Risach mit unvermuteter Schärfe: „Er muß in die Härte der Welt, die wird ihn stählen.“ Das nun ist ein Riss in diesem wunderbaren Glasfenster, an dem der Roman unablässig baut. Denn sein Ziel besteht ja darin, die Härte der Welt hinter sich zu lassen, zu versöhnen mit all dem was ist, ob man es nun haben will oder auch nicht. „Alles, was ist, wie groß und gut es sei, besteht eine Zeit, erfüllt einen Zweck und geht vorüber.“ So auch Risachs Leben. Nachdem er erfolgslos versucht hat, die erbitterte Mathilde wiederzugewinnen, geht er in den Staatsdienst und wendet seine enttäuschte Lebensenergie in Arbeit, die so erfolgreich ist, dass er die Gunst des Kaisers und den Adelstitel gewinnt. Er zieht sich aber, weil ihm das Politische immer fremder wird, ins Private zurück und hegt seine Rosen. Eines überraschenden Tages erscheint Mathilde und bittet ihn um Verzeihung. Beide sind sie nun schon alt – was immer das heißt, denn wenn man genauer nachrechnet, wird man darauf kommen, dass beider Alter irgendwo oberhalb von 50 liegen muss. In der Beschreibung des Wiedersehens heißt es: „Ich blickte auf ihr Angesicht. Es war schon verblüht, aber auf den Wangen und um den Mund lag der liebe Reiz und die sanfte Schwermut, die an abgeblühten Frauen so rührend sind, wenn gleichsam ein Himmel vergangener Schönheit hinter ihnen liegt, der noch nachgespiegelt wird.“ Das ist unschuldiger, als es heute klingt, denn immer wieder preist Stifter, der sich damals selber schon alt fühlte, obwohl er erst 52 war, die Vorzüge des Alters. Einmal sagt Risach zu Heinrich (sie sprechen über die großen Künstler): „Ihr werdet selber einmal sehen, um wie viel milder und klarer die verglühende Sonne des Alters in die Größe eines fremden Geistes leuchtet als die feurige Morgensonne der Jugend, die alles mit ihrem Glanze färbt.“ Und ein andermal spricht er vom „Reiz des Vergangenen und Abgeblühten“. Der Gedanke schließt auch die Natur ein, die als etwas Lebendiges erscheint, wenn Heinrich Abschied von seinen geliebten Bergen nimmt, um in die Stadt zurückzukehren: „Ich sah manchen Blick der Landschaft, die sich zu tiefem Ersterben rüstete.“ Die Landschaft blickt: Das gibt es nur bei Stifter.
blog comments powered by Disqus |