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Ulrich Greiner

Laudatio auf Uwe Timm
Anlässlich der Verleihung des Literaturpreises der Stadt München, 20. 11. 2002

Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Uwe Timm!

Lassen Sie mich mit Matthias Claudius beginnen und seine berühmte Verszeile abwandeln: Ich begehre, schuld daran zu sein. Aber, auf Ehre und Gewissen, ich bins nicht. Ich bin nicht schuld daran, dass Uwe Timm heute abend geehrt wird, denn die Jury hat, nach einer verschwindend kurzen Diskussion, einstimmig entschieden, dass Uwe Timm den Münchner Literaturpreis kriegt, und wäre ich dagegen gewesen, ich hätte nichts daran ändern können. Immerhin muss ich zugeben, dass ich nicht dagegen war, und mehr noch: Dass ich mich außerordentlich über das Resultat der Entscheidung freue.

Ich freue mich aus zwei Gründen, erstens aus einem literarischen Grund, weil ich der Meinung bin, dass Uwe Timms Werk ganz besondere und herausragende literarische Qualitäten besitzt; und zweitens aus einem quasi literaturpolitischen Grund, weil ich glaube, dass diese Entscheidung ein notwendiges Zeichen setzt, und es ist vielleicht kein Zufall, dass dies jetzt geschieht und nicht schon vor fünf oder zehn Jahren geschehen ist.

Bevor ich ich Ihnen diese Gründe näher erläutere, möchte ich ein mögliches Missverständnis ausräumen. Ich kenne die Münchner Empfindlichkeiten nicht, aber es könnte der Eindruck entstehen, dass sich hier zwei Hamburger, zwei mehr oder weniger preußische Nordlichter auf bayrische Kosten bereichern. Dazu kann ich nur sagen, dass ich kein Hamburger bin. Zwar lebe ich dort seit rund 20 Jahren, was aber für das hanseatische Traditionsbewusstsein so gut wie nichts bedeutet. Ich bin offen gesagt ein Frankfurter, und Frankfurt war immer antipreußisch.

Uwe Timm hingegen, obwohl er seit rund 30 Jahren in München lebt, ist in Wahrheit ein Hamburger. Sein allererster Roman Heißer Sommer spielt zu großen Teilen dort, sein jüngster Roman Rot enthält einige zentrale Kapitel, die in Hamburg spielen, und einer seiner schönsten Romane Die Entdeckung der Currywurst ist fast so etwas wie ein Hamburg-Roman. Alle seine vielen anderen Romane jedoch spielen anderswo, in München oder in Berlin, in Südamerika oder in Afrika.

Es gibt also keine Hamburg-Connection. Auf die Herkunft Uwe Timms und auf die Schauplätze seiner Romane aber weise ich deshalb hin, weil solche Realien, solche Lebenswirklichkeiten für sein Werk entscheidend sind. Es ist überhaupt nicht egal, weder für den Autor, noch für den Leser, welche näheren geografischen, historischen oder gesellschaftlichen Umstände jene Geschichte bestimmen, die erzählt werden soll. Das mag Ihnen selbstverständlich vorkommen, und deshalb erlaube ich mir den Hinweis auf einige nicht ganz geringe und sehr gegensätzliche Kollegen Uwe Timms, bei denen Zeit und Ort keine oder nur die kleinste Rolle spielen. Der extremste Fall ist natürlich Franz Kafka, ein anderer Hermann Hesse. Oder, um auf die Gegenwartsliteratur zu kommen, Thomas Bernhard, Peter Handke oder Botho Strauß. Das sind übrigens Autoren, die ich selber sehr schätze.

Uwe Timm jedoch schätze ich deswegen, weil die politische, soziale Realität der Grund und Boden ist, auf dem er sich schreibend und denkend bewegt. Man kann darin seine geistige Herkunft erkennen: Indem er den Menschen als das „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ begreift (um ausnahmsweise einmal Karl Marx zu zitieren), realisiert er eine bleibend tragfähige Erkenntnis, die ihm aus den Jahren der Revolte geblieben ist: Die Welt im Kopf ist zwar sehr bewegend, aber sie bedeutet nichts, wenn wir die Welt ignorieren, die diesen Kopf bewegt.

Deshalb interessiert sich Uwe Timm für unsere Welt, und er tut das durchaus eigennützig: Er will die Wirklichkeit begreifen, die sein Leben bestimmt. Darin ist er unser aller Stellvertreter, denn auch wir wüssten ganz gern, an welchen Fäden wir zappeln, und darin ist er auch mein Kollege. Denn im Prinzip arbeitet er wie ein Journalist, wie ein sehr guter und seltener Journalist, muss ich hinzufügen. Er recherchiert nämlich, und zwar lange und gründlich. Das merkt man seinen Büchern an.

Im Roman Der Schlangenbaum erleben wir einen deutschen Ingenieur, der den Auftrag erhält, mitten im südamerikanischen Dschungel ein Zementwerk zu errichten. Er scheitert an technischen Problemen, an der Korruption, an der tödlichen Hitze, an dem bedrohlichen Konflikt zwischen einem diktatorischen Regime und einer aufständischen Bevölkerung. Das ist bis in die sprechenden Details hinein so plastisch geschildert, dass der Leser die spannungsgeladene Atmosphäre geradezu körperlich spürt.

Oder denken wir an den grandiosen Roman Rot, die Geschichte des Grabredners Thomas Linde. Was es bedeutet, wenn der Trost, den die Religion zu bieten hat, nicht mehr zur Verfügung steht, wenn statt dessen die erloschene Biografie nur noch aus sich heraus verstanden und sinnvoll gedeutet werden muss, das zeigt Uwe Timm an dem sorgfältig recherchierten Beruf des Grabredners so eindrucksvoll, dass wir die seelische Not dieses Thomas Linde ganz nah empfinden: Die Not besteht darin, dass er immer von neuem am Grabesrand steht und einem fremden Leben rückwirkend Sinn verleihen muss, was natürlich auch die Frage nach dem Sinn des eigenen Lebens aufwirft, desjenigen von Thomas Linde und auch desjenigen, der diese Geschichte liest.

An diesen beiden Beispielen können wir sehen, wie realitätsgesättigt Uwe Timms Bücher sind, voll von lebendigen Menschen und ihren Geschichten. Das allein aber wäre noch kein hinreichender Grund, ihn auszuzeichnen. Das Entscheidende ist, dass es und wie es ihm gelingt, daraus Literatur als Kunst zu machen.

Da ist zunächst die Sprache. Dass sie genau ist, wie Kritiker gerne lobend sagen, wäre ungenau gesagt. Sie ist in höchstem Maße angemessen, und das heißt, dass sie ganz im Dienst dessen steht, was erzählt werden soll. Ich selber empfinde manchmal allergische Reaktionen bei Schriftstellern, die gewissermaßen überbegabt sind, deren Sprache sich ständig nach vorne drängt, als ob sie wegen ihrer köstlichen Formulierungen bewundert werden wollte. Nicht selten sind es übrigens Autoren, die im Grunde nichts zu sagen haben, das aber sehr schön auszudrücken wissen. Bei Uwe Timm hingegen wird die Sprache insofern unsichtbar, als sie weder unterhalb noch oberhalb ihres Gegenstands bleibt, sondern in ihm aufgeht und ihn dadurch zur Anschaulichkeit bringt.

Was nun aber ausschlaggebend hinzukommt, ist die Form, die Uwe Timm für jedes Buch neu erfindet. Lassen Sie mich das an dem Roman Rot erläutern. Thomas Linde hat neben seinem Job als Beerdigungsredner auch den eines Jazzkritikers im Rundfunk, so dass Heroen wie Wynton Marsalis oder Charly Parker sein Leben begleiten. Einem Jazzmusiker gleich nutzt Uwe Timm die fragende, tröstende Rhetorik der Laudatio am Grabesrand zur freien, ausschweifenden, sich verlierenden und wiederfindenden Improvisation. So kann er unmerklich zwischen den erzählten Zeiten hin- und herwechseln und aus der klagend-pathetischen Tonlage hinüber in die hymnische und auch in die komische.

Sie erinnern sich: Thomas Linde, ehemals Achtundsechziger, gerät durch einen merkwürdigen Zufall in die Lage, auf einen Genossen aus früheren Tagen die Grabrede halten zu müssen. Bevor es dazu kommt, wird er Opfer eines Verkehrsunfalls. Bei Rot geht er über die Kreuzung. Die Farbe der Revolution und der Liebe, die sein alles in allem ebenso mittelmäßiges wie menschliches und menschenmögliches Leben bestimmt hat, wird ihm zum Verhängnis.

In dieser einzigen Sekunde, die zwischen dem Zusammenprall mit einem Auto und dem letzten Atemzug vergeht, spielt sich der Roman ab. Die Grabrede, deren Vorbereitung Thomas bis an den Rand seiner Kräfte und bis auf den Grund seiner Existenz geführt hat, findet in Wirklichkeit nicht mehr statt, wohl aber in dem ein ganzes Leben, eine ganze Zeit umfassenden Augenblick des eigenen Sterbens – als letztes Zeugnis eines Geistes, der die Fesseln der Kontingenz abstreift und sich zu den Engeln begibt. Der Roman ist die ungehaltene Grabrede.

Das Erstaunlichste an diesem erstaunlichen Buch ist die Form, die aus diesem Grundeinfall folgt. Die schmerzliche, am Ende euphorische Vergegenwärtigung vergangener Zeit, wie sie vielleicht auch Fieberkranken vertraut ist, kennt ja nicht das Vorher und Nachher, ihr ist alles zugleich präsent, so dass auch die ruckelnde Rückblende, die in solchen Fällen probat scheint, gar nicht angewendet werden muss.

Thomas Lindes Engel, der hier, außergewöhnlicher Umstande wegen, als Erzähler einspringt, bedient sich über weite Strecken der Form der Grabrede, sowohl der wirklichen, wenn es um die Klienten des realen Thomas Linde geht, wie auch der imaginierten, virtuos variierten und konterkarierten Grabrede, die sich an wechselnde Zuhörer richtet: an die jetzige Geliebte, an die Mutter, an die frühere Gattin, an die Freunde und schließlich an die imaginäre Trauergemeinde der Leser.

Weshalb hätten wir Leser Anlass zur Trauer? Weil hier Ideale, die der Realität nicht Stand hielten, beigesetzt werden. Und konkreter: weil eingehend und anrührend geschilderte Biografien als Subjekte und zugleich Objekte vergehender Zeit erscheinen, dem Leben verschworen, dem Tod geweiht – wie wir alle.

Ein trauriger Roman also. Und doch, das macht seine Wirkung aus, von seltsamer Heiterkeit erfüllt. Zwar vernehmen wir den rhetorischen Refrain „Verehrte Trauergemeinde …“, der manchmal pathetisch, zumeist ironisch den Cantus firmus abgibt, und daneben den zweiten Refrain „Ich verliere mich …“, der den doppelten Klang hat, den des Faselns wie den des Verlöschens; zugleich aber sind wir Ohrenzeugen eines vielstimmig fabulierenden Erzählens und tief reichenden Erinnerns, das die verlorene, vergessene und doch auch wirkungsmächtige Zeit in die Gegenwart holt.

Und anspruchsvoller kann ein Roman kaum sein: Er bündelt die jüngsten dreißig Jahre deutscher Geschichte, er handelt vom Scheitern der großen Utopien, von Revolution und Resignation, er stellt die Frage nach dem Sinn des Lebens, er erzählt von Liebe und Tod. Thomas erlebt im Augenblick des Sterbens sein ganzes Leben noch einmal. Wir werden Zeugen seiner Geschichte und spüren, dass es unsere Geschichte ist.

Das ist wirklich gekonnt, und Uwe Timm kann es, weil er keine Antworten hat, sondern nach ihnen sucht. Er stellt nicht abstrakt irgendwelche Fragen, sondern er stellt sich den Fragen, die ihm nahegehen. Das Ende des Romans Rot zum Beispiel öffnet unweigerlich die Tür zur Gottesfrage, jener also, der Thomas Linde zielstrebig ausweicht. Auch Uwe Timm, das gehört zu seiner Eigenart, beantwortet sie nicht. Er stellt sie, indem er sie so deutlich ausspart, dass sich der Raum für eine negative Theologie bildet. Ihn zu füllen, ist Sache des Lesers.

Ich habe eingangs gesagt, dass ich Uwe Timms Auszeichnung aus zwei Gründen begrüße, aus einem literarischen und einem literaturpolitischen Grund. Ich hoffe, Sie haben bemerkt, dass meine bisherigen Ausführungen den Versuch darstellten, etwas über die ästhetische Eigenart von Uwe Timms Werk zu sagen. Ich will nun, bevor ich zum Schluss komme, etwas über den literaturpolitischen Grund sagen.

Uwe Timm ist einer der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller, nicht allein wegen seines populären Kinderbuchs Rennschwein Rudi Rüssel, sondern vor allem wegen seiner viel gelesenen Romane zum Thema Kolonialismus und Dritte Welt, wie Morenga oder Der Schlangenbaum, wegen seiner Bücher über die Geschichte und Erfahrung unserer Generation wie Heißer Sommer oder Kerbels Flucht, und wegen seiner wunderbaren Novelle Die Entdeckung der Currywurst. Aber trotz oder wegen seiner Beliebtheit liegt der Schatten eines Verdachts auf ihm, was sich etwa darin ausdrückt, dass er offenbar nicht zum engeren Kreis derer gerechnet wird, die für den Büchnerpreis in Frage kämen.

Woran liegt das? Vermutlich daran, dass er einige Qualitäten nicht besitzt, die in unserem literarkritischen Comment hoch veranschlagt werden. Er neigt weder zur raunenden Dunkelheit noch zum spekulativ Verstiegenen, weder zum literarisch Artifiziellen noch zum subjektivistischen Exzess. Er ist, im Gegenteil, brennend an „Wirklichkeit“ interessiert, an Sachverhalten, Lebensweisen, gesellschaftlichen Vorgängen, und er liebt die Menschen und ihre Geschichten.

Uwe Timms Neugierde ist unstillbar. Ich habe das selber schon erlebt. Er sammelt immerzu Geschichten, er findet Dinge merkwürdig, auf die ich gar nicht achte. Und sitzen wir einmal beieinander, was im vergangenen Jahr zufällig geschah – wir trafen uns nicht verabredet und ausgerechnet in St. Louis, und dabei hatten wir ein seltsames Erlebnis, von dem ich fast glaube, dass es in einer seiner nächsten Geschichten auftauchen wird, verändert natürlich –, wenn wir uns also treffen, dann erzählt er gerne von diesen absurden oder komischen oder traurigen Dingen. Noch lieber aber hört er zu, gewissermaßen mit aufgerissenem Mund, und ich habe an mir selber bemerkt, wie ich angesichts dieser kindlichen Neugier mehr erzählt habe, als ich eigentlich wollte. Nicht, dass mir das peinlich gewesen wäre, es ging ja nicht um intime Dinge. Mir fiel nur auf, dass dieses Zuhören in mir einen Redefluss erzeugte, der das, was ich nur nebenbei hatte erzählen wollen, erst wirklich anschaulich und irgendwie bedeutungsvoll machte.

Ich bin sicher, dass Uwe Timm sich auch anderen Menschen gegenüber so verhält, und das ist der Grund, weshalb er so viel erfährt. Er ist, weil er ein Geschichtenerzähler ist, auch ein Geschichtensammler. Und wenn er das, was er gesammelt hat, in eine neue literarische Kunstform gebracht hat, dann will er auch, dass seine Zuhörer ihm zuhören. Er denkt an die Leser. Sie sollen seine Bücher gerne lesen, sie sollen etwas daraus lernen, er möchte ihnen etwas sagen, sie an etwas erinnern.

Das sind sozusagen amerikanische Tugenden. Sie gelten hier nicht übermäßig viel, in dieser Szenerie aus Tiefsinn und Pop. Wer zum Beispiel die deutschsprachigen Neuerscheinungen dieses Herbstes betrachtet, der stößt, von schönen Ausnahmen abgesehen, auf einen Mangel, der eine gewisse Tradition hat, auf eine Literatur, die seltsam wirklichkeitslos scheint, die entweder sehr stark von einer persönlichen, manchmal nur privaten Obsession bestimmt ist, oder aber von einem artistischen Kalkül, das dann mehr oder weniger konsequent durchexerziert wird. Das sind nicht selten Bücher, über die man als Rezensent gut schreiben kann, weil sie Anlass geben, die Deutungshoheit des Kritikers glanzvoll unter Beweis zu stellen. Solche Bücher sind eminent rezensierbar, ich spreche hier aus eigener Erfahrung, während Bücher wie die von Uwe Timm den Kritiker gar nicht unbedingt benötigen. Sie erklären sich von selber, man kann sie ohne Gebrauchsanweisung lesen.

Vielleicht ist das der Grund für den vorhin erwähnten Verdacht. Ein Werk, das den Beistand der Kritik ganz offensichtlich nicht benötigt, hat es bisweilen schwer, von der Kritik wirklich akzeptiert zu werden. Es erscheint leichtgewichtig, weil es nicht das Schwergewicht des selbstreferenziellen Tiefsinns vor sich her trägt. Die literaturpolitische Bedeutung dieser Auszeichnung liegt eben darin: Dass wir nun, nachdem wir das Schwarzbrot der Bedenklichkeiten lange genug gegessen haben, eher bereit sind, die besondere Qualität von Uwe Timm zu würdigen, diese fast schon ideale Verbindung von Weisheit und Witz, von Unterhaltung und Bedeutung.

Ich will aber nicht, um Uwe Timm zu loben, andere herabsetzen, schon gar nicht meinen eigenen Berufsstand. Ich will nur der Stadt München und ihrem Kulturreferat dazu gratulieren, dass sie einen so preiswürdigen Preisträger des Münchner Literaturpreises gefunden hat. Und vor allem mochte ich Dir, lieber Uwe, herzlich gratulieren und alles Gute wünschen.



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