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Eckhard Nordhofen

Biblische Aufklärung – Die Entdeckung einer Tradition

Der folgende Text bildet die Einleitung zu einem Band, der die Beiträge zum 6. St. Georgener Symposion „Biblische Aufklärung – Die Entdeckung einer Tradition“ dokumentiert, das im Oktober 2003 an der Hochschule St.Georgen in Frankfurt am Main stattfand.

Der Titel des Symposions signalisiert deutlich ideenpolitische Absichten, die freilich durch die Beiträge dieses Bändchens nur ansatzweise und in keiner Weise hinreichend erfüllt werden können. Dies war im knappen Rahmen eines Symposions auch nicht ernsthaft zu erwarten. Dennoch: Die Anstrengung der Philosophie sollte nach Hegel zuerst einmal dahin gehen, ihre Zeit in Gedanken zu erfassen. Dies läuft in einer schwachen Deutung oft genug auf eine nachträglich registrierende Besichtigung des Zeitalters hinaus. Ideenpolitik geht demgegenüber höhere Risiken ein. Wenn sie ihre Interessen offen ausspricht, macht sie sich angreifbar, ist aber immerhin kenntlich und unverdeckt.

Es ist nicht die Regel, dass die Bezüge zwischen der Mentalitäts- und Ideenpolitik zu aktuellen politischen Ereignissen so offensichtlich sind, wie in den Jahren 2003 und 2004. Der zweite Golfkrieg George Bushs wurde als direkte Antwort auf das auslösende terroristische Großereignis vom 11. September 2001 legitimiert. Der Angriff auf das World Trade Center, die twin-towers als Wahrzeichen eines weltweit agierenden, westlich dominierten Ökonomismus, war offensichtlich als symbolpolitische Kriegserklärung gemeint und wurde von den Regierungen des Westens auch als solche quittiert, wenn auch nicht von allen aufgegriffen. Hatte man in den wirtschaftlich prosperierenden westlichen Demokratien in den Zeiten des globalen Ökonomismus begonnen, den Begriff der Politik auf die Organisation wirtschaftlicher Rahmenbedingungen herabzumindern, schärfte die Herausforderung einer Religion, die von Anfang an als Ineins von Politik und Gottesglauben auftrat, den Blick für die Besonderheit des Westens. Sie besteht in einer historisch umkämpften und inzwischen von beiden Seiten gewollten systematischen Unterscheidung bzw. Trennung von Religion und Politik. Es ist aber nicht nur der islamistische Terrorismus, der in diesen Jahren zum Nachdenken über die Wurzeln der Politik zwingt, es ist auch die ebenfalls durch die Ökonomie ausgelöste Migration aus islamischen Ländern nach Europa, die im Rahmen der Einigungsbestrebungen zum Nachdenken über die europäische Identität Anlass gibt.

Soll die Türkei in die EU aufgenommen werden? Soll in der Präambel einer neuen europäischen Verfassung ein Gottesbezug erscheinen? Wenn solche Fragen auf der politischen Agenda stehen, werden in Positionspapieren, Grundsatzreden, die Weichen der politischen Willensbildung gestellt. Hier spielen die für konsensfähig erachteten Figurinen der Ideen- und Geistesgeschichte eine wichtige Rolle. Da ist vom Humanismus, den Menschenrechten und den „westlichen Werten“ die Rede, die dann in der Regel parataktisch neben die christlichen Traditionen gestellt werden, die aber als partikulare und in der pluralistischen Gesellschaft für nicht mehr verbindlich erachtete Erbschaft betrachtet werden. In der laizistischen Tradition Frankreichs, die oft auch für die politische Klasse der romanischen Länder und deren Denkstil maßgeblich ist, werden „westliche Werte“, Humanismus und Menschenrechte von den christlichen Traditionen unterschieden, und mit eigenen Gründungsmythen umgeben. In solchen Kontexten spielt der Begriff der Aufklärung eine zentrale Rolle. Ihn mit der Bibel zu verbinden, mag denen als kühne Konjunktion erscheinen, die nach dem gängigen Klischee in der Aufklärung eine antireligiöse Bewegung sehen, die am Ende die Säkularisierung, d. h. die Entmachtung der religiösen Agentur Kirche, kurzum das Ende des „finsteren Mittelalters“ zur Folge hatte.

Hans Blumenberg, der, in den Spuren Erich Rothackers wandelnd, die Metaphorologie zu methodischen Ehren gebracht hatte, schärft uns den Blick für die versteckte Metaphorik, die im Falle von „Aufklärung“ sich wohl nur im Deutschen als (auf)klärungsbedürftig erweist. Immerhin ist das Wortfeld von„klar“ von seinen Gegensätzen her gut auszumachen. Was unklar ist, wird opak, undurchsichtig oder dunkel sein. In einer reflexiven Variante klärt sich eine Sache selbst auf, etwa das Wetter. Genau genommen klart es subjektlos auf. Zum Klären bedarf es einer Person, die da klärt und Licht in die Sache bringt. Vielleicht hat Hegels Selbstdeutung als das zu sich selbst gekommene Subjekt der Geschichte ein grammatisches Motiv?

Die Lichtmetaphorik taucht in allen europäischen Bezeichnungen auf. Die französische: siècle des lumieres gibt sich deutlich als Epochenbezeichnung zu erkennen. Das Zeitalter oder auch das Jahrhundert der Aufklärung war das 18., selbst wenn das 17. entscheidendes dazu vorausgedacht hatte. Ähnlich das englische age of enlightenment, weniger epochenbezogen das italienische „illuminismo“. Selbstverständlich ist die Licht-Metaphorik älter als das 18. Jahrhundert. Das Reformationszeitalter hat sie etwa in der Bezeichnung der „Dunkellmännerbriefe“ e contrario verwendet und schließlich die Bibel selber. Lumen Christi, Christus das Licht, das noch heute in der Liturgie der Osternacht das zentrale Symbol darstellt, geht vor allem auf den Evangelisten Johannes zurück und hier besonders auf den Prolog, der das buchstäblich einleuchtende Bild aufruft: „Und das Licht leuchtet in der Finsternis …“ (Joh 1,5). Dass über engere neutestamentliche Textbelege hinaus die Erleuchtungen in Visionen und Erscheinungsberichten auch des Alten Testamentes zum Repertoire gehören, und dass der Gegensatz von Licht und Finsternis bis in die ersten Zeilen des Buches Genesis zurückreicht, in denen der Schöpfer sein „Es werde Licht“ spricht, leuchtet ebenfalls ein. Und noch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gehörte es zur zünftigen Philosophenterminologie bei der Einführung eines Arguments zu formulieren: „Es erhellt …“.

Diese Bemerkungen sollen nur ins Gedächtnis rufen, dass es sich beim Epochenbegriff Aufklärung ganz offensichtlich um eine ideenpolitisch bewusste und strategisch benutzte Gegenbesetzung handelt, deren begriffslogische Voraussetzung in irgendeinem Bild vom „finsteren Mittelalter“ begründet war. Wir bekennen freimütig, dass wir ebenso absichtlich den Versuch machen, den Begriff der Aufklärung aus dem Ausschließlichkeitsanspruch einer historischen philosophischen Strömung des 18. Jahrhunderts herauszulösen und ihn wieder auf seine biblischen Wurzeln zurückzuführen. Dies unterstreicht auch der Untertitel „Die Entdeckung einer Tradition“. Traditionen, die weiter wirken, müssen für gewöhnlich nicht erst entdeckt werden. Wenn sie wirken, sind sie meist auch als solche kenntlich. Das gilt aber nur für den Fall, dass der Traditionsfluss oberirdisch verläuft. Unsere leicht oxymorontische Formulierung „Entdeckung einer Tradition“ rechnet also damit, dass das regierende Klischee die biblische Aufklärung nicht als solche kennt und daher auch nicht anerkennt. In der Religionsschrift Immanuel Kants ist viel von Obskurantismus die Rede. Religion wird mit Aberglauben und widervernünftigem rituellem „Afterdienst“ in Verbindung gebracht und als Verdummung, als Priesterbetrug etc. auf die dunkle Seite gestellt. Aufklärung und biblische Tradition wurden im siècle des lumieres gegeneinander in Stellung gebracht.

Ein nüchterner Blick auf die neuzeitliche Kirchengeschichte belehrt uns darüber, dass wir in der Katholischen Kirche bis weit in das vorige Jahrhundert hinein es nicht nur mit antimodernistischen, sondern auch mit antimodernen Bestrebungen zu tun hatten. Diese werden der kirchlichen Institution gewiss auch mit gutem Recht vorgehalten. Es ist also auch den kirchlichen Verhältnissen anzulasten, wenn „Aufklärung“ mit ihren biblischen Wurzeln in Verbindung zu bringen einer Mehrheit der intellektuellen Klasse nicht einfällt.

Dennoch ist der Abstand zu den Zeiten, in denen die Kirche sich als ideologische Sockelung absolutistischer Staatsgewalt funktionalisieren ließ, groß genug um einen neuen Blick auf das Verhältnis von biblischer Tradition und einem heutigen Staatsverständnis zu werfen, denn es fällt auf, dass gewisse demokratische Standards sich offenbar nur im Wirkungsschaffen der biblischen Tradition ausgebildet haben und ihre Geltung behaupten.

Am Beispiel der großen Französischen Revolution von 1789 können wir im Übrigen sehen, dass selbst die Gewaltexzesse während der Schreckensherrschaft den Glanz der Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nicht dauerhaft haben verdunkeln können. Fundamentale und wirkmächtige Ideen können verbogen, verraten und desavouiert werden, sie sind darum noch lange nicht umstandslos widerlegt. Es ist gewiß legitim, die Wirkungsgeschichte von Institutionen und Ideen positiv oder negativ zu bilanzieren. Als Ideen gehören sie aber ex definitione nicht dem Bereich des empirisch Widerlegbaren an. Auch eine systematische Betrachtungsweise bleibt legitim und lohnend. Hier gilt es festzuhalten, dass der Begriff der Aufklärung schon seit längerem eine Entwicklung zu einem systematischen Gebrauch durchgemacht hat. So etwa wenn Jürgen Habermas von der „unnachgiebigen Aufklärung“ spricht oder sich Odo Marquard als „Aufklärungstraditionalist“ bezeichnet. Hier ist nicht mehr von einer Epoche sondern von einem Vernunftkonzept die Rede. Wer von einer „vorsokratischen Aufklärung“ spricht, und damit die ionische Naturphilosophie oder die Religionskritik eines Xenophanes im Blick hat, braucht ein tertium comparationis.

Was ist Aufklärung? Wir dispensieren uns von einer rein destillierten Antwort auf die klassische Frage, können aber doch einige Argumente und Motive aus der Geschichte des Monotheismus beisteuern, für welche das Alte und das Neue Testament der Bibel das zentrale Dokument ist. Diese Fragen sind so historisch wie aktuell.

In den Tagen, in denen sich Europa anschickt, sich erstmals eine Verfassung zu geben, ist ein Streit darüber entbrannt, ob, so wie im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, in der Präambel die Invocatio Dei, die Anrufung Gottes erscheinen solle. Dies hat der Frage nach dem Verhältnis von Religion, Gesellschaft und Staat einen ersten Platz auf der politischen Agenda verschafft. Das aufgeregte Interesse, das diese Fragestellung zum Erstaunen vieler gefunden hat, ist natürlich auch auf die erwähnte Herausforderung des Islam und seiner neuen Präsenz in Europa zurückzuführen, denn der Islam ist in seinen klassischen Heimatländern ein Amalgam von Religion, Gesellschaft und Staat. Würde ein von manchen anvisierter „Euroislam“ sein Modernisierungspensum erledigen können ohne die Migranten zu zwingen, ihre Religion aufzugeben oder sie zu einer kulturprotestantischen Reminiszenz an die orientalischen Lebensformen der alten Heimat erblassen zu lassen?

Im Streit um das Verhältnis von Staat und Religion gibt es grob sortiert zwei Argumentationslinien: Nach der einen ist die Trennung von Religion und Staat das Produkt eines Freiheitskampfes. Gegen eine inquisitionsbewehrte Institution Kirche, die sich machtgestützt durch absolutistisches Fürstentum die Herrschaft über die Köpfe anmaßte, musste zunächst der fürstliche Absolutismus gebrochen, die Staatsgewalt vom Religionsmonopol abgekoppelt und die Religion zur Privatsache erklärt werden. Die Religion als klassische Instanz der Letztbegründung konnte nicht mehr oberhalb des Staates gedacht werden. Die Nation als oberste Instanz der Verfassung musste sich auf Menschenrechte berufen, die zwar nicht ganz frei von religiösen Bezügen waren, sich aber nicht mehr auf eine kontingente Religionsgeschichte beziehen konnten. Die Menschenrechte waren von einem deistischen Himmel gefallen, nicht aber, jedenfalls nicht offensichtlich, biblisch begründet.

Die Historiker wissen um die Rolle, welche die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung für die Französische Revolution gespielt hat. Die Gründung der pilgrim-fathers lief, anders als in Frankreich, auf eine positive Deutung der Religionsfreiheit hinaus. Die dissentierenden Konfessionen und Denominationen suchten und fanden an der Ostküste des nordamerikanischen Kontinents die Spielräume zur ungehinderten und kraftvollen Entfaltung ihrer Frömmigkeiten. Inspiriert und erfüllt von biblischem Geist suchten sie als neue Israeliten das gelobte Land, und ihre Nachkommen haben bis heute das Gefühl, in „god’s own country“ zu leben. Im laizistischen Frankreich sind dagegen die Tendenzen zur negativ gedeuteten Religionsfreiheit, d. h. einer Freiheit von der Religion, bis heute dominant.

Noch lange war Frankreich geistig gespalten. Immer noch gibt es royalistische Minderheiten, linke Republikaner kämpften im 20. Jahrhundert gegen die „Action Française“. Lange Zeit war auch nicht ausgemacht, ob sich die Ideen von 1789 auf Dauer durchsetzen würden. Napoleon, der als Revolutionsgeneral begann, erschien auf dem Höhepunkt seiner Macht als Modernisierer des Absolutismus. Die folgende Restaurationsepoche, die Revolution von 1848, das zweite Kaiserreich und die folgenden neuen Republiken würden jeweils eigene Kapitel in einer Untersuchung über das Verhältnis von Staat und Kirche erfordern.

Wie auch immer – Aufklärung gilt im geläufigen Sprachgebrauch eher als Ergebnis einer neu entdeckten autonomen Vernunft, die sich selbst begründet, um dann als Begründungsinstanz für Staat, Gesellschaft und Verfassung zu wirken.

Die andere, hier favorisierte Perspektive hält diese Lesart für ein Selbstmissverständnis, legt die langen Wurzeln der westlichen Moderne frei und zeigt, dass es kein Zufall ist, dass die Vorstellungen von der Menschenwürde, von individuellen Freiheitsrechten wie von Menschenrechten überhaupt und insbesondere das Verhältnis von Religion und Staat auf die große religionsgeschichtliche Bewegung zurückgeführt werden können, die neuerdings in der Monotheismusdebatte breite öffentliche Aufmerksamkeit gefunden hat.

Im Jahr 2003 lieferte die politische Großwetterlage Stichworte, die dem Rahmenthema „Biblische Aufklärung“ eine besondere Aktualität verschafften. Der zweite Golfkrieg warf die Frage nach dem Zusammenhang von Religion und Gewalt von zwei Seiten her auf. Saddam Hussein, dessen geistige Wurzeln in der Baath-Partei zu suchen sind, die zum weiteren Umfeld des faschistischen Syndroms gehört, entdeckte erst spät das Machtpotential der Religion. Dann aber instrumentalisierte er umso konsequenter den Islam und lieferte ein nahezu lupenreines Beispiel für einen usurpatorischen Monotheismus. Seit Chomeini war der Islamismus stetig erstarkt und zu einer geistigen Kraft geworden, die in der Lage war, die Massen zu begeistern. Nun erklärte sich der vormals atheismusverdächtige Saddam zu einem Führer im Dschihad. Der heilige Krieg des Islam, der in vielen Variationen beobachtet wurde und wird, stellt die vielleicht klarste Form eines usurpatorischen Monotheismus dar. Der usurpatorische Monotheismus benutzt Gott als Ermächtigungsinstanz und macht keinen Unterschied mehr zwischen den eigenen und den göttlichen Interessen. Das Verschwindenmachen der Differenz zwischen dem göttlichen und dem eigenen Willen wird als Folge religiöser Hingabe und Devotion erlebt und macht den Krieger zum verlängerten Arm der höchsten Macht.

Die zeitgenössische christliche Theologie insbesondere dort, wo sie sich an wissenschaftlichen Standards orientiert, distanziert sich fast durchgängig von der Vorstellung, Gott könne zur Gewalt, gar zur kriegerischen ermächtigen. Selbstkritisch und mit öffentlich verkündeten Entschuldigungen distanzieren sich Kirchenführer und Theologen von den Entgleisungen der Vergangenheit. In Mainz wurde im Jahr 2004 eine viel beachtete Kreuzzugsausstellung eröffnet unter dem Titel „Kein Krieg ist heilig“. Dennoch ist auch dem zeitgenössischen Christentum diese Ermächtigungsfigur nicht völlig abhanden gekommen. Präsident Busch, der von sich bekennt, dass er den Tag mit einem Morgengebet beginne, der auch Kabinettsitzungen mit Gebeten eröffnet, hat in der Phase der Legitimation des Golfkrieges sich einer Kreuzzugsrhetorik bedient und damit das Gespenst eines Religionskrieges heraufbeschworen. Papst Johannes Paul II. hat sich dagegen mit deutlichen Worten vom Irakkrieg distanziert und eine religiöse Begründung dafür zurückgewiesen.

Im Jahre 1999 veröffentlichte der Ägyptologe Jan Assmann eine kultur- und religionshistorisch ambitionierte Untersuchung über die Entstehungsgeschichte des Monotheismus im alten Ägypten. Der Skopus der Darlegung mündete in die Rekonstruktion eines konstitutiven Zusammenhangs von Monotheismus und Gewalt. Sie lief auf die Behauptung hinaus, erst mit dem Monotheismus, der erstmals einen binären Wahr-Falsch-Gegensatz zwischen der eigenen und der anderen Religion installiert habe, sei die Religion als Quelle kriegerischer Auseinandersetzungen wirksam geworden. Assmann, der sich von Siegmund Freuds „Der Mann Mose“ inspirieren ließ, überbrückt eine tausendjährige Überlieferungslücke mit Hilfe einer von ihm und seiner Frau Aleida entwickelten Methodologie der „Gedächtnisgeschichte“. Nach dieser ist es denkbar und möglich, dass zeitlich weit auseinander liegende Ereignisse, die im kollektiven Gedächtnis tiefe Spuren hinterlassen, viel später und an anderer Stelle wieder aus dem Untergrund auftauchend ihre Wirksamkeit entfalten.

Das Vorspiel des mosaischen Monotheismus sieht er in der Armana-Episode Amenophis des IV., in der eine religiöse Revolution von oben versucht worden war, die einen monotheistischen Sonnenkult kurzfristig durchsetzte, die dann aber Episode geblieben war. Die alten Kulte der Volksreligion wurden restituiert, während die Erinnerung an diesen solaren Monotheismus legendenhaft karikiert und kriminalisiert wurde. Für diese kühne Konstruktion trägt Assmann alle Argumente zusammen, die von Fachleuten gewürdigt werden mögen. Entscheidend und bemerkenswert ist seine Feststellung, dass der Monotheismus so etwas wie eine religionsgeschichtliche Supernova darstellt, indem er erstmals Wahrheitsansprüche stellt. Assmann geht es in erster Linie um die Diskussion eines Zusammenhangs von Religion und Gewalt. Die Reklamation exklusiver Wahrheit für die eigene Religion konstituiert in der Tat eine Dichotomie, welche die Anhänger der falschen disqualifizierten Religiosität zu potentiellen Feinden macht. Diese These hat eine vordergründige Plausibilität und kann mit vielen Belegen aus dem Alten Testament, insbesondere aus dem Buch Josua illustriert werden. Es ist nicht erstaunlich, dass auf dem Hintergrund der zeitgenössischen politischen Verhältnisse mit ihrem wieder erstarkten Hintergrund usurpatorischer monotheistischer Gewaltbegründung in der theologischen Zunft das Buch Assmanns engagiert diskutiert wurde. Assmann führte die Debatte auf bemerkenswerte Art weiter. In kurzer Folge erschienen zwei weitere Bücher im Jahr 2000 „Herrschaft und Heil“ und im Jahre 2003 der Band „Die mosaische Unterscheidung“.

In diesem vorläufigen Höhepunkt der Debatte nimmt Assmann Argumente seiner Kritiker auf, revidiert seine These durch entscheidende  Hinweise, die für unser Thema der biblischen Aufklärung von großer Bedeutung sind. Während in „Mose der Ägypter“ es wie ein Sündenfall erschien, in religiösen Angelegenheiten Wahrheitsfragen aufkommen zu lassen, wird das Bild des neuen Monotheismus in der „mosaischen Unterscheidung“ ausgewogener. Sie erweist sich nämlich als eine notwendige Unterscheidung, hinter die es kein Zurück mehr geben kann. Der Monotheismus wird als eine sekundäre Religion in dem Sinn verstanden, dass er nur auf dem Hintergrund einer Primärreligion denkbar ist, von der er sich kritisch absetzt. Eine Religion, die sich religionskritisch transformiert, erreicht eine Geistigkeit, die es nicht zulässt, hinter ihre Standards zurückzufallen. Die fast paradiesische Zeichnung der vorkritischen Verhältnisse kann dann nicht mehr die Phantasie auslösen, wieder zu polytheistischen Verhältnissen zurückzukehren, wie dies eher spielerisch Odo Marquard in seinem „Lob des Polytheismus“ vorgeschlagen hatte. Wer die Religion nach sozialhygienischen Kriterien beurteilt, etwa die Frage stellt: „Wie friedensfördernd ist die Religion?“ Betrachtet sie im Sinne eines social-engeneering rein funktionalistisch.

Das Paradiesesgemälde der vorkritischen Religionsverhältnisse in der alten Welt, die in den großen Flussoasen und um das Mittelmeer herum eine einzige polytheistische Großreligion schildert, die viele Dialekte sprach, die aber alle ineinander übersetzbar waren, führt uns eine friedliche Welt vor Augen.  Man habe zwar viele Kriege aber keinen Religionskrieg geführt. Assmann übersieht allerdings einen Aspekt, der erst mit Hilfe einer monotheistischen Religionskritik in den Blick rückt. Zur Wirkungsgeschichte der mosaischen Unterscheidung gehört nämlich das, was man eschatologische Gewaltenteilung nennen könnte.

In allen Herrschaftssystemen der alten Welt, ja darüber hinaus in nahezu allen Kulturen, die sich außerhalb der monotheistischen Tradition untersuchen lassen, ist die höchste religiöse Instanz immer unlöslich mit der politischen und staatlichen Gewalt verbunden, ja oft mit ihr identisch. Oftmals ist der Pharao, der Kaiser, der Tenno von göttlicher Qualität. Oft ist er auch der oberste Priester und steht an der Spitze des religiösen Systems. Theokratie ist der kulturtheoretische Normalfall, eschatologische Gewaltenteilung die Ausnahme. Da wir uns Gott sei Dank an sie gewöhnt haben, sollten wir ihre Nicht-Selbstverständlichkeit nicht übersehen. Erst im Monotheismus, wie wir ihn im alten Israel antreffen, treten die Spitze der politischen Macht und die höchste religiöse Instanz, Gott, auseinander und werden unterscheidbar. Solange die Mosaische Unterscheidung nicht getroffen wird, ist somit jeder Krieg ein Religionskrieg.

An diesem Beispiel der eschatologischen Gewaltenteilung kann sehr gut jene Revision dargestellt werden, die in dem Untertitel des Symposions „die Entdeckung einer Tradition“ zum Ausdruck kommt. In der Regel wird nämlich die für die westliche Moderne charakteristische Trennung von Staat und Religion auf Montesquieu, politisch auf die Entmachtung der Kirche zurückgeführt. Es könnte aber, dazu fehlt hier der Platz, in einem ausführlichen Durchgang durch die Geschichte des Monotheismus in seinem Verhältnis zur jeweiligen Staatlichkeit gezeigt werden, dass in vielen Varianten dieser Dualismus durchkonjugiert wurde, ohne dass er je aufgehört hätte, ein Dualismus zu sein. Es gibt Episoden der Kirchengeschichte, in denen die theokratische Versuchung besonders wirksam war. Der Caesaropapismus Gregors des Großen wäre nur eines von mehreren möglichen Beispielen. Auf der anderen Seite gibt es auch genügend Beispiele, bei denen es die staatliche Gewalt verstanden hat, die Kirche für ihre Zwecke zu instrumentalisieren

Dennoch ist die Szene, in der Nathan vor den König David tritt, um ihm die Leviten zu lesen, die Urszene einer Trennung von Staat und Kirche. Dem faktisch Mächtigsten in Israel, dem König, wird klargemacht, dass es eine Instanz gibt, die auch für ihn maßgeblich ist und der er sich zu unterwerfen hat. Das gemeißelte Diktum Jesu vor Pilatus „Du hättest keine Macht über mich, wenn es dir nicht von oben gegeben wäre“ (Joh 19,11), die für die Reformationsgeschichte folgenreiche Lehre des heiligen Augustinus von den zwei Reichen, der civitas terrena und der civitas Dei, sind wichtige Stichworte in einer Traditionslinie, die es höchst unwahrscheinlich macht, dass ein christlich imprägnierter Denker wie Montesquieu das Hauptpatent auf den Gedanken der Gewaltenteilung anmelden könnte. Bevor Legislative, Iudikative und Executive auseinandertreten, ist der Grundgedanke der Entmächtigung des irdisch höchsten Machthabers durch Gott der initiale Impuls. Es liegt im Wesen eines privativen Monotheismus, dass er die letzten Dinge, die Eschata den Menschen vorenthält. Als Ergebnis einer Kritik an den selbstgemachten Göttern, wie sie vor allem in (Deutero) Jes 44 aber auch an vielen anderen Stellen des Alten Testaments entwickelt ist, ergibt sich die Vorstellung von einem Gott, der schlechterdings nicht instrumentalisierbar ist. Seinen Propheten (Jes 55,8) lässt er sagen „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken und eure Wege sind nicht meine Wege“. Die privative Vorenthaltung und nicht die empirische, magisch oder anderweitig instrumentalisierbare Anwesenheit als Ding in der Welt unterscheiden den Gott Israels von den selbstgemachten Göttern, die alle als Verlängerung menschlicher Interessen und Wünsche rekonstruierbar sind. Hier wird eine religionskritische Einsicht festgehalten, hinter die es, wie auch Assmann einräumt, kein Zurück mehr gibt. Dass Religion immer davon bedroht ist als Ermächtigungsinstrument mit der Tendenz, sich selbst zu vergöttlichen benutzt zu werden, stellt eine usurpatorische Versuchung dar, die der Monotheismus im Kern kritisiert, selbst wenn es in der Folge immer wieder zu Rückfällen in das usurpatorische Muster kommt.

Diese Bemerkungen zum Verhältnis von staatlicher Gewalt zur Religion der Bibel, wie überhaupt deren Verhältnis zur Gewalt schlechthin, ist nur eines von mehreren Themenfeldern, die unter dem Programm einer biblischen Aufklärung verhandelt werden können. Sein besonderes (ideen)politisches Gewicht erhält dieses Thema freilich durch den Vergleich mit dem Islam. Auch der Islam als jüngste der monotheistischen Religionen ist ein Seitenarm der biblischen Tradition. Für die Politik hängt viel, wenn nicht alles, davon ab, wie modernisierungsfähig er ist. Als Amalgam von Politik, Gesellschaft und Religion fühlt er sich unmittelbar an den Buchstaben des ungeschaffenen Wortes Gottes, als welcher der Koran vorgestellt wird, gebunden. Dieses Konzept der Illibration (Annemarie Schimmel) gibt der Schrift eine ähnliche Qualität, wie sie die Tora als Text mit messianischer Dignität für das orthodoxe Judentum hatte und hat. Die Schrift als Ort der Gottespräsenz fordert Gehorsam und Respekt, nicht aber historisch-kritische Untersuchung.

Für die Christen, die sich zwar in Ehrfurcht vor ihrem heiligen Buch, der Bibel des Alten und Neuen Testaments verneigen, hat die Schrift nicht diese Qualität. Für sie hat der inkarnierte Logos „Text und Propheten“, von denen kein Jota weggenommen wird, überboten.(Mt 5,17-20 ) Daher ist es für die christliche Theologie ein im Prinzip lösbares Problem, sich den hermeneutischen Standards der Literar- und Geisteswissenschaften anzumessen, die sie sogar im Wesentlichen mit entwickelt hat. Zwar achten auch die christlichen Kirchen in unterschiedlichem Maß auf lebensförmige Traditionen und halten gerne an naturrechtlichen Vorstellungen fest, sie respektieren die Weisungen des Dekalogs, sind aber auch angetrieben durch die magnetische Energie eines Gottes, der kein Ding in der Welt ist, kontrafaktische Innovatoren, die nicht auf eine bestimmte Lebensform festgeschrieben sind. Die Art und Weise, wie Jesus lehrt, die Schemata seiner Zeit und Gesellschaft auf den Fluchtpunkt des Reiches Gottes hin zu transzendieren, macht das Christentum zu einer dynamischen Religion. Die Abstoßungskräfte vom Ist-Zustand, sind sie erst einmal habituell geworden, lassen sich sehr gut mit den Motiven der Aufklärung verbinden, die den zivilisatorischen Fortschritt, sogar den der Naturbeherrschung, zu ihren Zielen zählte und zählt.

Man sieht, dass unter dem programmatischen Titel einer christlich nostrifizierten Aufklärung weite Themenfelder sich auftun. Das Frankfurter Symposion war hier nur ein bescheidener Auftakt, der aber auch das Versprechen enthält, die angespielten Melodien weiter zu komponieren.

 

 

 

 

 


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