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Ulrich Greiner


Eine Liebe zerbricht
Dieter Wellershoffs Roman Der Liebeswunsch

Dieter Wellershoff, knapp 75 Jahre alt, Autor von 35 Büchern, darunter sechs Romane, ist nicht in Mode. Er wird gelesen, er steht in allen Lexika, das schon, aber er spielt in den literarischen Diskussionen nur eine geringe Rolle – fast, als gehörte er nicht mehr so recht dazu. Von ihm war nicht die Rede, als vor einigen Jahren lauthals beklagt wurde, die deutschen Schriftsteller könnten nicht erzählen und überließen das Feld den amerikanischen Realisten, die jenes Lesefutter produzierten, das der illusionsgierige Leser derzeit verlange.

Seltsam. Denn Wellershoff ist, wenn das Wort überhaupt einen Sinn hat, Realist, was heißt, dass er die menschlichen Verhältnisse gründlich durchdenkt und erkennbar wiedergibt. Er kann erzählen, und er ist ein ausgefuchster Kenner der Literatur und ihres Handwerks. Sein neuer Roman Der Liebeswunsch beweist das glänzend. Die Geschichte, die er unserem wachsenden Interesse sorgsam preisgibt, ist weder exotisch noch bizarr. Sie spielt in unseren Breiten, handelt von ganz normalen Menschen und ganz normalen Wirrnissen: Vom Konflikt zwischen großer Leidenschaft und kleinlicher Begierde, zwischen Besitzstandswahrung und Selbstpreisgabe.

Den Konflikt lösen die Beteiligten auf Kosten der Liebe – wenn man unter Liebe den selbstvergessenen Sprung in den Abgrund der Leidenschaft versteht. Genau davor haben sie alle Angst: sowohl Leonhard, der Strafrichter inmitten seiner Karriereleiter, wie auch Marlene und Paul, die beiden arrivierten Krankenhausärzte. Marlene war Leonhards Freundin, bis Paul sie ihm ausspannte. Nun bilden sie ein prekäres freundschaftliches Dreieck, das von der arglosen Anja, ihres Zeichens Germanistikstudentin im vorgerückten Semester, aufgesprengt wird. Anja, die mit ihrer Magisterarbeit nicht vorankommt und sich mit allerlei Jobs durchschlägt, versorgt die prächtige Villa des Ärztepaars während einer längeren Reise. So lernt sie den Hausfreund Leonhard kennen.

„Ihre Angewohnheit, eine dunkle Sonnenbrille zu tragen, ließ den unteren Teil ihres Gesichts wie entblößt erscheinen. Da war etwas Lauerndes, Witterndes um Mund und Nase herum, auch eine große Empfindsamkeit. Wenn sie zum ersten Mal ihre Sonnenbrille abnahm, sah man ihre ziemlich weit auseinanderstehenden Augen noch wie blicklos aus der schützenden Verschattung auftauchen und fühlte sich gehindert, sie unverhohlen anzusehen. Immer gab es Männer, die sie anziehend und reizvoll fanden. Aber sie zogen sich bald zurück, wenn sie entdeckten, wie schwierig sie war.“

Leonhard zieht sich nicht zurück. Er sieht in der aparten, scheinbar bildbaren und wesentlich jüngeren Frau das Objekt einer Erziehungsaufgabe, nach deren Erledigung die Familiengründung, die ein geordnetes bürgerliches Leben erst vollständig macht, endlich erfolgen kann. Man heiratet sehr rasch, begibt sich auf Hochzeitsreise, und der erhoffte Nachwuchs stellt sich bald ein.

Noch sind wir erst am Anfang des Romans. Wellershoff zeichnet die Lage mit schnellen, lakonischen Strichen. Von nun an nimmt eine sehr alltägliche Tragödie ihren Lauf. Dass sie uns beschäftigt, liegt auch an Anja, dieser sich selbst unklaren und allmählich erst erwachenden Frau, die, während sie sich in Paul verliebt und diese Liebe als Himmelfahrt einer Selbstauflösung und -erlösung erfährt, den Irrtum ihrer Ehe mit Leonhard widerwillig erkennt. Was sie aber nicht erkennt (und der Leser weiß es längst): Paul, der ewige womanizer, ist allzeit bereit, den Anfangsreiz einer schönen Affäre sexuell auszukosten, aber zu feige, um sich wirklich einer Leidenschaft auszuliefern. Das wird Anja wortwörtlich das Genick brechen.

Der Leser weiß es, weil er immer mehr weiß als die handelnden Personen, und es gehört zum nicht geringen Reiz dieser vielseitigen Erzählweise, dass er sich das Mehrwissen nicht als ein Besserwissen gut schreiben kann. Er bleibt, obwohl der Ablauf von Anfang an feststeht, beunruhigt und gefangen. Die 18 Kapitel werden aus der Sicht von Paul oder Anja, Marlene oder Leonhard erzählt. Wobei Wellershoff sehr gut die Balance hält. Denn es wäre ebenso falsch, den Akteuren bloß aufs Maul zu schauen, sie bloß in ihrer eigenen Sprache reden zu lassen, wie es falsch wäre, ihnen eine Selbsterkenntnis einzuräumen die sie nicht haben können.

Der Leser wird also zum ohnmächtigen Beobachter von Gefühlen und Reaktionen, die ihm unangenehm vertraut vorkommen. Anjas Liebeswunsch – ein kindliches, verzweifeltes Begehren nach Unbedingtheit, nach Klarheit – ist unerfüllbar, weil ihre viel tüchtigeren Mitmenschen berechnend und witternd Vorteile sammeln, am Ende aber bedauernswerter sind als die bedauernswerte Anja. Nach ihrem Tod richten sich die Verbliebenen eilfertig ein in der neuen Konstellation. Eine schwach vernarbte Verletzung allerdings bleibt. Mit ihr beginnt Wellerhoff seine Erzählung.

Bleibt die Frage, weshalb dieser Meisterrealist deutscher Zustände nicht wirklich geliebt wird. Zwei Vermutungen: Es mag sein, dass Wellerhoff seinerseits eine Spur zu berechnend schreibt, dass er zu gut über den Plan seiner Geschichte Bescheid weiß. Er ist seinem Stoff überlegen. Das romantische, verzaubernde Moment bricht sich an seinem durchdringenden Blick. Zweitens aber: Er spricht von deutschen Landschaften, deutschen Mentalitäten. Wie verlockender erscheint es uns oft, spanische Affären oder amerikanische Krisen zu lesen! Die jüngst viel gerühmte Paula Fox (nur zum Beispiel): Was hat sie einem Wellershoff an literarischer, an diagnostischer Qualität voraus? Vielleicht nur das eine: Ihre Geschichte spielt anderswo, nicht hier, nicht in diesen von uns nicht sehr geliebten deutschen Breiten.

Dieter Wellershoff: Der Liebeswunsch. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000



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