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Ulrich Greiner Alberto Vigevanis Erzählung Sommer am See ist von einer Schönheit, die zu Herzen geht. Man liest sie mit jenem Glücksgefühl, das der Trauer benachbart ist, der Trauer über die vergehende Zeit und der Erinnerung an die Tage der Unschuld. Die kleine Geschichte ist ein großes Lied auf den Abschied von der Kindheit. Der Verlust der selbstvergessenen Spiele, der rauschhaften Augenblicke, die ewig zu währen schienen, weil es kein Vorher gab und kein Nachher, ist auch ein Gewinn – ein schmerzlicher. Erwachsen zu werden ist mit Reflexivität verbunden, mit Brechungen und Spaltungen, mit doppeltem Spiel und mit Verrat. Davon handelt die 1958 erschienene und jetzt von Marianne Schneider perfekt ins Deutsche gebrachte Erzählung. Wahrhaft eine Entdeckung. Giacomo ist »ein dicklicher Junge mit einem Lockenkopf und ausdrucksvollen, unruhigen Augen«, 14 Jahre alt, der Jüngste von drei Geschwistern, ein Träumer, der sich in schwülstige Romane flüchtet und schlechte Noten nach Hause bringt, ein Einzelgänger, den die Älteren gutmütig verspotten. Seinen Vater liebt er, und er mag es, beim Spaziergang an der Hand genommen zu werden: »Er hielt seine Hand wie früher, als er noch ein Kind war und ihn oft aufs Gericht begleitet hatte, voll Stolz auf seine aufrechte und vornehme Gestalt und das Gesicht, dessen Strenge von der Schwermut der dunklen, tiefen Augen gemildert wurde.« Gern würde er ihn all das fragen, was ihn jetzt quält und was er nicht versteht, aber er fürchtet, es nicht ausdrücken zu können. Die offenbar gut situierte Familie (der Vater ist Anwalt) lebt in Mailand. Auch dort ist der Winter trübe, und die Schulstunden ziehen sich endlos. Außerhalb der Träume von Seefahrt und Abenteuer hat er wenig, was ihn freut. Die kindlichen Balgereien mit seiner Schwester Clara etwa, die ihn immer stärker erregen. Aber Clara geht ihre eigenen Wege. So bleiben als Hoffnung nur die Ferien, »Lichtfenster, die weit in die Zukunft hinein offen standen, am Horizont der vielen Jahre, die er noch mühselig hochzusteigen hatte, bis er ein Mann sein würde«. In diesem Sommer (wir befinden uns in den dreißiger Jahren) mietet die Familie ein Haus am Comer See. Zwischen Bäumen lässt der Vater Seile anbringen, damit sich die Söhne ertüchtigen. »Giacomo sah die Ringe und die hellen Seile aus Manilahanf im Gras liegen, und es wurde ihm ein wenig übel dabei.« Der Vater turnt vor, dann der Bruder. Als Giacomo an der Reihe ist, fällt er zu Boden und verletzt sich. Das Hausmädchen versorgt ihn. »Während sie sich hinunterbeugte, um ihn mit Alkohol abzutupfen, sah er den Ansatz ihres Busens. Er rundete sich fest, so hell, wo er sich zu teilen begann, im Kontrast zu ihrem leicht gebräunten Hals, dass er seine Hände abstützen musste, um nicht zu zittern.« Während die Älteren in Strandcafés ihre Affären pflegen, der Vater ins Büro zurückgekehrt ist und die Mutter mit Migräne im Bett liegt, übt Giacomo die vom Vater verordneten Aufgaben. »Der Spiegel in dem schweren vergoldeten Rahmen dehnte sich unermesslich weit, die Fliegen strichen über ihn wie Möwen über eine Wasserfläche; die Heftseite schimmerte weiß wie ein ausgetrocknetes Flussbett, aus dem dürr und gewunden seine Schriftzüge hervorstarrten und wie Dornengestrüpp aussahen.« Draußen hört er die Stimme des Hausmädchens. Er geht hinaus und sieht, wie sie im Gemüsebeet arbeitet. Beim Anblick ihrer Kniekehlen verspürt er eine ihm unheimliche Erregung, den widerwärtigen Schweißgeruch seiner selbst. »Zitternd verließ er den Garten, unfähig zu verstehen, warum er von ihr wegging, aber er konnte nicht mehr in ihrer Nähe bleiben, ohne sie zu umarmen oder zu weinen.« Später, als er nicht schlafen kann, geht er hinauf in ihr Dachzimmer. Sie lässt ihn zu sich, erlaubt ihm, ihre Brüste zu berühren. In jener Nacht (obgleich, modern gesprochen, nichts passiert) verliert Giacomo seine Unschuld. Was das heißt, entfaltet Vigevani in dieser meisterhaften, mit größter Diskretion geschilderten Szene. In einem bestimmten Augenblick sieht der Junge wie von außen, was geschieht, und die ihn selbst erschreckende Distanz verändert seinen Blick auf das Mädchen. Plötzlich ergreift ihn eine Kälte gegen jene, die er eben noch begehrt hat. Das ist der erste Verrat. Der zweite und endgültige ist komplizierter. Bevor wir ihn schildern, muss gesagt werden, dass Vigevani diese subtilen Vorgänge nicht psychologisch aufbereitet, sondern hervorgehen lässt aus einer Atmosphäre des zeitenthobenen Müßiggangs. Dadurch erst gewinnen sie ihre Prägnanz. Er bettet sie ein in betörende Beschreibungen des Sommers und des Sees, des Lichts und des Wassers. »Es war von kleinen Wellen bewegt, die wie Metallöffel glänzten.« Wenn es heißt: »Die ersten Ferientage folgten rasch aufeinander wie ein Fieber, das die Wangen erhitzt und dessen Abklingen ein Gefühl der Schläfrigkeit zurücklässt«, so ergreift auch den Leser das Gefühl großer Verlangsamung, und er folgt dem einsamen Giacomo, der sein selbst gebasteltes Segelschiff im Strandbad ausprobiert. »Er betrachtete das unermüdliche Feilen des Wassers an den grauen Kieselsteinen auf dem Grund.« Er betrachtet aber auch eine Frau, die am Strand liegt: »Wie sie in einer weichen und raschen Gebärde den Bademantel vom Sand hochnahm und mit leichter Trägheit an sich zog, folgte Giacomo atemlos ihrer Gestalt mit den schlanken gedrechselten Beinen und der schmalen Taille über den sich nur leicht schwingenden Hüften.« Die Dame, eine Engländerin, hat ihren zehnjährigen Sohn bei sich. Mit ihm freundet Giacomo sich an. Er fährt ihn auf seinem Rad durch die Gegend. Der kleine Andrew leidet an einer nicht näher beschriebenen Krankheit, ist schwächlich und lehnt sich mit wachsendem Zutrauen an den Älteren an. Zum ersten Mal empfindet sich Giacomo als erfahren und erfreut sich der unschuldigen Zuneigung eines Jüngeren. Eigentlich aber sucht er die Nähe der schönen Frau, die ihm wie eine Göttin erscheint. Einmal, als sie dem Jungen etwas zum Trinken reicht, spürt er den Duft ihrer Arme: »Da war es ihm, als müssten ihm die Sinne schwinden, während er sein Gesicht ins Gras senkte, dessen Halme sich unter der Flamme der Sonne zu einem Kamm dünner Messer vergrößerten. Ihre blonde honigfarbene Haut, der Hals, der mit dem Schwung einer erlesenen Volute zum Gesicht aufstieg, schienen ihm hinter den langen Strahlen zu schwanken, die schräg zwischen den Bäumen auf den Rasen fielen.« Der Kleine erkrankt ernstlich, die Familie reist ab. Bei seinem letzten Besuch am Krankenbett begreift Giacomo, dass er den Freund betrogen und ein doppeltes Spiel gespielt hat. Nicht seinetwegen, der arglos war, hat er Andrews Nähe gesucht, sondern wegen der Mutter. Sie aber scheint alles begriffen zu haben, und beschämt kehrt er zu den Seinen zurück. Der Sommer ist vorüber, Wolken ziehen auf. Am Ende gehen Giacomo und Clara zum Hafen hinunter, um den Vater abzuholen. »Das Rauschen des Regens schien die Zeit einzuschläfern und sie von der Welt zu trennen, während sie weinten.« Clara weint wegen eines schlimmen Liebeskummers; und Giacomo, weil ihn eine tragische Erfahrung eingeholt hat, das Erwachsenwerden. Alberto Vigevani, geboren 1918 in Mailand und dort 1999 gestorben, war Buchhändler und Verleger, schrieb Romane und Erinnerungen. Er war jüdischer Abstammung und lebte die letzten Kriegsjahre im Schweizer Exil. Diese Erzählung scheint zeitlos und fern aller Politik. Einmal aber berichtet Andrew, stotternd vor Erregung, von einem traumatischen Schrecken. Er hatte eine Gouvernante, die ihn auf sadistische Weise quälte. Sie war Deutsche. Mehr Hinweise gestattet sich Vigevani nicht. Mit hoher Konzentration komponiert er eine Elegie über die entzweiende Kraft des Eros. Seine Sprache hat Eleganz und Musikalität, und sein Blick auf die Nöte eines Heranwachsenden ist voller Weisheit und Humanität. Alberto Vigevani: Sommer am See. Eine Erzählung; aus dem Italienischen von Marianne Schneider; Friedenauer Presse, Berlin 2007 Erschienen in der ZEIT blog comments powered by Disqus |