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Eckhard Nordhofen

Auf der Spur des Singulars

Die Bitte im Vaterunser „Unser tägliches Brot gibt uns heute“ klingt seltsam tautologisch. Sie geht auf eine nicht ganz korrekte Übersetzung zurück. – Ein Beitrag zur Festschrift für den Theologen Linus Hauser

Profil ist ein Randphänomen, jedenfalls wenn man die Silhouette als metaphorischen Hintergrund wählt. In der Tat können die zahlreichen Bizarrerien, die der forschende Blick entdeckt, wenn er die blühenden Landschaften der Religiositäten inspiziert, auch die Unterschiede zu einem Religionsverständnis zum Vorschein bringen, das einem strengeren Konzept von fides et ratio folgt. Linus Hausers opus magnum, die dreibändige „Kritik der neomythischen Vernunft“, steht somit nicht außerhalb der seriösen systematischen Literatur, sie bildet vielmehr das Rahmenwerk, ohne das diese nicht als solche erkennbar wäre.

Das setzt allerdings eine klare Begrifflichkeit und eine wissenschafts- und erkenntnistheoretische Basis voraus. Andernfalls käme die Inspektion der kuriosen Religiositäten einem „rhapsodisch aufgelesenen“ (Kant) Kaleidoskop gleich. Dass wir beide, was Sprachlogik und insbesondere den Religionsbegriff angeht, Hermann Schrödter und insbesondere der Unterscheidung einer intensionalen bzw. extensionalen Betrachtungsweise viel verdanken, ist auch durch unsere gemeinsame Herausgeberschaft von Sammelbänden ersichtlich, die sich auf Hermann Schrödter beziehen.

Diese Unterscheidung erlaubt es, auch bestimmte Kernbegriffe des monotheistischen Narrativs besser zu verstehen. Hier sei zunächst einmal der Blick auf das Tetragramm JHWH gelenkt. Die Forschungen zu diesem „Gottesnamen“ nehmen bisweilen skurrile Formen an und könnten durchaus auch als Kandidaten für die Hausersche Sammlung gelten. Manfred Görg etwa umspinnt JHWH mit einem Hof von Kontingenzen. Das beginnt mit der Vermutung, es handele sich ursprünglich um ein Toponym, geht über in eine semantische Konnotation mit dem Begriff des „Wehens“, der die Brücke zu den „Wetter- und Sturmgöttern Ägyptens“ herstellt, die wieder mit der Vorstellung eines Vogels zu tun hätten oder in die Nachbarschaft des ägyptischen Hochgotts Amun gehörten, der durch eine auffliegende Gans repräsentiert werde oder in die des Wüstengottes Seth, der als greifartiges Fabelwesen verehrt wurde. Das wiederum eröffne die „Vogelperspektive“ und zu Amuletten des 10. Und 9. Jahrhunderts aus Südpalästina, die JHWH als „Herrn der Strauße“ darstellten. Als Beleg dient ein „eisenzeitliches Stück aus dem Jerusalemer Antikenhandel“, das einen Strauß mit einem flankierenden Zweig und einer Schlange in der Kralle zeigt (vgl. Manfred Görg, Das Bild Gottes im Alten Testament, in: Eckhard Leuschner, Mark R. Hesslinger, Hrsg., „Das Bild Gottes in Judentum, Christentum und Islam“, Petersberg, 2009, S. 20).

In der Tat haben „… die archäologischen und kulturgeschichtlichen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte … so viel Material an Objekten und Inschriften zutage fördern lassen…“ (ebenda, S. 19), dass Manfred Görg und der archäologisch-philologische Diskurs davon schwer beeindruckt sind. Das Material aus Zufallsfunden reizt dazu, mit anderem Material in kühner Assoziation und mit allerhand Konjekturen zu einem Bedeutungsnetz verknüpft zu werden, das, weil es eben auf Material bezogen ist, Anspruch auf empirische Seriosität macht. Einer strengeren erkenntnistheoretischen Prüfung kann das freilich nicht standhalten.

JHWH – eine doppelte Singularität

Alle noch so interessanten archäologischen Befunde kommen nicht an der Tatsache vorbei, dass, wie immer auch die Vorgeschichte mitsamt ihren metaphorischen und bildlichen Einkleidungen ausgesehen haben mag, am Ende eine sprachlogische Singularität steht. Der Ausdruck JHWH als Name, und als solcher ist er in Ex 3,15 eingeführt, ist in einem starken Sinn monotheistisch. Das griechische „monos“ bedeutet „eins und nur eins“ und unterscheidet sich von „hen“, der Eins als Anfang einer Zählung. Ein Name ist normalerweise dazu da, jemand oder etwas unterscheidbar zu machen. Diese Eigenschaft von Namen können wir zunächst im Hinblick auf den Umfang oder die Extension des Benannten betrachten. Wenn eine Person als Deutscher bezeichnet wird, ist noch nicht klar, dass wir z.B. Linus Hauser meinen, obwohl er zweifellos zur Menge aller Deutschen gehört. Wir könnten ihn einkreisen, ihn als Hessen oder Gießener bezeichnen, am Ende gar als Emsdettener, jedes Mal wäre der Umfang der Namensbezeichnung geschrumpft und der Inhalt der Aussage hätte zugenommen. Wir wüssten mehr über ihn. Am Ende ist die inhaltliche Füllung des Begriffs am stärksten, wenn nur noch der eigentliche Name, der diese eine und nur diese Person bezeichnet, übrigbleibt. Es gibt nur einen Linus Hauser. Solange kein zweiter auftaucht, leistet dieser Name, was er soll.

Nach diesem Beispiel verstehen wir besser, was es bedeutet, wenn die Aussage „Ich bin der Ich bin da“ als Name ausgerufen wird: „JHWH“. Wenn das pure Da-sein an nicht Bestimmtes mehr gebunden ist, fallen Extension und Intension des Ausdrucks zusammen. Das bedeutet, JHWH ist nirgendwo nicht, und er ist kein Ding in der Welt. Seine Existenz ist an keine empirischen Kontingenzen gefesselt. Wir stehen vor einer sprachlogischen Singularität, die gleichzeitig die ontologische Singularität zum Ausdruck bringt. Das ist die Pointe: Die Koinzidenz von Logik und Ontologie. Sie besteht darin, dass JHWH im Buch Genesis, in den Psalmen und spätestens nach dem Babylonischen Exil als der Schöpfer des Kosmos, als der Hintergrund des Seins angesehen wird. Im Bild gesprochen, als das positive Vorzeichen vor der Klammer, die die Welt bedeutet. Das Tetragramm bildet also durch seine formale Einmaligkeit den semiologischen Standard für die Darstellung der ontologischen Einmaligkeit des monotheistischen Gottes. Damit sind wir auf die singularistische Spur gesetzt.

Epiousion – ein hapax legomenon

Israel hat die Einmaligkeit von JHWH verstanden. Es nimmt den Namen Gottes nicht in den Mund. Wo er in den Texten auftaucht, wird er beim Rezitieren durch „Adonai“ oder „Elohim“ oder einen anderen Ausdruck ersetzt. Eine performative Heiligung durch Auslassung und Substitution. (E.E. Urbach, „The Sages“, I-II, Jerusalem 1979, S. 127, nennt weitere Ersatzausdrücke: Der Heilige, Der Höchste, Der Starke, Das Wort, Der Name).

Wenn ich nun das Vaterunsergebet auf singularistische, d.h. monotheistische Inhalte hin durchsehe, steht der Gottesname und seine Heiligung ganz am Anfang: „Geheiligt werde dein Name.“ Dass Jesus Gott, den Schöpfer, zuvor als seinen Vater anredet, ist sein Faszinosum. Dass er die Gottesnähe bis zur Identität ausdehnt, („Wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat“, Joh 12,45) skandalisiert und führt schließlich zu seiner Ermordung. Paulus vertieft diesen Gedanken in Röm 8,15: „Ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen macht, der Geist in dem wir rufen: Abba Vater! So bezeugt der Geist selber unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.“ Ähnlich in Galater 4, 6f. Dabei ist die Gotteskindschaft auf alle ausgeweitet, die er beten lehrt. Es heißt ja schließlich in der ausführlicheren Fassung bei Mt., 6,9-13: „Vater unser“. Zwei der drei Synoptiker bieten das „Gebet des Herrn“. Lukas 11,2-4 etwas knapper als Matthäus. Bei Markus, den beide sonst als Vorlage benutzt und ergänzt hatten, kommt es nicht vor. Also dürfte es aus einer zweiten gemeinsamen Quelle, vielleicht aus der sogenannten Logienquelle stammen, einer rekonstruierten Sammlung von Aussprüchen und Worten Jesu.

Eine philologisch sehr ausführliche Behandlung hat das Vaterunser durch Marc Philonenko erfahren, der eine kaum mehr überschaubare Literatur gründlich aufgearbeitet hat („Das Vaterunser“, deutsch mit einem Geleitwort von Martin Hengel, Göttingen, UTB, 2002) . Er sieht mit fast allen Autoren beide Fassungen als das Ergebnis einer Übersetzung aus dem Aramäischen ins Griechische an. An der Authentizität des Gebetes wird nicht gezweifelt. Besondere Aufmerksamkeit zieht für den monotheistischen Spurensucher, der nach Singularismen Ausschau hält, ein griechisches Wort auf sich, für das der „Pape“, das maßgebliche griechische Wörterbuch, nur zwei Belegstellen anführt, nämlich just die beiden Fassungen des Vaterunsers. Zudem ist „epiousion“ das einzige Adjektiv im Vaterunser. Es bezieht sich auf das Brot in der vierten Bitte. Wir treffen also auf ein hapax legomenon, einen Neologismus, der nur hier und sonst nirgends im Griechischen auftaucht. Für eine solche künstliche Neubildung musste es Gründe gegeben haben. Die übliche Übersetzung aber, die auch in der liturgischen Fassung für das persönliche und gemeinschaftliche Gebet in nahezu allen Sprachen und in allen christlichen Denominationen seit früher Zeit Verwendung findet, lautet, „unser tägliches Brot“. Was ist hier geschehen? Eine semantische Singularität ist buchstäblich alltäglich gemacht, d.h. ins Gegenteil verkehrt worden.

Das ist nur ein erster Eindruck, von dem man eigentlich nicht hoffen sollte, dass er sich bei genauerem Zusehen bestätigt. Das Gebirgsmassiv einer uralt- ehrwürdigen Gebetstradition wirft einen langen Schatten. Vielleicht dramatisiert auch nur der Eifer eines steilen Monotheisten ein Problem, das sich auch undramatisch lösen lässt?

Medienwechsel

Um den monotheistischen Blick nicht als ganz unsinnig und als Marotte hinzustellen, an dieser Stelle nur einige knappe Bemerkungen: Die Geschichte des Monotheismus ist auch eine Mediengeschichte. Ein Gott, der kein Ding in der Welt ist und eine eigene ontologische Klasse für sich bildet, erzeugt das Problem, wie man über etwas reden kann, das sich von allem anderen, worüber geredet werden kann, in einer so elementaren Weise unterscheidet. Vielleicht sollte man dieses Pensum, das den heißen Kern aller monotheistischen Ästhetik bildet, besser in die Frage kleiden, wie über JHWH nicht geschwiegen werden kann. Wer sich von Gott angesprochen weiß, der sucht nach Wegen, ihn einerseits präsent zu machen, ihn andererseits vor der Verwechslung mit einer kontingenten Singularität in der Welt zu sichern.

Als eine Parallelaktion zu den Schöpfungserzählungen kennt das monotheistische Narrativ den schreibenden Finger Gottes (Ex 31,18). Zuerst hatte Gott gesprochen, dann hatte er geschrieben. In den Kapiteln 32-34 finden wir die Endredaktion eines großen Konkurrenzdramas zwischen dem traditionell polytheistischen dreidimensionalen Kultbild, dem goldenen Kalb, das der zornige Mose zu Staub zermalmt, den Staub in Wasser schüttet und das Götzengemisch den Israeliten zu trinken gibt, und der großen Alternative, dem, was der Finger Gottes auf steinerne Tafeln geschrieben hatte (Ex 32,20). Von ihnen, den Kindern Israels, genauer von ihren Ohrringen, die Aaron eingeschmolzen hatte, war das Götzenbild genommen, und in sie sollte es nun zurückkehren. Dass die Götter selbstgemacht sind, ist ein Topos der alttestamentlichen Polemik gegen Kultbilder. Dass Gott weder in der materiellen Gestalt eines Kultbildes noch in geistiger Hinsicht ein menschliches Produkt sein kann, stellt den Kerngedanken der biblischen Aufklärung dar. Nach seiner Lehr-Performance darf Mose neue Tafeln zurechthauen, auf die Gott abermals schreibt: Die Schrift hatte gesiegt. Sie war als das neue Gottesmedium installiert.

Da es in der Religionsgeschichte der Menschheit noch nie vorgekommen ist, dass Kulte ersatzlos verschwinden, wird die Idolatrie der Kultbilder durch einen Schriftkult ersetzt, den ich analog „Grapholatrie“ nenne. Frits Staal vertritt die extreme These, dass die doktrinalen Inhalte von Kulten austauschbar seien, während diese sich durchhalten. („The Meaningless of Ritual“. In: Numen 26, 1, 1979, 2-22). Die Heilige Schrift, das neue Gottesmedium, hat gegenüber den Kultbildern den entscheidenden Vorteil, dass die Re-Präsentanz nicht in fiktive Präsenz umschlagen kann. Kultbilder verführen dazu, sie mit dem zu verwechseln, was sie doch nur vertreten sollen. Mundöffnungsrituale in Mesopotamien und Ägypten beseelen die Artefakte und laden sie spirituell auf (Angelika Berlejung, „Theologie der Bilder“. Herstellung und Einweihung von Kultbildern in Mesopotamien und die alttestamentliche Bildpolemik. Freiburg, Schweiz,1998). Die Schrift dagegen ist das Medium der Differenz. Nie kann sie mit dem verwechselt werden, was sie darstellt. Die Entstehung des Monotheismus mit einer Gottesvorstellung, in der Offenbarung und Vorenthaltung untrennbar verbunden sind, ist ohne den Medienwechsel vom Kultbild zur Kultschrift nicht denkbar.

Mit Jesus kommt es zu einem zweiten Medienwechsel, genauer, zu einer Überbietung. Jesus will mehr, als die Schrift kann. Am Anfang der Bergpredigt bekennt er sich zur Tora (Mt 5,19 ); kein Jota soll weggenommen werden von Gesetz und Propheten. Dann aber folgt die entscheidende Überbietung: „Wenn aber eure Gerechtigkeit nicht größer ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ In Joh 8 kommt es wieder zu einer Lehr-Performance. Diesmal ist es der Finger Jesu, der schreibt. Es ist die einzige Stelle im gesamten NT, wo Jesus schreibt. Die Schriftgelehrten hatten eine ertappte Ehebrecherin präsentiert. Jesu Verhältnis zur Heiligen Schrift, welche hier die Steinigung vorschrieb, sollte geklärt werden. Als Antwort schreibt er mit dem Finger auf den Boden des Tempelhofs. Da wir nicht erfahren, was er schrieb, muss es dem Verfasser darauf angekommen sein, dass er schrieb. Der zweimal schreibende Finger rahmt den berühmten Satz ein „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie“, mit dem Jesus die Frau rettet.

Der Johannesprolog bringt den zweiten Medienwechsel vom Konzept einer Heiligen Schrift als Ort Gottes zum einem neuen Konzept, bei dem der Mensch zum Ort Gottes wird, auf die geniale Formel „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns sein Zelt aufgeschlagen“ (Joh 1,14) Im selben Prolog wird dieser Inkarnationsgedanke von Jesus, der „Kunde gebracht hat“ (Joh 1,19) auf alle übertragen, „… die aus Gott geboren sind“ und „an seinen Namen glauben.“

Es entsteht das Problem der 33 Jahre. Älter ist Jesus nicht geworden. Wenn sein Auftreten nicht eine bloße Episode gewesen sein soll, wie das die Emmausjünger zunächst befürchteten, musste ein Weg gefunden werden, der sein Bleiben ermöglichte. Jesus selbst hatte ihn mit seiner Installation der Eucharistie gewiesen, indem er die Exodustradition der Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten, an die sich Israel beim alljährlichen Pessachfest rituell erinnerte aufrief, um sie semantisch neu und kaum überbietbar zu besetzen: „Das ist mein Leib“. Das ungesäuerte Brot, von dem er das aussagt, und auch das vom Himmel gefallene Wüstenbrot Manna ist damit zu einem mehrfach überschriebenen Zeichen geworden. Auch das Manna, das andere Brot der Exodus-Erzählung, gehört zu diesen Überschreibungen. Vom Brot als Sinnträger ist in den Evangelien öfter (Brotvermehrung etc.) die Rede.

Brot vom Himmel

Betrachten wir zunächst das ungesäuerte Brot. Es bildet im 12. Kapitel des Buches Exodus, in dem der eigentliche Auszug geschildert wird, das auffälligste Motiv. Siebenmal wird in Form einer göttlichen Vorschrift verboten, Gesäuertes zu essen, während sieben Tagen und an einem „Fest der ungesäuerten Brote, denn gerade an diesem Tage habe ich eure Scharen aus Ägypten herausgeführt“ (12,17).

Hier findet sich also eine erste Semantisierung. Dem Brot wird ein Fest gewidmet und es wird zum Zeichen der Befreiung erklärt. Die Zeitverhältnisse folgen keiner Erzähllogik, sie gehen auf die redaktionelle Schichtung zurück, die hier nicht näher untersucht werden muss. Es folgen die rituellen Vorschriften, wie das Pessachfest zu feiern sei. Erst danach wird der eigentliche Auszug geschildert. In Vers 34 heißt es dann: „Das Volk nahm den Brotteig ungesäuert mit; sie wickelten ihre Backschüsseln in Kleider ein und luden sie sich auf die Schultern“ und in Ex 12,39 schließlich: „Aus dem Teig, den sie aus Ägypten mitgebracht hatten, backten sie ungesäuerte Brotfladen, denn der Teig war nicht durchsäuert, weil sie aus Ägypten verjagt worden waren und nicht einmal Zeit hatten, für Reisverpflegung zu sorgen“.

Diese Aitiologie der hastigen Flucht konkurriert zunächst mit der siebenmal wiederholten göttlichen Vorschrift. Wenn wir die Zeitverhältnisse ordnen, kommen wir zu dem Ergebnis, dass der kontingente Umstand, dass eine hastige Flucht, wie überhaupt ein Zug durch die Wüste, es nicht erlaubte, normales, alltägliches Brot, das durch die Fermentation mit Sauerteig locker und würzig wird, herzustellen. So wird ungesäuertes Brot zunächst durch das Erlebnis des Exodus mit Bedeutung versehen. Eigentlich fehlt dem Brot etwas. Aber das Wüstenbrot wird zum Brot der Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten. Diese fast triviale semantische Besetzung wird durch die göttliche Vorschrift verstärkt, so dass auch alle künftigen Generationen, die keine eigene Erinnerung an den Exodus haben, um die Bedeutung des ungesäuerten Brotes wissen. Das Brot, dem etwas fehlt, ist mit einem göttlichen Index versehen worden, einer Alteritätsmarkierung.

Zur Exoduserzählung gehört auch die doppelte Wundergeschichte vom Manna, dem „vom Himmel fallenden Brot“, mit dem Gott das hungernde Volk in der Wüste speist (Ex 16,15f). Es war kein gewöhnliches Brot, sondern „etwas Feines, Knuspriges“, das die Israeliten nicht kannten. Aber Mose spricht: „Das ist das Brot, das der Herr euch zu essen gibt.“

Das allein ist schon ein Wunder. Es soll aber noch ein zweites folgen. Deshalb erfahren wir: Manna ist nicht haltbar. Es verfault schnell und muss daher täglich vom Himmel fallen und täglich gesammelt werden. Wunderbarerweise verdirbt es am Tag vor dem Sabbat nicht, und das Volk kann die doppelte Ration sammeln. So wird das himmlische Brot mit dem Moment der Täglichkeit konnotiert. Diese Täglichkeit verdankt sich der Verderblichkeit. Ohne sie wäre es nicht zum Zusatzwunder gekommen, das den Sabbat einzuhalten erlaubt und ihn damit bekräftigt. Die Erzähllogik dieses Zusatzwunders macht also aus dem himmlischen Brot sekundär ein tägliches. Es rettet das Volk, stillt den Hunger, befriedigt das lebenserhaltende Grundbedürfnis des Menschen. Eine folgenreiche Doppelcodierung.

Epiousion – Speise für das ewige Leben

Zurück zum Vaterunser und seinem „täglichen Brot“. Zunächst hatte uns beschäftigt, dass das zum Brot der vierten Bitte gehörige Adjektiv ein hapax legomenon ist. Dieser Neologismus enthält schon, ohne dass wir ihn überhaupt übersetzt haben, eine illokutionäre Botschaft: Es muss etwas Einzigartiges sein, das dieses Brot auszeichnet, denn auch das Adjektiv, das es qualifiziert, ist einzig. Wie beim Tetragramm JHWH entspricht der formale Singularismus dem singulären Inhalt. Es liegt nahe, es mit dem Brot in Verbindung zu bringen, von dem Jesus beim Mahl mit den Zwölfen sagt: „Das ist mein Leib.“

Jesus ist der Fleisch gewordene Singular. Über das Fleisch gewordene Wort, das „im Anfang“ war und „unter uns sein Zelt aufgeschlagen hat“ (Joh 1,14), ist in zweitausend Jahren so viel nachgedacht und geschrieben worden, dass ich es hier bei einem allerdings stark unterstrichenen Hinweis belasse. Die Einzigkeit Jesu ist der Kern der Christologie.

Können wir unterstellen, dass Jesus bei dem Gebet, das er die Seinen lehrte, sein Ende kommen sah? Die Evangelien sind voll von Vorverweisen. Was spricht dagegen, dass er das Brot bei seiner Formulierung des Vaterunsers schon als das Medium im Sinn hatte, das seine Lebenszeit überdauern sollte, das Brot für die Zeit danach, wenn das Zelt wieder abgeschlagen sein würde (Joh 1,14)? Wenn Exegeten darüber diskutieren, ob die Verbindung des Brotes der vierten Bitte mit der späteren Gegenwart Christi im eucharistischen Brot nicht eher auf das Konto der Evangelisten gehe, welche die eucharistische Praxis rückprojizierten, wäre das Ergebnis dasselbe. Die Frage, auf die es ankommt, lautet: Legt sich eine solche Verbindung nahe oder nicht? Am deutlichsten wird sie in der großen Brotrede in Kapharnaum, Joh 6, 22-59, beantwortet. Die Menge bittet um ein Zeichen und erinnert an das Mannawunder.

„Jesus sagte zu ihnen: Amen, amen, ich sage euch: Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel. Denn das Brot, das Gott gibt, kommt vom Himmel herab und gibt der Welt das Leben. Da baten sie ihn: Herr gib uns immer dieses Brot. Jesus antwortete ihnen: Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern...“, Joh 6, 32-35.

Mehrfach identifiziert sich Jesus im folgenden Text mit dem himmlischen Brot: 6, 41: „Die Juden murrten, weil er gesagt hatte: Ich bin das Brot, das vom Himmel herabgekommen ist.“ 6,48ff: „Ich bin das Brot des Lebens. Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind gestorben. So aber ist es mit dem Brot, das vom Himmel herabkommt: Wenn jemand davon isst, wird er nicht sterben. Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben.“

Wir könnten die entscheidende Frage sogar ohne diese starken Passagen beantworten, und das liegt an der Bedeutung von „epiousion“, die wir nun endlich klären müssen. Dieses Wort ist zwar einmalig, es setzt sich jedoch aus zwei Bestandteilen zusammen, die alles andere als einmalig sind. Es handelt sich um die Präposition „epi“ (darauf/darüber) und das Substantiv „ousia“. Beide sind sehr geläufig, sind aber bis dahin noch nie miteinander in Verbindung gebracht worden. „Epi“ kann in seinen vielen Kombinationen und Kontexten natürlich auch vielerlei bedeuten, auch „ousia“ ist ebenso variantenreich. Hier hilft ein Blick in die lateinischen Übersetzungen des griechischen NT. Die wichtigste und von ihrer Wirkungsgeschichte her bedeutendste ist die Vulgata. Sie ist die große Leistung des Kirchenvaters Hieronymus.

Wie ist er mit „epiousion“ verfahren? Er übersetzt sehr genau. Auch den so wichtigen Umstand, dass es sich um einen Neologismus handelt, transportiert er in seine Zielsprache, das Lateinische. Er übersetzt „epiousion“ mit „supersubstantialem“. Auch diese Kombination von „super“ und „substantialis“ kommt im Lateinischen sonst nicht vor. Und ebenso wie im Griechischen sind die beiden Wortbestandteile sehr geläufig. „Ousia“ wird meist mit „substantia“ übersetzt.

Eine besonders interessante Deutung das Begriffs „ousia“, der im Deutschen meist mit „Wesen“ wiedergegeben wird, liefert Aristoteles mit seiner künstlich wirkenden Bildung: To ti ?n einai, „Das was-es-war-Sein“ (Erwin Sonderegger, „Die Bildung des Ausdrucks to ti en einai durch Aristoteles“, Archiv für Geschichte der Philosophie 65, 1983, S. 18-39). Sie liegt auch der lateinischen Entsprechung „substantia“ zugrunde, auf die Hieronymus zurückgreift. Damit meint er, dass das, was etwas ist, sein eigentliches Wesen, oft durch das bestimmt wird, was es (einmal) war. Das Wesen einer Sache erkennt man dann nicht an den Akzidentien, den oberflächlichen, sichtbaren Merkmalen, sondern an ihrer Geschichte, die „darunterliegt“. So auch bei „substantia“, wörtlich: „Das darunter Stehende/Liegende“. Ein Vorverweis auf die Deutung der Eucharistie als einen unsichtbaren Übergang von einer gewöhnlichen „substantia“ in eine außergewöhnliche und singuläre beim heiligen Thomas kann hier nicht unterdrückt werden, nicht nur, weil er Aristoteles rezipiert hat, sondern auch weil er sich mit seiner Prägung von der „transsubstantiatio“ in die Tradition von Neologismen stellt und damit die singularistische Spur fortsetzt.

Mit Blick auf „supersubstantialem“ käme als deutsche Entsprechung „überwesentlich“ in Frage. Wie das griechische Original und die Vulagata-Übersetzung hätte diese ungewöhnliche Wendung den Neologismus-Effekt einigermaßen transportiert.

Bleibt die Frage, wie aus „epiousion“ „tägliches“ werden konnte. Ist es wirklich eine Verkehrung des nicht-Alltäglichen ins Gegenteil? In der geläufigen Deutung der meisten Beter besteht zumindest diese Gefahr. Sie haben bei der Bitte um das tägliche Brot das elementare Lebensmittel im Auge, das den physischen Hunger stillt. Aber ist das denn nicht auch im Sinne Jesu? In Mt 25,35 stellt er die Speisung der Hungernden immerhin an die Spitze der Werke der Barmherzigkeit, nach denen der himmlische Richter am Ende fragen wird. „…denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben.“ Schauen wir genau hin. Hilft dieser Querblick für das Verständnis der Brotbitte im Vaterunser? Wem gilt sie denn? Wer sie im Sinne eines physischen Sattmachers versteht, hat eigentlich nicht einen Hungrigen im Sinn, den er speisen will, das wäre in der Tat ein Werk der Barmherzigkeit. Er bittet vielmehr für sich selbst und die, die mit ihm beten - eine durchaus verständliche Bitte. Warum sollte man den Vater nicht um sein Essen bitten?

Da müssen wir an die unübersehbare Schar von Betern denken, die im Laufe der Jahrhunderte etwa bei Hungersnöten und Missernten, um das tägliche Brot baten. Hungersnöte gibt es ja immer noch, nicht bei uns, aber in Afrika und anderswo. Da stehen wir vor einer großen Frage. Vielleicht ist sie sogar zu groß: Warum hat Gott den am Ende doch Verhungerten trotz ihres verzweifelten Gebets um das tägliche Brot nicht geholfen? In solchen Situationen kann die Brotbitte die Dimension des Theodizeeproblems erreichen. Da wird es ernst! Johann Baptist Metz plädiert für „Theodizeeempfindlichkeit“. Intellektuell glatte Lösungen à la Leibniz, der von der „besten aller möglichen Welten“ gesprochen hat, sind da nicht mehr zugelassen: Für den Philosophen musste die Welt mit all ihrem Hunger und Leid so sein, wie sie war. Gott wusste schon, wofür alles - bonum durch malum – gut ist. Nur wir wissen es (noch) nicht. Aber woher weiß Leibniz um dieses Arrangement? Georg Büchner spricht von der Theodizeefrage als vom „Fels des Atheismus“ (Dantons Tod, Kap.15). Auschwitz war für Metz der Anlass, die Theodizeefrage wachzuhalten. Für den industriellen Mord an Juden, Sinti und Roma waren zuerst einmal (Un)Menschen verantwortlich, Gott erst mittelbar als der, der ihnen nicht in den Arm gefallen war. Kann nicht einer, der verhungert, obwohl er Gott um sein tägliches Brot gebeten hatte, den Weltenlenker unmittelbar für Dürre und Missernte verantwortlich machen? „Gott, wo bleibst du? Jesus, du hast mich selbst angehalten, um mein tägliches Brot zu bitten, warum bekomme ich es nicht?“ Sonst haben sich die Menschen ihre Bittgebete selbst ausgedacht, je nach ihren Sehnsüchten und Bedürfnissen. Ob sie erfüllt würden, hing ganz davon ab, ob sie mit dem Willen des Vaters übereinstimmten. Dessen konnten sie aber diesmal doch eigentlich sicher sein. Folgten sie nicht einer ausdrücklichen Anweisung Jesu?

Das Drama der Gottverlassenheit hat auch im Leben Jesu einen sehr prominenten Ort. Jesus betet am Kreuz den Psalm 22. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen…“ Der Psalm endet mit der Hoffnung auf Rettung und die Aufhebung der Trennung vom Vater. Im Vaterunser aber zielt die ganze Gedankenführung auf Gottesnähe und Gottes Gegenwart – das genaue Gegenteil. So wichtig die Theodizeefrage ist, hierher gehört sie nun wirklich nicht. Das ist ein weiterer starker Grund, die Brotbitte nicht als Bitte um leibliche Sättigung zu verstehen. Dies verschärft die Frage nach dem ursprünglichen Sinn.

Der ursprüngliche Sinn

Wenn man aber ernst nimmt, was Jesus im Vaterunser wirklich gemeint hat, legt sich die Lesart nahe, dass er mit „epiousion“ das „überwesentliche“ Brot gemeint hat, das Brot, das vom Himmel herabkommt. Dies geht überdeutlich aus der Johanneischen Brotrede, 6,27 ff, hervor. Hier bezieht er sich auf die Quelle des Täglichkeitsmotivs, das Mannawunder, das der leiblichen Sättigung gedient hatte, um es zu überbieten. Er spielt an auf die schnelle Verderblichkeit des Manna: „Müht euch nicht ab für Speise, die verdirbt, sondern für die Speise, die für das ewige Leben bleibt und die der Menschensohn euch geben wird.“ 6,27. Mit dieser Speise identifiziert er sich: „Ich bin das Brot des Lebens, wer zu mir kommt, wird nicht mehr hungern.“ (Joh 6,35)

Auch die Gedankenführung des Vaterunsers unterstützt diese Deutung. Sie beginnt beim Vater im Himmel und seinem heiligen Namen, bittet um das Kommen des Gottesreiches „wie im Himmel, so auf Erden“. In diese Bewegung vom Himmel zur Erde fügt sich dann auch die vierte Bitte um das himmlische Brot.

Gegen das „tägliche Brot“ als Übersetzung von „epiousion“ spricht auch die unerträgliche Tautologie, als welche sie in der Lukas-Version überdeutlich zum Vorschein käme, bliebe es bei dieser Lesart. Dort heißt es: „Ton arton ton epiousion didou hemin kath hemeran.“ Die Interlinearübersetzung bei Nestle/Aland macht die Tautologie deutlich, wo es heißt: „Unser tägliches Brot gib uns täglich“. Auch das „semeron“ (heute) bei Mt überschneidet sich mit dem Wortfeld von „täglich“ und wäre nahezu ohne Sinnverlust entbehrlich, wenn denn „epiousion“ ebenfalls „täglich“ heißen soll.

Da bei beiden Synoptikern das Täglichkeitsmotiv vorkommt, "semeron" bei Mt und "kath hemeran" bei Lk, ist anzunehmen, dass auch im aramäischen Original dafür eine Enstprechung existierte. Jesus hat das doppelt codierte, also das himmlische und tägliche Brot gemeint, von dem im Mannawunder die Rede ist. Von dort bezieht er das Motiv der Täglichkeit. Es hatte immerhin den physischen Hunger der Israeliten gestillt. „Täglich“ ist, wie wir mit Blick auf die Erzähllogik des Doppelwunders gesehen haben, sekundär. Dies macht die Überbietung Jesu in seiner Brotrede vollends deutlich. Es geht nicht um eine „Speise, die verdirbt“, sondern um „Speise für das ewige Leben“.

Um eine triviale Deutung im Sinne der physischen Nahrung auszuschließen und seine Überbietung der Speise, die verdirbt, zu sichern und zu unterstreichen, greift er zum starken Mittel des Hapax legomenon „epiousion“, das sowohl bei Mk. als auch bei Lk die Täglichkeit als eine himmlische qualifiziert. So ist die ehrwürdige, von allen Denominationen bis heute gebetete Version des Gebets „unser tägliches Brot“ nicht einfach falsch. Sie wäre allerdings lückenhaft und hätte den Sinn einschneidend verkürzt.

Warum die ältere lateinische Übersetzung, die sog. Vetus latina, schon im zweiten Jahrhundert die verkürzende Übersetzung „panem nostrum cotidianum“, „unser tägliches Brot“ bietet, wissen wir nicht genau. Zwei mögliche Erklärungen sind zunächst denkbar. Die erste liefert ein Blick auf den „Sitz im Leben“. Bei Lukas (11,1) wird das Gebet eingeleitet durch die Bitte eines Jüngers: „Herr lehre uns beten, wie schon Johannes seine Jünger beten gelehrt hat.“

Philonenko schließt sich der Meinung von J. Jeremias an, dass die Jünger von Jesus ein Gebet erwarteten, das „in der Lage wäre, sie um ihn zu sammeln“, denn auch Johannes habe die, die sich auf ihn beriefen, ein besonderes Gebet gelehrt. Die Bitte der Jünger zeige deren Willen, „durch ein eigenes Gebet eine unabhängige Gemeinschaft zu werden.“ (Philonenko, a.a.O., S.11) Als dieses Gemeinschaft stiftende Gebet hatte das Vaterunser von Anfang an in der gemeinschaftlichen Eucharistiefeier den Platz, den es bis heute behalten hat. In ihr vereinigen sich die beiden Exodus-Brotmotive, das ungesäuerte Brot und das Manna. In der Johanneischen Brotrede überbietet Jesus nicht nur das verderbliche Manna, er bezeichnet sich vielmehr als das „lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist“. Beim Mahl mit den Zwölfen heißt es analog vom Pessach-Brot: „Das ist mein Leib.“

Das Gebet leitet nach dem Hochgebet den Empfang des ungesäuerten und transsubstantiierten Brotes ein. Wer auf Griechisch „epiousion“ oder in der genauen Übersetzung, die wir bei Hieronymus antreffen, „panem nostrum supersubstantialem“ gebetet hatte, dessen Wunsch wurde anschließend erfüllt, indem er den Leib des Herrn empfing. Natürlich trennen Hieronymus und Thomas von Aquin ein paar Jährchen. Aber es ist ein in sich stimmiger Gedanke, dass das Brot mit dem Prädikat „supersubstantialis“ zuvor die Verwandlung einer „Transsubstantiatio“ durchlaufen haben muss.

Andererseits ist nur allzu gut verständlich, dass bei der herausragenden Bedeutung, die „das Gebet, das Jesus uns selbst zu beten gelehrt hat“ für alle Christen hat, es bei diesem einen „Sitz im Leben“ nicht bleiben konnte. Es wurde zu einem Gebet in allen Lebenslagen. Wenn nun die Gebetspraxis aus der Messe ausgewandert war, so dass das Vaterunser gebetet wurde, ohne dass das himmlische Brot, der Leib Christi, auch anschließend empfangen wurde, wollten die Verfasser der Vetus latina womöglich dieser Praxis aus pastoralen Gründen Rechnung tragen und fielen angesichts der Doppelcodierung von „himmlisch“ und „täglich“ auf die Bedeutung „täglich“ zurück, die am Ort ihrer Entstehung und erst recht in der darauf bezogenen Manna-Rede Jesu (Joh 6,27 ) mit Verderblichkeit konnotiert wurde. Immerhin blieb so das Gebet auch ohne anschließenden Kommunionempfang verständlich.

Aber um welchen Preis? Die Überbietung des Mannabrotes durch Jesus in der Johanneischen Brotrede wurde dabei beiseite gesetzt : „Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind gestorben ... Ich bin das lebendige Brot, das vom Himmel herabgekommen ist. Wer von diesem Brot isst, wird in Ewigkeit leben.“ (Joh 6, 48ff) Der ursprüngliche Sinn der vierten Bitte wurde somit verändert.

Indem die christliche Gemeinde behauptet und glaubt, dass das eucharistische Brot, das auch ist, was es bedeutet, der Leib Christi, stellt sie zeichentheoretisch dieses Mysterium in die Reihe der monotheistischen Singularitäten. Maßstäblich war schon JHWH eine gleichzeitig sprachlogische und ontologische Singulariät. Die illokutionäre Botschaft von „epiousion“ als hapax legomenon setzt diese Tradition fort. Das ontologisch Singuläre, der Leib Christi, wird durch etwas formal Singuläres herausgestellt.

„Unser himmlisches Brot gib uns heute“

Bleibt die Frage, warum Jesus, der doch das Täglichkeitsmotiv im Sinne physischer Nahrung und ihrer Verderblichkeit ausdrücklich zurückweist, es dann überhaupt erwähnt? Bei Lk heißt es „kat hemeran“, „jeden Tag“, bei Mt „semeron“, „heute“.

Auf die Lösung dieser Frage bringt uns die dritte Bitte des Vaterunsers: Dein Wille geschehe“. Und diese dritte Bitte liegt in der Konsequenz der zweiten. Dein Reich komme“. Wenn das Reich Gottes kommen soll, muss nicht nur im Himmel, sondern auch auf Erden sein Wille geschehen. Die dritte Bitte präzisiert also die zweite. Angesichts dieser so bündigen Gedankenführung kann es nicht überraschen, dass die vierte Bitte sich auch aus der dritten ergibt: Wer betet, dass der Wille Gottes geschehe, für den liegt in der Logik dieser Bitte die Frage: Und was ist denn nun der Wille Gottes? Wie kann ich ihn erfahren? Die Antwort liegt im Medienwechsel von der Schrift als Ort Gottes zur Inkarnation. Wer als Schriftgelehrter meint, den Willen Gottes in der Schrift einfach nachschlagen zu können, …Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen(Joh 8,5) der wird von Jesus eines anderen belehrt. Schrift kann sich verselbständigen und veralten. Eine Sinnzuweisung, die sich in Schrift objektiviert hat, kann niemals die Präzisionsanforderung einer Situation so genau erfüllen, wie eine Sinngebung, die im vollen Präsenz steht. Die Chance absoluter Gegenwärtigkeit erhält nur ein Mensch, der sich der Gegenwart Gottes versichert hat. Daher braucht der lebendige Mensch als möglicher Ort Gottes dessen Gegenwart jeden Tag neu. Er braucht sie täglich. Er braucht täglich das überwesentliche, das himmlische Brot. Wenn Jesus sich selbst als dieses Brot bezeichnet, ist für den, der ihm folgt und sich dieses Brot einverleibt, die Gegenwart Gottes und damit die Beantwortung der Frage nach dem Willen Gottes möglich. Gott auf diesem Wege zu verinnerlichen, führt auf den Gipfel des Inkarnationsgedankens: „Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden…“(Joh 1, 12).

Diese in die äußerste Konsequenz getriebene Gottesnähe geht freilich ein hohes Risiko. Wer auf dem Gipfel steht, blickt in den Abgrund. „Ihr werdet sein wie Gott.“ Wer war das noch gleich, der dieses lügnerische Versprechen gegeben hatte?

Die gefühlte Gottesnähe des Beters, der sich als Kind an den himmlischen Vater wendet, darf nicht zur Usurpation einladen. Gegen diesen Absturz sichern die folgenden Bitten des Vaterunsers. Die Bitte um die Vergebung der Schuld erinnert den Beter daran, dass er ein Sünder ist, sonst bedürfte er ja nicht der Vergebung. „Wer ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie“, hatte es in der Geschichte von der Errettung der Ehebrecherin geheißen. (Joh 8,7) Die Einsicht, dass ich ein Sünder bin, der auf Vergebung angewiesen ist, führt in der Konsequenz zur Vergebung der Schuld der anderen. Die Sünde ist der Differenzmarker, der vor der Versuchung der Usurpation schützt: „Führe uns nicht in Versuchung“. In der Erzählung von der Versuchung Jesu spricht der Versucher: „Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl diesem Stein zu Brot zu werden“ (Lk 4, 3). In der siebten Bitte des Vaterunsers ist das Absturzrisiko der Gottesnähe direkt angesprochen.

Am Ende des Gebets steht der Ausblick auf die völlige Befreiung vom Bösen.

Das Gebet Jesu hat eine in sich schlüssige, klare Gedankenführung, bei der sich jede Bitte aus der vorigen ergibt. Für die hier vorgeschlagene Interpretation der vierten Bitte spricht auch, dass sie den Gedankensprung behebt, der sich bei der Bitte um das tägliche Brot im Sinne der Nahrungsgarantie ergibt.



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