Home - Christenheit - Zur jüdischen und christlichen Bildtheologie


 

Eckhard Nordhofen

Jenseits der Schrift
Zur jüdischen und christlichen Bildtheologie

Creatio ex nihilo – was für ein unnatürlicher Gedanke! Erschaffung des Kosmos aus dem Nichts…  Wer kann schon Nichts, wer könnte alles denken? Die Wirklichkeit, die alles bewirkt, hätte die ontologische Schallmauer, das geläufige: „Von nix kommt nix“ durchbrochen. Ihr „Name“ ist: „Ich bin da“. Der Gott des alten Israel als Bewirker der Wirklichkeiten fällt spektakulär aus dem Rahmen dessen was ist - dessen, was sonst ist. Nur so wird er nicht nur zum Schöpfer sondern auch zum Widerlager der Welt. Wer sich ihm geöffnet hat weiß, dass die Welt mehr ist, als alles was der Fall, als alles, was der Verfall ist. Als ein Ding in der Welt kann er nicht vorkommen. Daher kann es von ihm auch kein Bild geben. Das Bilderverbot ist die Konsequenz aus der ontologischen Sonderklasse Gottes. Im Bilderverbot, dem zweiten der Zehn Gebote, finden wir den Entzündungsherd der biblischen Rede von einem neuen, einem ganz anderen Gott (Ex 20,4) Daher mutet uns der Begriff Bildtheologie fast tautologisch an. Die Auseinandersetzung mit der bildlosen Andersheit Gottes ist ja überhaupt erst der Anfang aller Theologie.

Mit der Kritik am Kultbild formuliert sich ein Monotheismus, der nicht anthropogen, nicht menschlichen Ursprungs sein will. Wenn es Gott gibt, darf er nicht hergestellt sein, darf er seine Existenz nicht menschlicher Imaginationsarbeit, menschlichen Bedürfnissen und Wünschen verdanken.
Bildkritik ist anstrengend und interaktiv. In der Pulverisierung des Goldenen Kalbs durch Mose (Ex 32,20) findet sie einen dramatischen Höhepunkt.: „Den Staub streute er in Wasser und gab es den Israeliten zu trinken“ – eine Lehr-performance.

Wie könnte denn überhaupt eine Spur des Göttlichen in der Welt sichtbar werden? So nicht! macht Mose deutlich, nicht in einem Kultbild. Aber wie denn dann? Ein  Mediendrama nimmt seinen Lauf. Es wird als Konkurrenzdrama von Schrift und Bild erzählt. In dem Satz: „Das sind deine Götter, Israel, die dich aus Ägypten heraufgeführt haben.“ (32,4) – gemeint ist das Kalb –  führt der Erzähler den polytheistischen Schwachsinn des Volkes noch einmal polemisch vor. Nicht umsonst hatte er die Herstellung des Kultbildes in allen Einzelheiten geschildert (Deutero)Jesaja ergeht sich im 44 Kapitel ebenfalls in polemischem Spott über alle, die aus Metall, Holz, und anderen Materialien Götterbilder fertigen, um sich anschließend vor ihnen niederzuwerfen und zu rufen: „Rette mich, du bist mein Gott.“ Diese Passagen, aber auch entsprechende Parallelen aus dem Buch der Weisheit, aus Ezechiel und den Psalmen, berechtigen uns, von einer „biblischen Aufklärung“ zu reden. Der Begriff Aufklärung wird hier nicht als Epochenetikett, sondern in systematischer Absicht gebraucht. In der Tat sind die biblischen Polemiker gegen die Götzenbildproduktion  Aufklärer. Sie haben erkannt, dass die vielen Gottheiten nichts weiter sind als die Verlängerung menschlicher Bedürfnisse. Man mache die Probe und kann als Merksatz festhalten: Kein menschliches Interesse ohne himmlische Adresse.  Auch das spätjüdische Buch Hiob gehört zur biblischen Aufklärung insofern es gegen einen Gotteskalkül Stellung bezieht, der in dem Tauschprinzip Wohlverhalten gegen Wohlergehen seinen Ausdruck findet. Am schärfsten aber  kommt die Kritik in der Polemik gegen die Kultbilder zum Ausdruck. Die These hat viel für sich, dass Bilder so alt sind wie Homo sapiens sapiens. Aber war der denn wirklich so dumm, dass er nicht schon immer gewusst hat, dass die Bilder etwas Selbstgemachtes sind und damit nicht ernsthaft etwas Göttliches?

In Arnold Schönbergs grandiosem Opernfragment „Moses und Aron“ ist Aaron alles andere als dumm. Er weiß sehr gut, dass es nur ein Bild ist, was er herstellt. Nur dem Volk zu Gefallen produziert er das Kalb: „Ein Volk kann nur fühlen… Kein Volk kann glauben, was es nicht fühlt.“ Da ist ja was dran. Bis in unsere Tage ist der Streit aktuell geblieben, ob es eine nicht fühlbare, eine nicht empirische Wirklichkeit gibt, die sich dem Zugriff der Naturwissenschaften entzieht, diese aber gleichwohl umgreift.

Jan Assmann, Ägyptologe und Kulturkritiker hat die aktuelle Monotheismusdebatte um den Begriff der „Mosaischen Entgegensetzung“ bereichert. Erstmals habe Moses den binären Code wahr-falsch in die Religion eingeführt. In der Tat hat Aufklärung etwas mit der Suche nach der Wahrheit zu tun - eigentlich aber mehr mit dem Irrtum. Wer Irrtümer aufdeckt, ist noch nicht im Besitz der absoluten Wahrheit, selbst wenn er ihr einen Schritt näher gekommen sein mag. Wie ist der Durchbruch des Moses zu erklären? Was unterscheidet ihn von all den namenlosen Religionskritikern vor und neben ihm? Antwort: Er hält ein neues Gottesmedium in der Hand – die Schrift.

Der Kerngedanke der biblischen Aufklärung besteht in der Überzeugung, dass Gott ein wirkliches Gegenüber sein muss und nicht etwas Selbstgemachtes. Da die selbstgemachten Götter Bilder waren, mussten sie ausscheiden. Der intelligente Polytheist wird immer darauf verwiesen haben, dass die Bilder selbstverständlich nicht die Götter sind, sondern nur bedeuten. Dieser Gedanke kann aber nicht verhindern, dass es immer wieder und nahezu zwangsläufig zur Verwechslung von Urbild und Abbild kommt. Bilder haben nun einmal eine magische Präsenz. Bis heute werden sie geküsst, gesalbt, beräuchert und um Hilfe angerufen. Interessanterweise geht die größte magische Energie von nicht-mimetischen Bildern aus. Sie sind gleichzeitig anthropomorph, aber auf die eine oder andere Weise immer auch alteritär. Ihre Andersheit kann sich wie bei den Idolen der alten Welt in der Abstraktion, aber auch in anderen Formen der Alteritätsmarkierung manifestieren, Lukas-Ikonen, vom Evangelisten selbst „geschrieben“, aufgefundene Bilder, schwarze Madonnen, Acheiropoieta, „nicht von Menschenhand gemacht.“ Solche Indizierungen von Alterität bewahren durch ihre Legenden auch nach der Emanzipation vom Bilderverbot bei allem Magieverdacht den Kerngedanken der monotheistischen Aufklärung: nicht selbstgemacht. Das Wunder ist nicht selbstgemacht. Mose konnte das Kultbild zermalmen, weil er etwas Besseres besaß, ein damals neues Medium: die Schrift. Sie verhilft ihm zur „mosaischen Unterscheidung“ (Assmann). Die logische Alternative zum  Selbstgemachten heißt Offenbarung. Er hatte sie von Gott empfangen, also nicht selbst gemacht.

Der entscheidende Vorteil des neuen Gottesmediums bestand in seiner Nichtverwechselbarkeit. Anders als ein Bild kann etwas Geschriebenes niemals mit dem verwechselt werden, was es bedeutet. So hängt die Entstehungsgeschichte des Monotheismus eng mit dem  scriptural turn zusammen. Er ist nicht die Kehrseite, sondern die Vorderseite des Bilderverbots. Nach vielen Zwischenformen und Anläufen hatte sich aus Bilderschrift endlich die Möglichkeit ergeben, die gesprochene Sprache eins zu eins festzuhalten. Diese Objektivation von Sprache machte sie zu einem Darstellungsmedium neuer Art. Der Gott des Mose hatte sich mit seinem: „Ich bin der ‚ich bin da’“ in einer einzigartigen Weise offenbart. Nur ein einziges Mal konnte und kann bis heute das pure Dasein als Name ausgerufen werden. Das ist eine sprachlogische Singularität. Sie entsprach exakt der neuen Gottesvorstellung, einer Simultaneität von Anwesenheit und Abwesenheit. Gott offenbarte sich, indem er sich gleichzeitig entzog. Diese Vorenthaltung ist es, an der man ihn fortan erkennen wird. Sein neues Medium, die Schrift, war erstmals in der Lage, diese Gleichzeitigkeit von Anwesenheit und Abwesenheit zu vermitteln. Mose hatte nach dem Namen dessen gefragt, der aus dem Feuer des Dornbuschs zu ihm sprach. Das Moment von Vorenthaltung, das in dem genialen Tetragramm JHWH deutlich wurde, entspricht einem Bilderverbot für das Wort. Erich Fromm übersetzt das mit: „Mein Name ist Namenlos“. Ist hier schon die Lizenz für das folgende Regiment eines göttlichen Textes erteilt? In Anspielung auf die sublime Formulierung Freuds formuliert Assmann. “Die Torah ersetzt die Bilder, macht sie überflüssig. Wo Bild war, soll Torah werden. Wo Bild ist, kann Torah nicht sein.“

Aber Vorsicht! Der Status der Tora ist ein anderer als der des Gottesnamens JHWH. Dieser ist ohne das Moment der Vorenthaltung nicht zu haben, also im emphatischen Sinn überhaupt nicht zu “haben“. Wie aber steht es mit der Tora?  Nur weil JHWH ihr Verfasser ist, gewinnt der Text sakrale Qualität. Die göttliche Autorschaft hat er mit dem Koran und dem Buch Mormon gemein.  Etwas Neues ist in die Religionsgeschichte eingetreten: Schrift als der Ort Gottes, Heilige Schrift. Der zornige Mann Mose hatte zwar die steinernen Tafeln, auf die der Finger Gottes von beiden Seiten geschrieben hatte, zerschmettert, aber Gott ist der Souverän. Er will sich offenbaren, daher muss Mose am Ende unseres Konkurrenzdramas sie nach Diktat noch einmal neu schreiben, Mose, das Werkzeug Gottes. Die Schrift hat gesiegt. In der Folge treibt Israel Schriftkult.

Israel kann sich leicht von allen Versuchen verabschieden, Gott ins Bild zu bannen, es hat in der Schrift das zunächst überlegene Substitutionsmedium gefunden. Zwar ist in ihm immer schon jenes Moment von Abwesenheit enthalten, Buchstaben sind niemals das, was sie bedeuten, aber es bleibt sehr viel Positives. Israel erfreut sich fortan einer manifesten Objektivation des göttlichen Willens. Zwar weiß es nicht, wie Gott aussieht, aber es kann nachlesen, was er will. Der Umgang mit der Schrift wird zur Basis seiner Frömmigkeit. Das Volk der Kinder Israels wird daher zur Urheimat der Literalität. In der positiven Festlegung seiner Gesetze und Lebensregeln verliert sich allerdings die Spur der Vorenthaltung. Sieht man beim Dekalog vom ersten und zweiten Gebot, in dem sich der Verfasser zu erkennen gibt, ab, könnten die folgenden Gebote auch von Hammurabi, Solon oder sonst einem großen Gesetzgeber stammen. Hier sehen wir, dass die emphatische Simultaneität von Anwesenheit und Abwesenheit, wie sie im Tetragramm als unübersehbares Merkmal von Alterität zum Vorschein kommt, nicht umstandslos auf  alles Geschriebene übertragen werden kann. Es wäre albern, der Schrift generell die Qualität einer Alteritätsgarantie zuzusprechen, niemand wird ein Telefonbuch heiligsprechen.

Den zweiten, für die biblische Religion entscheidenden Medienwechsel vollzieht Jesus. Ein frommer Jude entdeckt, dass der Schriftbesitz für die Erkenntnis des göttlichen Willens nicht ausreicht. In seiner Auseinandersetzung mit der Schrift und ihren Anwälten, den Schriftgelehrten, setzt sich die biblische Aufklärung fort. Zunächst redet Jesus selbst wie ein Schriftgelehrter. Kein Jota soll von „Gesetz und Propheten“ weggenommen werden, (Mt 5,18) aber die Schrift verbürgt  nicht (mehr) umstandslos  den Willen Gottes denn: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht ihn das Himmelreich kommen.“(Mt 5,20) Jesus entdeckt den Hiat zwischen der heiligen Schrift und dem wirklichen Willen eines Gottes, mit dem er sich eins weiss : „Ich und der Vater sind eins.“ (Joh 10,30) Dieser klaffende Hiat kann tödlich sein.  In Joh 8,3-11 „zerschreibt“ der Finger Gottes – nichts weniger ist für den Autor der Finger Jesu - das Gesetz, nach welchem die Ehebrecherin gesteinigt werden sollte. „Jesus aber  bückte sich und schrieb mit dem Finger auf die Erde.“ Das Gesetz hatte den Tod befohlen. „Der Buchstabe tötet“ wird es dann auch bei Paulus heißen (2Kor 3,6). Ein einziges Mal berichten die Evangelien davon, dass Jesus Schrift produziert. Bezeichnend ist, dass wir nicht erfahren was er schreibt, sondern nur dass er schreibt. Er schreibt an gegen das Gesetz, das die Steinigung befiehlt.

Arnold Schönberg, ein moderner Jude, lässt gegen Ende seines Opernfragments Mose, den Propheten der Schrift verzweifelt ausrufen: „ O Wort, du Wort, das mir fehlt“. Er hatte verstanden, dass das Bilderverbot auch für das Wort gelten muss. Das gesprochene Wort mag treffen und  sekundenlang alle Kraft besitzen, gerinnt es  im Buchstaben, sorgt schon die verrinnende Zeit dafür, dass es sich von seinem Ort entfernt und verselbstständigt. „O Wort, du Wort das mir fehlt…“ Gibt es ein Gottesmedium, das imstande wäre, die Schrift zu überbieten? Der Johannesprolog  führt es mit Emphase ein: Der Mensch selbst wird zum möglichen Ort Gottes ausgerufen. Der größte Text der Christenheit verkündet das Wort, das die Schrift überbietet: “Und das Wort ist Fleisch geworden“(Joh 1,14). Diese Formulierung markiert einen Qualitätssprung in der Religionsgeschichte.

Die junge Christenheit überschreibt jenes geniale Tetragramm, den einmaligen Namen des Einzigen, mit dem Namen Jesu, von dem der große Prolog spricht: „Allen gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben.“ In großer Sensibilität hält Israel bis heute das Tetragramm JHWH heilig. In der Rezitation wird der „Name“ ehrfürchtig durch „Adonai“ ersetzt. Die Christenheit hält dagegen das Fleisch gewordene Wort heilig. Der Ort Gottes ist lebendig geworden, zuerst im Christus, sodann in der Gemeinde, in der er weiterlebt. Paulus nennt die Gemeinde einen „Brief Christi“ (2Kor 3,3). Stärker noch ist das Sakrament, in dem sie sich mit Christus vereinigen will. Hier wird nichts weniger ausgerufen, als die Machtlosigkeit der Zeit, die sonst schlechterdings alles dem Vergehen übergibt. Das Christusgeschehen war mehr, als eine Episode von 33 Jahren. Nüchtern und medientheoretisch betrachtet, ist das Sakrament der Gegenwart Christi ebenso eine semantische Singularität wie das Tetragramm JHWH. Luther hat dies 1529 im berühmten Streitgespräch mit Zwingli zu Marburg verteidigt. Im Sakrament stehen wir vor dem zeichentheoretischen Sonderfall einer Koinzidenz von Zeichen und Bedeutung: das Sakrament ist das, was es bedeutet. Performanz in Potenz. Der katholische Gläubige glaubt, dass es nicht sein Glaube  ist, der aus der Hostie und dem Wein Leib und Blut Christi macht, denn der Glaube ist kein Werk. Gott wohnt nicht im Auge des Betrachters. Wieder leuchtet der Glutkern der biblischen Aufklärung: nicht selbstgemacht!

Auch die weiße Scheibe der Hostie ist ein Bild. Es ist das alteritäre Bild schlechthin. Was sieht der Gläubige, der anbetend seinen Blick auf die Hostie in der Monstranz richtet? Er sieht eine weiße Scheibe, er sieht, dass er nichts sieht. Diese Abwesenheit aber schlägt in Fülle um: omnitudo realitatis. In der Kommunion verleibt er sich sie ein.

In unserer Kulturgeschichte gibt es wenig, was sich mit den intellektuellen Rochaden der christlichen Mediengeschichte vergleichen lässt. Immer wieder finden sich Versuche, zum buchstäblichen Bilderverbot zurückzukehren. Die calvinistischen Bilderstürmer der Reformation waren keineswegs die ersten. Wo die Bilder faszinieren, stellt sich regelmäßig der Verdacht der Idolatrie ein. Wie kam es aber überhaupt zur Renaissance des Bildes im biblischen Monotheismus? Sie beginnt mit Jesus. Er selbst ruft sich zum Bild des Vaters aus: „Wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat.( Joh 12,45). In Gen 1,26 schon war der Schöpfer selbst als Bildner aufgetreten: „Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich…“ von Anfang an also konzipiert die Bibel den Menschen als möglichen Ort Gottes. Durch die Inkarnation erhält diese Möglichkeit eine neue Qualität. Ein neues Paradigma (Beispiel) wird mit dem Übergang vom Wort zum Fleisch eröffnet.

Für die Beurteilung der heftigen Streitigkeiten um das Bild im ersten Jahrtausend empfiehlt sich dringend eine Unterscheidung von präsentativen und narrativen Bildern. Letztere sind unproblematisch. Über Darstellungen, die etwa in den Katakomben, die biblischen Erzählungen illustrieren, hat sich keiner aufgeregt. Anders steht es mit präsentativen  Bildern. Sie wollen der Abwesenheit einer Person abhelfen. Wenn schon der Kaiser im alten Rom nicht überall im Reich präsent sein konnte, so doch seine Statuen und sein Bild auf Münzen. Vor dreidimensionalen Kultbildern scheute die Christenheit mit Blick auf die heidnischen Götterbilder zurück. Aber die berühmte enkaustische Christusikone des Katharinenklosters will in der Stilistik der ägyptischen Mumienportraits aus Fayum dem Betrachter das Gefühl vermitteln: Er schaut dich an. So hat er ausgesehen. Auch in den Legenden um König Abgar von Edessa und die Vera Ikon, das „wahre Bild Christi“ im Schweißtuch der Veronika, kommt ein starker Anspruch auf die Gegenwärtigkeit Jesu zum Ausdruck. Diese Legenden wollen, ebenso wie später das Turiner Leichentuch Christi, eine authentische materielle Verbindung zum historischen Jesus herstellen.

Das Konzil von Chalkedon 451 machte die Lehre von den zwei Naturen Jesu, der menschlichen und der göttlichen verbindlich. Könnte es ein Bild Christi geben, dass diesem Anspruch gerecht wird? Von Jesus dem Menschen könnte ein Portrait noch durchgehen. Wie aber steht es mit seiner göttlichen Natur? „Unvermischt und ungetrennt“ hatte es, wie zur Installation eines Mysteriums, geheißen. Zeitgleich mit der dogmatischen Entwicklung kommt es zu einem bemerkenswerten Stilwandel. Das mimetische Paradigma der antiken Bildnerei war auf Illusionierung aus. Zum Verwechseln ähnlich sollten Bilder sein, Portraits zumal. Die Unverwechselbarkeit Gottes, seine Alterität wäre sträflich preisgegeben, wenn die Bilder Christi aber auch die Bilder der Heiligen innerhalb des mimetischen Paradigmas verblieben wären. Zwar galt für die Christenheit nicht mehr die Tora, aber das zweite der Zehn Gebote war nicht vergessen. Im Stilwandel des nachantiken Ikonenparadigmas erkennen wir den Versuch, das Problem von Chalkedon zu lösen. Vorenthaltungen erscheinen im Bild. Die Illusionierungstechniken der mimetischen Malerei werden konsequent beiseite gelassen. Die neuen Stilmittel wollen bewusst verfremden. Sie wollen Alterität markieren. Faltenwurf, Haare und Barttracht werden zu Ornamenten, anatomische Richtigkeit spielt kaum eine Rolle. Es gibt keine Lichtführung, die eine Raumwirkung erzeugen könnte.  Gold, eigentlich keine Farbe, vielmehr Glanz der Kostbarkeit, beherrscht den Fond. Bemerkenswert ist auch die bewusst gesuchte Parallele zur Schrift. Ikonen werden „geschrieben“. Lukas, der Schreiber des Evangeliums, gilt als der erste Ikonenmaler, und es gilt die Vorschrift, dass auf jeder Ikone Schrift erscheinen muss. 

Diese Markierungen der Alterität in der Malerei hat erst die klassische Moderne wieder verstanden, die sich ebenfalls und abermals von den mimetischen Illusionierungskünsten  verabschiedete, wie man sie auf den Akademien lehrte. Man könnte von einer Renaissance der stilistischen Alteritätsmarkierung sprechen. Ernst Barlachs Skulpturen korrespondierenden unverhohlen mit romanischer Plastik. Dazwischen aber liegt jene andere, die große Renaissance der frühen Neuzeit, welche sich mit großer Begeisterung wieder dem mimetischen Paradigma der Antike zugewandt hatte und damit eine große Epoche der europäischen Kunst einleitete. Die Abkehr von den Alteritätsmarkierungen des Ikonenparadigmas hatte Gründe. Was als absichtvolle Verfremdung begonnen hatte, wurde damals als Stümperei belästert. „Plump und ungeschlacht“ war für den Renaissance-Maler Vasari (1550) die Kunst aus Byzanz. Anders wollen und Nicht-Können zu unterscheiden, hat man erst wieder zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem im faszinierten Blick auf die Stammeskunst der sogenannten „Primitiven“ gelernt. Prompt entstand die Legende, die Rückkehr zur Antike sei auch eine Rückkehr zum Heidentum. Das kann mit guten Gründen bestritten werden. Wie es mit der Religion und dem Glauben in dieser Epoche genau bestellt ist, hat Jörg Traeger eindrucksvoll dargestellt.

Eine der berühmtesten Skulpturen Michelangelos ist sein Moses in San Pietro in Vinculi. Mit fasziniertem Abscheu aber müsste ein konsequenter Anhänger des mosaischen Bilderverbots vor seiner Darstellung Gottvaters in den Fresken der Sixtinischen Kapelle stehen. Eine einzige Einladung zur Idolatrie! In der Tat muss die Frage beantwortet werden, wie die gemalten Ekstasen und Himmelsszenen süddeutscher Barockkirchen mit dem zweiten der 10 Gebote verträglich sind, an die sich die Christen doch ansonsten hielten.

Ars imitatur naturam, immer war es der Kunst um die Nachahmung der Natur gegangen, erstaunlicherweise galt dies auch innerhalb des Ikonenparadigmas. Hier galt es, nicht die sichtbare, sondern die unsichtbare Natur nachzuahmen. Die Wiedereroberung der Mimesis in der frühen Neuzeit ist alles andere als eine Rückkehr zum antiken Heidentum. Während sie die stilistischen Alteritätmarkierungen nicht mehr als solche erkannten und mit Unvermögen verwechselten, erschlossen die Renaissancekünstler und erst recht die Großen des Barockzeitalters neue und begeisternde Möglichkeiten, die Andersheit des Heiligen zum Vorschein zu bringen. Indem sie alle Möglichkeiten der Illusionierung aufboten und dabei sehr viel weiter kamen als die antiken Vorbilder, verlagerten sie die Alterität ins Sujet. Was zeigt uns ein barockes Gesamtkunstwerk aus Architektur, Fresko, Skulptur und Stuck? In perspektivischer Verkürzung und mit perfekter Anatomie, Körper, die nicht der Schwerkraft unterliegen, Martyrien, passagere Szenen, Übergänge von einem Leben in das andere, Visionen und Ekstasen. Eines aber vor allem zeigen uns die barocken Inszenierungen, sie zeigen uns das Zeigen. Wir sind im Zeitalter der intelligenten Malerei (Baxandall). Der Betrachter muss nämlich an seiner eigenen Illusionierung mitwirken. Das Kunststück einer gemalten Kuppel auf flacher Decke funktioniert nur, wenn der Betrachter zum Komplizen seiner eigenen Überlistung wird. Er muss mitspielen und den perspektivischen Punkt herausfinden. Dabei lernt er etwas über die Konstruktion der Wirklichkeiten.

Wir sind versucht, die Bildgeschichte des Monotheismus nach dem Muster zu verstehen, das Thomas S. Kuhn für die Naturwissenschaften vorgeschlagen hat. Sein „Paradigmenwechsel“ ist zwar inzwischen zu einer Art begrifflichem Alleskleber geworden, aber sei`s drum. Die Schrift  als erstes Gottesmedium der biblischen Aufklärung ist auf beispiellose Weise kulturprägend geblieben. Als Ort Gottes wollte sie Jesus nicht mehr unbesehen gelten lassen Er zeigte die Grenzen des Schriftparadigmas auf. Das umkämpfte Ikonenparadigma mit seinem Versuch, Markierungen der Vorenthaltung konstitutiv für die Sakralität der Bilder  werden zu lassen, fasziniert bis heute. Für den lateinischen Westen war es in der frühen Neuzeit nur noch primitiv. Gewiss ein Missverständnis, aber ein produktives, ohne das wir nicht die große Kunst der Renaissance- und Barockzeit besäßen. Das neue Paradigma öffnete die Tore zu einer ganz anderen Art der Alteritätsmarkierung, die nicht nur auf kein Stilmittel der antiken Mimesis verzichten musste, sondern auch neue Erfindungen machen konnte, die für Vasari eine Fortschrittsgeschichte der Kunst möglich machten. Da stimmte noch die Etymologie, Kunst kam von Können.

Guido Reni wurde in seiner Epoche für seine Spitzmarke, den „himmelnden Blick“, die nach oben verdrehten Augen, verehrt. Aber nach einer Blütezeit der Ekstasen, Visionen und der verzückten Gesten, waren irgendwann zur Goethezeit die Augen übersatt. Das Ende dieses Paradigmas wird durch Aby Warburgs Prägung von der „Pathosformel“ am besten bezeichnet. Wo die Verzückung zur formelhaften Choreographie wird, fängt sie an zu langweilen oder sie stößt ab und wird als Kitsch gesehen. Das auf den Rausch des Rokoko folgende Paradigma sucht Erhabenheit durch „edle Einfalt, stille Größe“ (Winckelmann). Hier breche ich ab, denn in der Folge wird die Halbwertszeit der Paradigmata immer kürzer. Die Pointe dieser Skizze einer  Abfolge wechselnder Paradigmata besteht in der Behauptung, dass dieser Wechsel nichts mit Säkularisierung zu tun hat. Diachron folgen die Paradigmata aufeinander und lösen sich ab. Synchron behalten alle Medien ihre schwankende Bedeutung. Kunst hat seit dem biblischen Bilderverbot mit Transgressionen des Normalen zu tun. Auf immer neue Weise markiert sie Alterität und versucht Spuren der Andersheit zu legen. Aufregend!

 

 


zum Seitenbeginn

 

blog comments powered by Disqus