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Ulrich Greiner

Der Wiedergänger
Uwe Timms Roman Rot (2001)

Thomas Linde, 54 Jahre alt, sitzt mit seiner 21 Jahre jüngeren Freundin in einem Restaurant. Einmal fällt sein Blick auf den Spiegel neben dem Tisch, er sieht einen Mann und fragt sich: „Wer ist das, der ältere Herr im Spiegel da?“ Ein andermal, als sich Iris vor seinen Augen entkleidet, denkt er: „Du wirst nie wieder mit einer so jungen Frau zusammmensein.“ Und er sagt sich: „Das Verstoßenwerden wird sein wie die Vertreibung aus dem Paradies, und all deine Bemühungen um Distanz, um Ironie sind nur die verzweifelten Versuche, diesen Schmerz, der kommen wird, möglichst erträglich zu machen.“

Ein Mann wird älter. Eher als sein junge Freundin kann er sich das Ende vorstellen. Es kann es, weil er das Ende einer Affäre – sei es das Ende einer Liebe oder einer politischen, moralischen Überzeugung – schon häufiger erfahren hat. Weshalb liebt ihn Iris? Vielleicht nur, so denkt er manchmal, weil er älter ist, mehr erlebt hat und Dinge aus einer anderen Zeit, die sie interessant findet, zu erzählen weiß.

Einmal aber, am Ende eines freundlichen Disputs über seinen Wunsch, sie möge ihre schönen Beine in kurzen Röcken zeigen, sagt sie zu ihm: „Man merkt einfach, dass du aus einer anderen Zeit kommst“, und er antwortet: „Ja doch, ich bin ein Wiedergänger.“ Wiedergänger sind nach alter Überzeugung Tote, deren unerlöste Seelen keine Ruhe finden und in der Gestalt von Weißen Frauen oder Werwölfen unter den Lebenden umgehen.

Uwe Timm: Rot. Kürzer geht es nicht. Und anspruchsvoller kann ein Roman kaum sein: Er bündelt die jüngsten dreißig Jahre deutscher Geschichte, er handelt vom Scheitern der großen Utopien, von Revolution und Resignation, er stellt die Frage nach dem Sinn des Lebens, er erzählt von Liebe und Tod. Thomas, alt gewordener Achtundsechziger, erlebt im Augenblick des Sterbens sein ganzes Leben noch einmal. Wir werden Zeugen seiner Geschichte und spüren, dass es unsere Geschichte war.

Und am Ende zeigt sich: Dies ist Uwe Timms bester Roman. Ebenso verblüffend wie überzeugend in seiner Form, reich in Anschauung und Reflexion ist auch dieses Buch ein Wiedergänger. In ihm erwacht noch einmal zum Leben, was längst abgesunkenes, abgestorbenes Menschen- und Gedankengut ist. Etwas ist vorbei, ist Geschichte, aber es kann nicht ruhen, weil die Rechnungen offen, die Hoffnungen unerfüllt und die Toten nicht tot sind. Der Streit um Joschka Fischers linksradikale Vergangenheit hatte ebenfalls etwas Wiedergängerisches. Die Gegner verlangten, dem politischen Glauben von damals aufs Neue abzuschwören. Dabei ist dieser Glaube längst tot, aber tot wie ein Werwolf, der auf dem Friedhof der Utopien umgeht und im Kampf gegen die Globalisierungsfolgen wieder sein Haupt erhebt.

Mit dem Tod ist der Beerdigungsredner Thomas Linde beruflich vertraut. Zu ihm kommen alle, die an Gott nicht glauben. Die Aufgabe, Trost spenden zu müssen, ohne auf ein Jenseits verweisen zu können, kostet ihn viel Kraft. Der Tod ist sinnlos, anders kann er ihn nicht denken. Also sucht er nach dem Sinn jenes besonderen Lebens, das zu Ende ging, recherchiert die näheren Umstände, spricht mit den Angehörigen und sucht das Eigentümliche. Er findet viele merkwürdige Geschichten, traurige, komische, darunter die einer alten Frau, die, nachdem ihr Mann gestorben war, die alten Möbel rausschmiss und sich neu mit Ikea einrichtete. Zwei Jahre noch saß sie stolz und zufrieden in ihrer Wohnung, bevor auch sie starb.

Ist das der Beweis für ein erfülltes Leben? Thomas weiß es nicht, aber sein Beruf bringt es mit sich, die freundlichen, lobenswerten Seiten einer Biografie betonen zu müssen. „Machen Sie es nett“, sagt der Bestattungsunternehmer oft, wenn er ihm einen neuen Auftrag gibt. Er macht es nett, aber er leidet darunter, dass die Grabrede unter allen literarischen Gattungen die unaufrichtigste ist. Er leidet auch deshalb, weil er, der ehemalige Aktivist der Studentenbewegung, einst an Wahrheit und Wahrhaftigkeit geglaubt hat (und insgeheim immer noch glaubt). Nunmehr ist sein Horizont geschrumpft, eine altersmilde Mischung aus Weisheit und Resignation hat sich seiner bemächtigt.

Zwei Zufälle bringen das selbstgenügsame Leben des Thomas Linde erst in Unordnung und dann an sein frühes Ende. Der eine ist die Begegnung mit Iris, Freundin einer jung Verstorbenen, auf die er die Grabrede hielt. Jäh packt ihn eine Leidenschaft, von der Thomas Linde, der späte Einsiedler, der eine Ehe, mehrere Leben und viele Affären hinter sich hat, niemals geglaubt hätte, dass sie ihn noch einmal ergriffe – zumal er alles tut, um „in Würde alt zu werden“, wie er einmal sagt; und nun, als er sich nach der ersten Begegnung im Spiegel betrachtet, beschließt, eine Feuchtigkeitscreme zu kaufen. „Kindisch, dachte ich, lächerlich. Aber es war mir egal.“

Der zweite Zufall zwingt ihn zur Konfrontation mit sich selber. Ein gewisser Lüders hat ihn testamentarisch zum Grabredner bestellt. Er recherchiert die Geschichte des gleichaltrigen Mannes und findet in ihm nach manchen Mühen den Genossen Aschenberger aus früheren Tagen. Unter den nachgelassenen Papieren in einer Kellerwohnung, vollgestopft mit Schriften von Marx bis Marcuse, findet er zahlreiche Notizen, etwa diese: „Skins, die Obdachlose und Behinderte totprügeln, setzen auf eigene Fast um, was das System zwar nicht ausspricht, aber aus seiner Logik verlangt, alles Überflüssige, Unrentable zu tilgen.“

Zu diesem Zeitpunkt ist der Leser (genau wie die neugierige Zuhörerin Iris) so weit vorgedrungen in die Archäologie einer verlorenen Zeit, dass er diesen Satz, trotz seines altmodischen Sounds, für gar nicht so blöde hält. In einiger Hinsicht stimmt er ja. Also erscheint auch Aschenberger, der die Siegessäule am Tag des Umzugs der Bonner Regierung nach Berlin in die Luft sprengen wollte, als letzter Spross einer verdrängten, verpönten und ohnmächtigen Protestkultur.

„Ein Grottenolm der Revolution“, sagt Thomas – von Aschenberger offenbar dazu ausersehen, das vorbereitete Attentat zu vollenden. Aber der Spott kommt nicht aus ganzem Herzen. Allzu sehr erkennt er in dem früheren Genossen einen Bruder im Geiste, konsequenter allerdings als er selber. Unruhig wandert er, den Plastiksprengstoff in der Aktentasche, durch Berlin und sieht sich doppelt bedroht: Einerseits durch die Todesbotschaft, die ihn an verratene Ziele gemahnt und überfordert; andererseits durch die Lebensbotschaft, für die Iris steht und die ihn ebenfalls überfordert.

Vorwärts und nicht vergessen, lautet der Refrain. Thomas kann weder vorwärts, noch kann er vergessen. Diese Tragik findet keine Entsprechung in seinem Tod. Ganz banal wird er Opfer eines Verkehrsunfalls. Bei Rot geht er über die Kreuzung. Die Farbe der Revolution und der Liebe, die sein alles in allem ebenso mittelmäßiges wie menschliches und menschenmögliches Leben bestimmt hat, wird ihm zum Verhängnis.

In dieser einzigen Sekunde, die zwischen dem Zusammenprall mit einem Auto und dem letzten Atemzug vergeht, spielt sich der Roman ab. Die Grabrede auf Aschenberger, deren Vorbereitung Thomas bis an den Rand seiner Kräfte und bis auf den Grund seiner Existenz geführt hat, findet in Wirklichkeit nicht mehr statt, wohl aber in dem ein ganzes Leben, eine ganze Zeit umfassenden Augenblick des eigenen Sterbens – als letztes Zeugnis eines Geistes, der die Fesseln der Kontingenz abstreift und sich zu den Engeln begibt. Rot ist die ungehaltene Grabrede.

Das Erstaunlichste an diesem erstaunlichen Roman ist die Form, die aus diesem Grundeinfall folgt. Die schmerzliche, am Ende euphorische Vergegenwärtigung vergangener Zeit (wie sie vielleicht auch Fieberkranken vertraut ist) kennt ja nicht das Vorher und Nachher, ihr ist alles zugleich präsent, so dass auch die gewissermaßen ruckelnde Rückblende, die in solchen Fällen probat scheint, gar nicht angewendet werden muss. Thomas Lindes Engel, der hier, außergewöhnlicher Umstande wegen, als Erzähler einspringt, bedient sich über weite Strecken der Form der Grabrede, sowohl der wirklichen, wenn es um die Klienten des realen Thomas Linde geht, wie auch der imaginierten, virtuos variierten und konterkarierten Grabrede, die sich an wechselnde Zuhörer richtet: an Iris, an die Mutter, an die frühere Gattin, an die Freunde und schließlich an die imaginäre Trauergemeinde der Leser.

Weshalb hätten wir Leser Anlass zur Trauer? Weil hier Ideale, die der Realität nicht Stand hielten, beigesetzt werden. Und konkreter: weil eingehend und anrührend geschilderte Biografien (die von Thomas, Aschenbrenner, Iris, ihrem Ehemann Ben und einigen anderen) als Subjekte und zugleich Objekte vergehender Zeit erscheinen, dem Leben verschworen, dem Tod geweiht wie wir alle.

Ein trauriger Roman also. Und doch, das macht seine Wirkung aus, von seltsamer Heiterkeit erfüllt. Zwar vernehmen wir den rhetorischen Refrain „Verehrte Trauergemeinde …“, der manchmal pathetisch, zumeist ironisch den Cantus firmus abgibt, und daneben den zweiten Refrain „Ich verliere mich …“, der den doppelten Klang hat, den des Faselns wie den des Verlöschens; zugleich aber sind wir Ohrenzeugen eines vielstimmig fabulierenden Erzählens und tief reichenden Erinnerns, das die verlorene, vergessene und doch auch wirkungsmächtige Zeit in die Gegenwart holt.

Thomas hat neben seinem Job als Beerdigungsredner auch den eines Jazzkritikers im Rundfunk, so dass Heroen wie Wynton Marsalis oder Charly Parker sein Leben begleiten. Einem Jazzmusiker gleich nutzt Uwe Timm die fragende, tröstende Rhetorik der Laudatio am Grabesrand zur freien, ausschweifenden, sich verlierenden und wiederfindenden Improvisation. So kann er unmerklich zwischen den erzählten Zeiten hin- und herwechseln und aus der klagend-pathetischen Tonlage hinüber in die hymnische und auch in die komische.

Zum dritten Mal hat jetzt Uwe Timm das Thema 1968 in einem Roman dargestellt. Während er in seinem allerersten Roman Heißer Sommer (1974) vom Zauber des Anfangs, des Aufbruchs erzählte und in dem Roman Kerbels Flucht (1980) vom Absturz in die Depression oder den Terrorismus oder den Opportunismus, gelingt ihm hier der Zusammenklang aller Parolen, die Zusammenschau aller Biografien. Wahr ist allerdings, dass er sich dabei manchmal verliert, verzettelt, denn allzu groß (am deutlichsten sieht man das in seinem missglückten Roman Kopfjäger von 1991) ist seine Liebe zum Anekdotischen. Der Spannungsbogen wirkt zuweilen überdehnt

Und doch liest man die Geschichte mit Lust und Anspannung bis zu jenem Ende, das von Anbeginn an feststeht. Dieses Ende öffnet unweigerlich die Tür zur Gottesfrage, jener also, der Thomas Linde zielstrebig ausweicht. Auch Uwe Timm, das gehört zu seiner Eigenart, beantwortet sie nicht. Er stellt sie, indem er sie so deutlich ausspart, dass sich der Raum für eine negative Theologie bildet. Ihn zu füllen, ist Sache des Lesers.

Uwe Timm ist einer der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller, nicht allein wegen seines populären Kinderbuchs Rennschwein Rudi Rüssel, sondern vor allem wegen seiner viel gelesenen Romane zum Thema Kolonialismus und Dritte Welt (Morenga, 1978, oder Der Schlangenbaum, 1986) und wegen seiner wunderbaren Novelle Die Entdeckung der Currywurst (1993). Aber trotz (oder wegen?) seiner Beliebtheit bei Kritikern wie bei Lesern liegt der Schatten eines Verdachts auf ihm, was sich etwa darin ausdrückt, dass er offenbar nicht zum engeren Kreis derer gerechnet wird, die für den Büchnerpreis in Frage kämen.

Woran liegt das? Vermutlich daran, dass er einige Qualitäten nicht besitzt, die in unserem literarkritischen Comment hoch veranschlagt werden. Er neigt weder zur raunenden Dunkelheit noch zum spekulativ Verstiegenen, weder zum literarisch Artifiziellen noch zum subjektivistischen Exzess. Er ist, im Gegenteil, brennend an „Wirklichkeit“ interessiert, an Sachverhalten, Lebensweisen, gesellschaftlichen Vorgängen, und er liebt die Menschen und ihre Geschichten. Seine Neugierde ist unstillbar. Und er denkt an die Leser. Sie sollen seine Bücher gerne lesen, sie sollen etwas daraus lernen, er möchte ihnen etwas sagen, sie an etwas erinnern. So wie hier, in Rot, an die Geschichte einer Generation, die alles gewollt und manches bewirkt, manches verwirkt hat.

Das sind gewissermaßen amerikanische Tugenden. Sie gelten hier nicht übermäßig viel, in dieser Szenerie aus Tiefsinn und Pop, Sebald und Goetz. Vermutlich trifft es zu, dass die ganz große Literatur nicht ohne den „schmetternden Witz der Verzweiflung“ (Novalis) entsteht. Aber reden wir denn von Kafka, Melville, Joyce? Und würden wir die dauernd haben und ertragen wollen? Und was den Büchnerpreis betrifft: Unter denen, die ihn gekriegt haben, sind nicht wenige, die Uwe Timm und seinem Werk nicht das Wasser reichen können.


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