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Eckhard Nordhofen

Dolf Sternberger, Paulus und die Auferstehung des Fleisches

Zeit seines Lebens hat sich Dolf Sternberger über den Tod empört. Er hat sich sogar darüber empört, dass der magnetische Denkguru der zwanziger Jahre, Martin Heidegger, der ihn zunächst fasziniert, dann aber abgestoßen hatte, sich nicht gleichfalls empören, sondern den Tod verstanden haben wollte. Das „Sein zum Tode“, die groß gestikulierte Denkbewegung,  war ihm verdächtig. Er wollte sich nicht existentialontologisch ruhig stellen lassen. "Schöpfungswidrig“ nannte er, wie Joachim Fest berichtet, den Tod. „Der verstandene Tod" – so der Titel seiner gegen Heidegger gerichteten Dissertation, war für ihn ein erschlichener Versuch, den Stachel zu entschärfen, der für ihn das bohrende Vorzeichen vor seinem Leben war. Er musste aus Gründen der Wahrhaftigkeit spitz und schmerzhaft bleiben.

"Hölle, wo ist dein Sieg - Tod, wo ist dein Stachel? So jubilieren die gläubigen Christen am Ostermorgen. Christus war auferstanden und zwar vollständig, mit Leib und Seele. Der „erste der Entschlafenen“, der neue Adam, bildete das Urmodell für die Auferstehung des Fleisches. Weitaus einfacher als diesen  schwer vorstellbaren Glaubensartikel zu unterschreiben, wäre ein dualistisches Modell zu denken, das Leib und Seele säuberlich auseinander nimmt, gereimt mit einem Volkslied des 18. Jahrhunderts: „Die Seele schwingt sich in die Höh`- der Leib liegt auf dem Kanapee“.

Die Vernichtung des Leibes stand immer außer Frage, auch wenn das alte Ägypten alles daran setzte, sie ungeschehen zu machen. „Gedenke o Mensch, dass du Staub bist und zum Staub zurückkehren wirst.“, so lautet das Memento pünktlich zu jedem Aschermittwoch. Wenn etwas den Tod überleben können sollte, dann jene unstoffliche Antimaterie, die Seele. Virchow, der Chirurg und liberale Spötter, hatte hunderte von Leichen seziert und verkündet, eine solche nie gefunden zu haben. Ihm war es ergangen wie Juri Gagarin, dem ersten Menschen im All, dem man die Erkenntnis verdankt, dass der Himmel nicht über den Wolken anzutreffen ist. Beide hatten das Unsichtbare nie gesehen - nicht ganz unlogisch. Der Verdacht aller, für die die Grenze der Wirklichkeit mit der Grenze der Empirie, dem sinnlich Fassbaren, zusammenfällt, dass nämlich die unsterbliche Seele eine Erfindung derer sei, die zu feige waren, ihrer Sterblichkeit tapfer ins Auge zu sehen, ist nicht zu widerlegen – jedenfalls empirisch nicht. Widerspruchsfrei und säuberlich gedacht, wäre der Leib-Seele-Dualismus immerhin etwas, an das man glauben könnte oder auch nicht. Die Auferstehung nur der Seele, wäre aber eindeutig etwas Zweitbestes, eine um den lieben Leib gekürzte Schattenexistenz, auch wenn das spirituelle Substrat nicht in einen dunklen Hades verbannt wäre, sondern im Licht dessen leben könnte, der auch das Licht erschaffen hatte. Aber das Wie und Wo - wie gerne hatte man es sich imaginiert.

Wer im Dom zu Orvieto das Hauptschiff durchmessen hat, Luca Signorellikann in der südlichen Seitenkapelle ein Fresko von Luca Signorelli betrachten. Der Renaissancemaler zeigt uns anno 1500, wie sich am jüngsten Tage, zum Schalle der Engelsposaunen, Skelette mühsam aus dem Boden herausarbeiten und sich dann wieder mit Haut und Muskeln bekleiden, so dass schließlich Fleisch und Bein am Ende wieder in schöner Vollständigkeit vereint sind. Er präsentiert uns den jüngsten Tag als ein Fest prachtvoll sich reckender Leiber im perfekten Glanz ihrer Auferstehung.

„Die Bekleidung mit den unverweslichen Leibe“ ist auch ein kleiner Essay überschrieben, den Dolf Sternberger am 22.9.1984 in der Beilage „Bilder und Zeiten“ der FAZ publizierte. In der „Besserer-Kapelle“ des Ulmer Münsters, war er, der gerade mit „Studien über die Idee der Unsterblichkeit beschäftigt war“, auf ein Glasfenster gestoßen, das ihn fasziniert stutzen ließ. Hatte hier eine Bilderfindung des spätesten Mittelalters die einzige Stelle des Neuen Testamentes, in der das Wort „athanasia“, „Unsterblichkeit“, auf den Menschen angewandt wurde, ins Bild zu setzen versucht? Im ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther hatte es geheißen „… Und die Toten werden auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden. Denn dies Verwesliche muss anziehen die Unverweslichkeit, und dies Sterbliche muss anziehen die Unsterblichkeit.“

Sternberger war ein leidenschaftlicher Begriffsforscher. Endysasthai, wie es im griechischen Urtext heißt, bedeutet tatsächlich nichts anderes als „anziehen“, „… wie man eben ein Kleid anzieht“ und er meinte in seinem Glasfenster eigentümlich formlose Laken entdecken zu können. „Eher als an Tücher, muss ich an Häute denken“. Sollten die Seligen hier tatsächlich neue, unverwesliche Kleider anziehen, einen unsterblichen Leib bekommen? Die Schlusspointe seines kleinen gelehrten Stückes war die Enttäuschung. Was Sternberger für die Kleider der Unsterblichkeit gehalten hatte, entpuppte sich als Fehlstellen im Glasfenster, welche der Restaurator bei einer Reparatur nicht hatte beseitigen können. „So fand denn die Bekleidung mit dem unverweslichen Leib in Wahrheit gar nicht statt – jedenfalls war sie nicht vorgestellt im bunten Glase dieses Fensters im Ulmer Münster. Wie es sonst damit steht, das ist eine andere Frage.“ Diese alles entscheidende Frage, sie wurde einstweilen vertagt.
 
Das Christentum, so wie es auf uns gekommen ist, ist weit mehr, als eine im ersten Jahrhundert vom Himmel gefallene Religion. In den folgenden Jahrhunderten, der Zeit der Kirchenväter, fermentierte es sich mit dem Besten, was an zeitgenössischer Philosophie zur Verfügung stand. Damit setzte es die Aufklärungstradition fort, die schon die Gründungsphase des Monotheismus im alten Israel angetrieben hatte. Der religionskritische Kerngedanke, der sich gegen die funktionalen Gottheiten des Polytheismus wandte, lautet: Ein selbstgemachter Gott ist ein Nichts (Jeremia). Kein menschliches Interesse war ohne himmlische Adresse geblieben. Für alle Lebenslagen stand eine Gottheit zur Verfügung, von der man Hilfe erbitten und der man Opfer bringen konnte. Hier traf sich die Kritik des Alten Testaments, am schönsten bei (Deutero)Jesaia 44, mit der Skepsis der vorsokratischen Aufklärung im alten Griechenland. Auch Xenophanes hatte die Götter unter den Verdacht gestellt, sie seien selbstgemacht: „…wenn aber die Rinder und Pferde und Löwen Hände hätten… So würden die Pferde die Götter abbilden und malen in der Gestalt von Pferden, die Rinder in der von Rindern, und sie wurden solche Statuen meißeln, ihrer eigenen Körpergestalt entsprechend.“

In der Apostelgeschichte (17,16-34) finden wir die großartige Szene, in der Paulus auf dem Areopag zu Athen die beiden Traditionen zusammenführt. Ihn hatte heftiger Zorn ergriffen „Denn er sah die Stadt voll von Götzenbildern.“ Dann aber sieht er einen Altar mit der Aufschrift: „Einem unbekannten Gott“. Dem Apostel gefällt, dass die Griechen etwas verehren, was sie nicht kennen. Und genau das verkündet er ihnen als neues Evangelium, die vollständig andere Gottesvorstellung Israels, die eben einschließt, dass Gott nicht etwas Bekanntes, kein Ding in der Welt, sondern ihr Schöpfer ist. Es folgt einer der schönsten Sätze des Neuen Testaments: „Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ Geist und Materie können im Menschenfleisch unzertrennlich zusammenkommen. Das war der Kern des neuen Inkarnationsglaubens und Jesus das faszinierende Beispiel. Deswegen war es nur konsequent, dass die Christenheit in der Folge alle gnostischen Angebote, Leib und Seele auseinander zu nehmen, ablehnte.

Die meisten Lebewesen werden wohl wissen, wenn es ans Sterben geht. Es muss ein körperliches Gefühl sein, das auch die Menschen überkommt. Dann „legt er sich zum Sterben“, ein schwerer Satz im Märchenton, aus jener Welt, aus  der die Lebensformen stammen. Gemütlich war das nie. Auch für den Gläubigen war das Sterben ein hartes, das finale Stück Arbeit, die anstrengend enge Passage, auf die er sich sein Leben lang vorbereitete. Wenn ein Großer sein Ende inszenierte, konnte das ein gewaltiges Schauspiel werden. Georges Duby hat einmal nacherzählt, wie Guillaume le Marechal, von 1216 bis 1219 Regent im englischen Königreich, sein Sterben beging. Die „schönen Tode“ waren regelrechte Feste, die gefeiert sein wollten. Im letzten Akt des öffentlichen Schauspiels hatte sich der edle Ritter schon Schritt für Schritt seiner hohen Ämter entledigt und sein Haus bestellt. Nun kleidet er sich in eine Mönchskutte, nimmt tränenreichen Abschied von der Gemahlin und stirbt.

Die Einübung in das Sterben gehört derzeit gewiss nicht in das Serviceangebot unserer Wellnessindustrie. Die Seelsorgerin, welche die „Drohbotschaft“ meidet wie das Weihwasser, weiß zwar viel vom lieben mütterlichen Gott zu erzählen, den Gevatter Tod würde sie aber am liebsten von der Bühne verweisen. Für andere Zeitalter war das Sterben eine lehrbare Kunst, für Montaigne der Habitus des Weisen: „Philosophieren heißt Sterben lernen“. Zur vollständigen Aussteuer einer Braut gehörte selbstverständlich das säuberlich gefaltete Leichenhemd, und wer sein Leben kunstvoll, eben den Regeln der Lebenskunst entsprechend abrunden wollte, studierte nicht nur die ars moriendi , er übte sie auch ein. Der greise abgedankte Kaiser Karl V. legte sich des Abends in seinen Sarg zum Schlafen. Von den alten Gebeten um eine gute Sterbestunde weiß man nichts mehr. Immerhin heißt es noch im Mantra des Rosenkranzes „… jetzt und in der Stunde unseres Todes. Amen“

Dolf Sternberger aber wollte von Todesfreundschaft nichts wissen. Als er seinen 80. Geburtstag mit einem „Herrenfrühstück“ auf Gut Neuhof beging, hielt er eine launige Tischrede, deren Kern ein Zitat des englischen Arztes Thomas Brown war: „The long habit of living indisposes us for dying“. Der große Homme de lettres verstand sich auf die Kunst, die ernsthaftesten Dinge durch oftmals englischen Humor vor falschem Pathos abzusichern. Zum Sterben war er wirklich immer äußerst indisponiert. Das Leben gefiel ihm sehr. Daran hatte auch jener Adolf nichts ändern können, mit dem er nichts, und auf keinen Fall den Vornamen gemein haben wollte. Dolf war konsequent. Er starb ungern, gleichsam unter Protest. Zwei Tage vorher hatte er mich noch gefragt, ob ich an die Auferstehung der Toten glaube. Es wäre die einzige Bedingung gewesen, unter der er mit der Schöpfung, insbesondere dem 20. Jahrhundert, einverstanden gewesen wäre.

 


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