Home - Autoren der Gegenwart - deutschsprachige - Uwe Timm - Uwe Timms Roman "Halbschatten"


 

 

Ulrich Greiner

Ein deutsches Requiem
Uwe Timms Roman Halbschatten (2008)


Die Kunst des Erzählens ist doch nicht darauf beschränkt, dass einer sich hinstellt und der Reihe nach auspackt, was ihm eingefallen ist. Wer spricht denn da? Nicht immer nur der Erzähler, der subjektiv beschränkte oder der allwissende, es kann auch ein ganzer Chor von Stimmen sein, wie er sich in diesem ungewöhnlichen, ebenso bestrickenden wie bedrückenden Roman von Uwe Timm Gehör verschafft. Es sind die Toten, die hier sprechen, und genau genommen handelt es sich um ein Requiem, überstrahlt von einer Liebesgeschichte – einer vergeblichen. Halbschatten ist ein Roman, der auf kunstvoll musikalische Weise das Historische mit dem Poetischen verschränkt, indem er das Schlachtfeld der deutschen Geschichte aufsucht, den Invalidenfriedhof in Berlin.

Der Erzähler, begleitet von einem Stadtführer, der sich immer mehr als der graue Wächter dieses Schattenreichs entpuppt, lässt sich die Gräber zeigen, und er hört die Stimmen der Toten. Eine davon ist die einer Frau, der einzigen, die auf dem Invalidenfriedhof liegt. Es ist Marga von Etzdorf, die erste deutsche Copilotin. Am 28. Mai 1933 beging sie nach einer missglückten Landung in Syrien Selbstmord. Warum? Uwe Timm erfindet zu dieser authentischen Figur eine zweite hinzu, den Diplomaten und Flieger Christian von Dahlem. Er ist einer jener Honoratioren, von denen sie nach ihrem bravourösen Weltrekord-Flug Berlin-Tokio in Ehren empfangen wird, und sie verliebt sich ihn. Da kein Hotelzimmer aufzutreiben ist, bietet er ihr ein Nachtlager in seiner japanischen Wohnung und lässt durch den Raum ein großes Tuch spannen, wo sie sich getrennt auf Schlafmatten lagern. Sie können einander nicht sehen, von ihren Schatten abgesehen, die das entfernte Licht auf das Laken wirft. Aber sie können sich hören, und sie werden miteinander fast die ganze Nacht reden, werden sich dabei näher gekommen, als wenn sie zusammen ins Bett gegangen wären. Eine so seltsame, so keusche Liebesgeschichte hat man selten gelesen, sie ist das ruhende Auge im Wirbel der biografischen Fragmente, von denen das Buch berichtet.

Daneben, darunter aber hören wir andere Stimmen, etwa die eines gewissen Anton Miller, Schauspieler, Truppenalleinunterhalter und ein Mann der Affären, der gern mit der Etzdorf eine gehabt hätte und deshalb voller Argwohn verfolgt, was mit ihr und diesem Dahlem geschieht. Später gelingt es ihm, die frühere Geliebte des Gestapo-Chefs Reinhard Heydrich zu erobern. Dass sie es war, erfährt er erst danach, und es wird ihm kalt ums Herz. Auch Heydrich liegt auf dem Friedhof, und nun sind wir mittendrin in jener Geschichte, von der die Etzdorf noch nichts wissen konnte, jener Katastrophe, die erst mit dem Untergang Berlins vorläufig endete, aber sie ging ja weiter mit dem Kalten Krieg und mit der Mauer, die mitten durch den Friedhof verlief.

So erleben wir, wie das Schicksal des Individuums gekettet ist an das Rad der Geschichte, hören das Stimmengewirr der Täter und der oftmals namenlosen Opfer, die Zeitläufte werden hier zu einer einzigen Allgegenwart, und das Nacheinander bündelt sich im Gang des Erzählers durch die Grabstätten. Immer wieder aber heben sich die Stimmen der jugendlichen Fliegerin und ihres getreulichen Bebachters Miller aus dem Chor heraus, und wir sind dabei, wenn sie mit ihrem geliebten Flugzeug durch die Nächte und die Wolken fliegt, wie sie auf Äckern und Wiesen landet und knapp dem Tod entkommt. Ihre Liebe bleibt am Ende unerwidert, aber sie gibt nicht auf, lässt sich von Dahlem zu einem Spionage-Flug verleiten, der sie aus ihrer Geldnot befreien könnte, landet wie eine Anfängerin mit dem Wind und beschädigt das Flugzeug. In den Akten ist vermerkt, wie man sie in ihrem Zimmer fand, zu Tode gekommen durch zwei Schüsse aus einer über die Grenze geschmuggelten Maschinenpistole, und Timm legt nahe, dass sie sich umbrachte nicht nur aus Scham über ihren Flugfehler, sondern auch aus Furcht vor Entdeckung und wegen ihrer unglücklichen Liebe.

Wieder aber wird ihre Stimme schwächer, die anderen Toten, die preußischen Generäle, die Nazi-Schergen, die im Endkampf umgekommenen Soldaten, sie alle rufen dazwischen, 25 verschiedene Stimmen sind es, die der Komponist und Dirigent Uwe Timm zu einem grandiosen Choral vereinigt, der manchmal wirkt wie frei improvisiert, dann wieder klingt wie eine sorgfältig gebaute Fuge.

Man spricht zuweilen von den Schatten der Vergangenheit. Hier werden sie lebendig, in jenem Reich, das zwischen Geschichte und Fiktion, zwischen Hell und Dunkel liegt, und wer sich erst einmal an diese schöne, zunächst verwirrende Erzählform gewöhnt hat, wird den Roman mit Gewinn ein zweites Mal lesen. Die Kunst des Erzählens ist ja nicht darauf beschränkt, dass einer sich hinstellt und der Reihe nach auspackt, was ihm eingefallen ist, sie kann, wie Timm zeigt, viel mehr.

Uwe Timm: Halbschatten. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008

Erschienen in der ZEIT

zum Seitenbeginn

blog comments powered by Disqus