Home - Autoren der Gegenwart - deutschsprachige - Juli Zeh - Parallelwelten. Über Juli Zehs Roman "Schilf"


 

 

Ulrich Greiner

Parallelwelten

Der Roman "Schilf" von Juli Zeh

Der Krimi scheint deutsche Schriftsteller, die eigentlich keine Krimis schreiben, merkwürdig zu faszinieren. Wie einige andere ihrer Kollegen (Matthias Altenburg, Thomas Hettche) präsentiert nun auch Juli Zeh einen saftigen Kriminalroman mit Entführung und Mord und allem Drum und Dran, aber wer die 33-jährige Autorin und ihre Romane (Adler und Engel, Spieltrieb) kennt, der ahnt, dass sie mehr bieten will als nur das. Sie nutzt die Form für ein Gedankenspiel: Was wäre, wenn es mehrere Welten gäbe?

Der Gedanke, der ansonsten Esoteriker oder Träumer beschäftigen mag, ist ein Kernproblem der Physik, und folglich sind zwei Physiker die Hauptfiguren, eng befreundet seit ihren Freiburger Studententagen und jetzt auf ungute Weise uneins. Sebastian, der sich in den Gewöhnlichkeiten einer bürgerlichen Karriere samt Professur, schöner Frau und aufgewecktem Sohn eingerichtet hat, ist ein Anhänger der Idee mehrerer Welten, also eines Theorie-Relativismus, während der elitär-arrogante Oskar, ein hoch ambitionierter Hochphysiker auf dem Weg zur Weltformel, wütend gegen den Irrweg des Freundes ankämpft. Der sommerliche Abend in Freiburg, mit dem die Geschichte losgeht, beginnt harmonisch mit Speis und Trank, aber er endet mit einem Missklang.

Oskar will seinem Freund eine Lektion erteilen, die ihm unwiderleglich klarmachen soll, dass es nur eine einzige Welt gibt. Was als übler Scherz gedacht war, entwickelt sich zu einem Missverständnis mit tödlichen Folgen. Es gibt eben doch vielerlei Welten, wenn auch nicht in der Realität des Kosmos, so doch in der unserer Wahrnehmung Dies führt der Roman schlagend vor. Sebastian versteht den entscheidenden Satz, den ihm die Entführer seines Sohnes telefonisch übermitteln, mörderisch falsch. Er hat sich verhört, weil er unter Eifersucht leidet, und tötet den vermeintlichen Nebenbuhler, der mit der Entführung gar nichts zu tun hat.

Juli Zeh hat die raffiniert-verwirrende Geschichte sauber konstruiert, keiner der bunten Fäden bleibt lose zurück. Das Gefühl des Mangels, das man dennoch empfindet, hängt eben mit dieser ausgeklügelten Konstruktion zusammen. Dass sie nicht sehr wahrscheinlich ist, nimmt man gerne hin, aber dasss einem das übermäßig zahlreiche Personal des Romans, abgesehen von den beiden Freunden, eher gleichgültig bleibt, ist schade.

Juli Zeh überträgt den Gedanken der mehreren Welten auf die Literatur. Sie nämlich ist, mehr noch als die Physik, das Forschungszentrum paralleler Wirklichkeiten, und insofern bietet der Roman als literarische Form die Anschauung für Sebastians Theorie. Juli Zeh legt falsche Fährten, erzählt mehrere Geschichten gleichzeitig, und welche davon stimmt, erfahren wir erst nach und nach. Der Erzähler tritt auf als ein Schöpfergott, der das Treiben der Menschen wie aus einer Loge betrachtet, mal sorgenvoll, mal spöttisch. Er gibt der Natur und der Kreatur eine Seele und lässt sie handeln wie die Subjekte einer parallelen Welt: »Es ist fast dunkel geworden. Unten vor dem Haus hat die Laterne ihren Einsatz verpasst und wird wohl die ganze Nacht nicht mehr leuchten. Die Berge haben ein Käuzchen als nächtlichen Späher herabgeschickt; es sitzt irgendwo in den Ästen der Kastanie und ruft leidend wie durch hohle Hände.«

Der obskure Fall ist schon weit fortgeschritten, als endlich der Kommissar auftaucht, der alles klären wird. Er trägt den einsilbigen Namen Schilf und neigt zur Einsilbigkeit. Außerdem hat er ein Karzinom im Hirn und lebt schon halb in der anderen Welt. Indem er rettet, was noch zu retten ist, verabschiedet er sich zum letzten Mal. Sebastian und Oskar versöhnen sich, aber es wird nie mehr sein wie zuvor. Im Epilog heißt es: »Die Berge rufen die Vögel zurück. Die Vögel erstatten den Bergen Bericht. So ist es, sagen wir, in etwa gewesen.«

Ja, denken wir, so könnte es gewesen sein; schön, wie Juli Zeh alle Register ihres Könnens zieht und die Metaphernmaschine emsig bedient; nicht schlecht, wie sie den klassischen Krimi ironisch überwölbt, wie sie die Idee vieler Welten mehrfach bricht und reflektiert. Eine intelligente Etüde, durchaus. Aber doch auch ein bisschen altklug und oft bloß hübsch. Bekannte Gesichter, bekannte Gefühle. Man bedauert nicht, ihnen erneut begegnet zu sein, aber mehr wäre mehr gewesen.

Juli Zeh: Schilf
Roman; Verlag Schöffling, 2007

Erschienen in der ZEIT, 15.11.2007



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