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Das große Gegenüber und seine Konkurrenten

Eckhard Nordhofen: Zur Differenz zwischen usurpatorischem und privativem Monotheismus

Der folgende Vortrag wurde am 11. April 2019 auf Einladung von Professor Jan-Heiner Tück an der Universität Wien gehalten

Das große Gegenüber

Der Begriffspoet Peter Sloterdijk geizt nicht mit Worterfindungen. Alle kann man sie nicht behalten. Bei einer aber ging in mir ein Lämpchen an. Er vermisst im Zeitalter „nach Gott“– so sein Buchtitel – die „Vertikalspannung“ und wegen dieses Phantomschmerzes scheint ihm auch nicht endgültig ausgemacht, dass wir tatsächlich in einem solchen Zeitalter „nach Gott“ leben. In einem DLF-Interview kokettiert er ein wenig mit der Präposition „nach“. Statt für „post Deum“, könnte man sich auch für, „secundum Deum“ entscheiden.

So ein Changieren zwischen Frömmigkeit und Gottlosigkeit macht mir die Wahl leicht. Natürlich ist die Frömmigkeit, die „Gott gemäß“, secundum Deum leben will, meine erste Wahl. Die Gottlosigkeit aber lasse ich nicht ganz fallen, sondern lege sie auf „Wiedervorlage“ und visiere dabei eine sehr spezielle Variante an, eine Vorenthaltung Gottes, die vom Gottesbesitz und Gottesleugnung gleich weit entfernt ist.

„Vertikalspannung“ also. Ein Ausdruck mit einer zugleich altbekannten und hochmodischen Metaphorik. Was wird nicht alles als „total spannend“ angepriesen. Die Metapher unterstellt zwei Pole, einen oben und einen unten. „Ehre sei Gott in der Höhe“. Wenn feststeht, dass es den Pol in der Höhe nicht gibt, lebe ich in einer anderen, nämlich spannungslosen Welt. Das gilt auch für den Fall, dass der Pol nicht in der Höhe, sondern in der Tiefe gedacht wird.

Dass es ihn, wo auch immer gibt, macht einen Unterschied, dessen Bedeutung man nicht übertreiben kann. Es ist ein Unterschied ums Ganze. Was wäre das für eine Welt, die spannungslos nichts weiter wäre, als all das, „was der Fall ist“? Wittgensteins erster Satz des „Tractatus“, „Die Welt ist alles was der Fall ist“, ist deswegen so interessant, weil er in einem Gedankenexperiment genau eine solche spannungslose Welt bezeichnet, eine Welt ohne den zweiten Pol, eine Welt ohne Gegenüber In einem Brief an seinen Freund Engelmann erläutert Wittgenstein dieses inspirierende Experiment: Er habe die Küstenlinie einer Insel beschreiben wollen, nicht um der Insel, sondern dem Ozean eine Grenze zu geben. Diesem aber habe sein eigentliches Interesse gegolten. Am Ende ist auch für Ludwig Wittgenstein die Welt in der er und sein Freund Engelmann leben, mehr als „alles, was der Fall ist“. Auch sie fanden sich in einer nachparadiesischen Welt, in der es an Spannungen weiß Gott nicht fehlte.

Dieser Spannung erzeugende Pol, der mich auf Abstand zum Ist-Zustand bringt – gibt es ihn? Gibt es ihn nur in meinem Kopf? Und wenn es ihn nur in meinem Kopf gibt, gibt es ihn am Ende doch nicht wirklich? Was geschieht da, wenn das Gegenüber meines Kopfes diesem entsprungen ist? Ausdenken kann ich mir viel. Wenn Gott kein Wolpertinger, sondern angesichts einer Welt voller Risse und Schründe (Adorno) ein notwendiges Denkpostulat ist, fällt seine Wirklichkeit, die Wirklichkeit der Wirklichkeiten, in eine eigene Klasse. Was ist das für eine Wirklichkeit, die uns einen Blick wie von außerhalb möglich macht? Es ist die Wirklichkeit der Reflexion. In unserem Bewusstsein finden wir sie vor, denn wir sind kontrafaktisch begabt und leben in einem ungesättigten Weltverhältnis.

Die Tradition hat die Rede von diesem Spannung erzeugenden Pol wie einen Minus-Pol in der Elektrophysik mit dem Etikett: „negative Theologie“ versehen, weil er Abstand erzeugt. Nun haftet dem Negativen nahezu unvermeidlich die Konnotation an: negativ ist schlecht. Schmerz ist negativ. Ist aber jede Negation negativ? Im Falle der „negativen Theologie“, auf die wir bei der monotheistischen Gottesrede keinesfalls verzichten können, ist ihre Botschaft aber nicht nur nicht schlecht, sondern geradezu konstitutiv.

Die Dyas negativ-positiv folgt dem Gesetz der zweiwertigen Logik. Wer Negativität konzipiert, hat daher die Positivität schon mitgedacht. Das führt zu der Frage: Wo bitte, bleibt dann die positive Theologie? Oft genug wird in diese Variable der Positivität ein Offenbarungsgeschehen eingetragen.

Die Vorstellung von einer affirmativ positiven Offenbarung, die dann als Komplement eine „negative Theologie“ ergänzen und überbieten könnte, lässt sich allerdings nur mit einer fundamentalistischen, auf die Ebene der Historizität eingeebneten Bibellektüre verteidigen. „Grüß Gott, wenn du ihn siehst“. Das große Gegenüber wäre ins Diesseits der Empirie gezerrt worden. Die Rede von der negativen Theologie, die im angemessenen Kontext richtig und sinnvoll sein kann, provoziert reflexartig solche Vorstellungen.

Ich habe daher vorgeschlagen, diese altehrwürdige Rede, zu der man sich der Vollständigkeit halber alsbald eine positive Offenbarungstheologie im Sinne unmittelbarer himmlischer Botschaften zu denken hätte, fallenzulassen und stattdessen von einer „privativen Theologie“ zu sprechen, einer Theologie der Vorenthaltung.

Um diese zunächst dürr abstrakten Denkfigur mit narrativem Fleisch zu bekleiden, will ich einige der bekanntesten Offenbarungserzählungen aufrufen um zu zeigen, dass die religionsgeschichtlich emergente und wirklich neue Gottesvorstellung Israels von dem Moment an, wo sie sich an den Wassern von Babylon aus den monolatrischen Verhältnissen der Königszeit herausarbeitet, sich sofort in einer Simultaneität von Offenbarung und Vorenthaltung artikuliert. Bei diesen großen Offenbarungserzählungen haben wir es regelmäßig mit einer solchen zu tun. Sie ist für den biblischen Monotheismus von Anfang an sein eigentliches Proprium.

Vorab aber noch ein Blick auf Amarna

Nicht nur für den Ägyptologen Jan Assmann, auch für den Thomas Mann des Josefsromans und für Sigmund Freud war die Amarna-Episode im alten Ägypten ein Faszinosum, denn sie kann als eine Art Vorspiel zum biblischen Monotheismus gelesen werden. Assmann hat sogar versucht, eine Art unterirdische Rohrpost von Echnaton (1351-1334 v. Chr. ) zu „Moses dem Ägypter“, (Exodus ca. 1250) der großen Gründergestalt seiner „Mosaischen Entgegensetzung“ zu rekonstruieren. Inzwischen spricht er abgeschwächt von einer „mosaischen Unterscheidung“. Nach dem Tod des Pharao hatten das Volk und die Priester seine monotheistische Revolution kassiert und waren zu den alten Kulten von Theben zurückgekehrt, die Echnaton durch seinen exklusiven Sonnenkult in Amarna hatte ersetzen wollen. Die Sonne ist die spektakulärste Singularität des Kosmos. Sie spendet Licht und Leben. Auf dieses große Tagesgestirn hatte er alle Göttlichkeit kondensiert. Das Patent auf den Monotheismus erteilt Assmann, der sich inzwischen mehr und mehr als Religionswissenschaftler begreift, dem Pharao dennoch nicht. Die große Emergenz, das eigentliche religionsgeschichtliche Schwellenereignis ist für Assmann, Theo Sundermeier und auch für mich tatsächlich jene neue Weltsicht, die sich daraus ergibt, dass die Welt ein Gegenüber, biblisch gesprochen, einen Schöpfer hat. Während Echnaton und seine Frau Nofretete auf der berühmten Stele die Sonne als einzige und höchste Gottheit verehren, heftet sie in Genesis 1 der Schöpfergott JHWH als eine von zwei Leuchten neben dem Mond ans Firmament. Gott selbst, war kein Teil der Welt, die er sich, indem er dem Tohuwabohu Struktur und Gestalt gibt, als Kosmos, als geordnete Welt gegenüberstellte. Das war wirklich neu.

Assmann hat die „Mosaische Entgegensetzung“ bzw. „Unterscheidung“ als Gründungsgeschichte des Monotheismus ganz so rekonstruiert, wie sie das biblische Narrativ vorgibt. Dabei unterscheidet er nicht zwischen dem Sagenstoff des Exodus, der Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägypten, die Israel rituell immer und immer wieder neu begeht und einer Erzählebene, die Historizität beanspruchen kann. Daran tut er gut, denn genau diese Mischung erzeugt die Materie für das Gedächtnis, auf die es ihm als Anwalt eines methodischen Prinzips der Gedächtnisgeschichte ankommt.

Heute übergehe ich einmal die große Gewaltdebatte, die Assmann 1998 mit seiner Behauptung ausgelöst hatte, mit der „Mosaischen Entgegensetzung“ sei, wenn nicht schon das Böse überhaupt, so doch die religiös motivierte Gewalt in die Welt gekommen, die zuvor von einem toleranten und allenfalls friedlich-schiedlichen Polytheismus gekennzeichnet gewesen sei. Nicht die religiösen Unterschiede, so sagt Assmann inzwischen, sondern ganz allgemein, das Freund-Feind-Denken, der tief wurzelnde Gegensatz: Wir und die Anderen, sei die Urquelle der Gewalt. Darauf kann man kommen…

Wenn die „Mosaische Entgegensetzung“ das große Gegenüber von Welt und Schöpfer erzeugt hat, dann müsste diese Emergenz nach Auskunft der Alttestamentler freilich eher eine „Babylonische Entgegensetzung“ genannt werden, denn erst im Babylonischen Exil ist es zum eigentlichen Durchbruch des Monotheismus gekommen. Aus dessen Perspektive wurden auch die großen Exoduserzählungen, neu überformt, die dann Mose als Werkzeug Gottes und große Gründergestalt herausheben. Was an Mose streng genommen historisch ist, und ob ein historischer Mose überhaupt Monotheist war, darüber könnte man lange spekulieren.

Anders als alles andere: drei Geschichten

Von den großen Offenbarungsgeschichten die dort erzählt werden, sollen also drei aufgerufen werden, an denen sich die charakteristische Eigenheit des neuen, des privativen Monotheismus gut zeigen lässt. An ihnen können wir auch sehen, wie sehr es bei diesen Privationen auf ein neues – damals relativ neues Medium ankommt, mit dem es ihm gelingt, sein Kommunikationspensum zu erledigen. Was ist das für ein Pensum? Wenn das große Gegenüber kein Teil der Welt, sondern ihr Schöpfer ist, dann kann darüber nicht geredet werden wie über alles andere. „Anders als alles andere“, dieses Alteritätsprinzip charakterisiert in vier Worten das Kommunikationspensum des Monotheisten. Wie kann die ontologische Singularität eines großen Gegenübers, eines Gottes der alles geschaffen hat, überhaupt so herausgestellt werden, dass ihre Alterität vermittelt wird?

An dieser Stelle erfolgt nun der große religionsgeschichtliche Auftritt der Schrift. Sie hat, vor allem gegenüber dem herkömmlichen Leitmedium der Polytheisten, dem Kultbild, eine Eigenschaft, die sie prädestiniert, genau das richtige Medium für einen Gott zu sein, der unsichtbar und kein Teil der Welt ist, die er gleichwohl geschaffen hat: In der Schrift ist das emergente Proprium des Monotheismus, jene Simultaneität von Erscheinung und Vorenthaltung schon formal gesichert. Was das große Gegenüber auszeichnet, ist eine Eigenschaft, welche die Schrift schon als Medium an sich hat: Sie ist nie das, was sie bedeutet. Immer enthält sie vor, worauf sie sich bezieht. Besser könnte es nicht passen. Während das dreidimensionale Bild Präsenz erzeugt und die Differenz zu dem, was es darstellt, verschweigt, ist die Schrift das Medium der Differenz, das, indem es das, was es bezeichnet und benennt, zugleich vorenthält.

Das tut übrigens schon die gesprochene Sprache: „Brathähnchen“ – dieses Wort in einen Saal gerufen, kann bei Hungrigen Speichelfluss auslösen, obwohl sie wissen, dass man ein Wort nicht essen kann. Die Sprache und ihre Fähigkeit, Abwesendes ins Bewusstsein zu rufen – mit Karl Bühler gesprochen, ihre Darstellungsfunktion – ist wahrscheinlich so alt wie homo sapiens, das „Lebewesen das Sprache hat“ (Aristoteles) . Relativ neu ist dagegen die Möglichkeit, sie zu fixieren. Worte verwehen im Wind. Die Schrift aber, in der sie geronnen sind, wird zu einem Objekt in der Welt, das scheinbar die Zeit besiegen kann.

Erstens: Am Dornbusch

Man muss die erzählerische Präsentation einer Unmöglichkeit, als welche ein brennender und nicht verbrennender Dornbusch (Ex 3,4-6) auch schon den ersten Lesern/Hörern dieser Erzählung vorgekommen sein musste, als Exposition und Vorbereitung des eigentlichen Höhepunkts dieser wichtigsten aller Offenbarungserzählungen verstehen. In diesem ersten Akt werden nämlich erst einmal die Koordinaten der normalen Wirklichkeit suspendiert.

Brennen, das ist ein Transformationsgeschehen, das wie kein anderes die Taten der Zeit sinnenfällig macht. Da kann man zusehen, wie ein rasanter Prozess etwas zu Asche zerfallen lässt, was gerade noch fest und geformt war. Nicht so diesmal! Das will sagen: Die Zeit gibt es nicht. Sie ist suspendiert, außer Betrieb. Und der Befehl, der an Mose ergeht: „Zieh deine Schuhe aus, denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden“ suspendiert den Raum. Mose steht nicht mehr auf dem Boden der Tatsachen. Hier haben wir die Urdefinition von Heiligkeit: nicht normal, anders, alteritär…

Raum und Zeit sind beim Philosophen Immanuel Kant ein Käfig des Bewusstseins, den wir nicht verlassen können. Diese „reinen Anschauungsformen“ begleiten alle unsere Vorstellungen. Sie sind a priori, „immer schon“, diesmal, so will es die Erzählung, aber nicht.

Die Stimme lässt Mose darüber nicht im Unklaren, mit wem er es zu tun hat: „Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs. Da verhüllte Mose sein Gesicht, denn er fürchtete sich, Gott anzuschauen.“ (Ex 3,6)

Zweitens: Mose im Felsspalt

Gott ist nichts für die Augen. Bevor dieser Höhepunkt aufgerufen wird, blenden wir die zweite Offenbarungserzählung ein, in der die Simultaneität von Erscheinung und Vorenthaltung, auf die es mir ankommt, auf geradezu kuriose Weise zum Ausdruck kommt.

Inzwischen war am Sinai viel geschehen. Das goldene Kalb war zu Staub zermalmt und, mit Wasser vermischt, zu einem Getränk für die Israeliten angerührt worden. Was sie da mit Aarons Hilfe hervorgebracht hatten, das mussten sie sich nun wieder einverleiben. Dann waren die steinernen Tafeln, auf die der Finger Gottes geschrieben hatte, zerschmettert, wieder neu zurechtgehauen und beschriftet worden. Und nun erbittet, ja verlangt Mose die Anwesenheit und Begleitung Gottes auf dem Weg. Und er erhält folgende Zusage: „Mein Angesicht wird mitgehen, bis ich dir Ruhe verschafft habe“ (Ex 33,14) Diesmal aber verhüllt Mose sein Gesicht nicht, ja er verlangt sogar: „Lass mich doch deine Herrlichkeit sehen! Der Herr gab zur Antwort:

Ich will meine ganze Schönheit vor dir vorüberziehen lassen (33,18f)… Dann sprach der Herr: Hier, diese Stelle da! Stell dich an diesen Felsen! Wenn meine Herrlichkeit vorüberzieht, stelle ich dich in den Felsspalt und halte meine Hand über dich, bis ich vorüber bin, dann ziehe ich meine Hand zurück, und du wirst meinen Rücken sehen. Mein Angesicht aber kann niemand sehen (33, 21-23)

Auch wenn die topographischen Angaben sehr präzise anmuten…“Hier diese Stelle da! Stell dich an diesen Felsen…“ sprengt die Choreographie des Vorüberziehenden, der zugleich seine Hand über Mose hält, unsere Vorstellungskraft. Der starke Kernsatz in der Mitte der Perikope lautet: „Du kannst mein Angesicht nicht sehen; denn kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben.“

Ob Jakob, der mit Gott am Jabbok gerungen hatte – die nächste Szene – ob Jakob vielleicht zu dick aufgetragen hatte, als er den Schauplatz „Gottesgesicht“ nannte und meinte: „Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin doch mit dem Leben davongekommen“? Er weiß: Eigentlich hätte er tot sein müssen. Hatte er Gottes Angesicht wirklich in vollem Licht gesehen? Immerhin musste der Kampf aufhören, weil die Morgenröte aufgestiegen war (Gen 32,27).

Niemand hat Gott je gesehen“ heißt es am Ende des Johannesprologs. Und Maria Magdalena musste sich abwenden, als sie in dem, den sie anfangs für den Gärtner gehalten hatte, den auferstandenen „Rabbuni“, nach den Targumen den „Herrn der Welten“, erkannte. Die unrevidierte Einheitsübersetzung war hier unlogisch, wenn sie formulierte: „Da wandte sie sich ihm zu“, denn Maria spricht ja schon mit ihrem Gegenüber und muss sich ihm nicht erst noch zuwenden. Wörtlich heißt es genau „strapheisa“ (Aorist), „sich umgewendet habend“. Sie hatte schlagartig erkannt, wer da vor ihr stand und sie mit „Mariam“, ihrem Namen, ansprach. Inzwischen heißt es: „Da wandte sie sich um“. (Joh 20,16) Das ist wenigstens nicht mehr falsch. Besser noch wäre gewesen: „Da wandte sie sich ab“ und zwar aus dem gleichen Grund wie Mose, der am Dornbusch sein Gesicht verhüllte.

Anschauen, das ist der polytheistische Modus der Begegnung mit einem Gott. Dass man die Götter anschauen kann, dass es von ihnen dreidimensionale Bilder gibt, hatte im babylonischen Exil die aufklärerische Kritik der verschleppten Judäer provoziert. (Deutero)Jesaja entrüstet sich in einer langen Polemik (Jes 44,9-20) über die Dummheit derer, die sich aus Holz oder Metall Götterbilder machen und anschließend vor ihnen niederfallen und sprechen: „Rette mich du bist mein Gott“ Ein selbstgemachter, „von Menschenhand“ gemachter Gott, so die durchgängige Terminologie, kann kein echtes Gegenüber sein.

Jan Assmann hat mir in einer sonst sehr freundlichen und appetitanregenden Rezension meines Buches „Corpora“ (Freiburg 2. Aufl. 2019) vorgehalten, ich hätte mich ganz auf die Seite der biblischen Bildpolemik gestellt, die “…freilich am Geist des Bildkults vollkommen vorbeigeht…Es gab nie `falsche`Götter, die nichts als „Wunschprojektionen“, `funktionalistische Konstrukte` sind. Alle Kulte, ob Bild, Schrift oder Leib beruhen und antworten auf Erfahrungen göttlicher Weltzuwendung“. (FAZ, 23.5.2018)

Sind aber deswegen, so frage ich zurück, alle Kulte gleich? Hier lohnt sich die genaue Untersuchung der Medien Kultbild und Schrift wie ich sie in „Corpora“ versucht habe. Kultbilder können die Präsenz der Gottheit so intensiv suggerieren, dass die Differenz zwischen dem Medium und dem, was es doch nur darstellen soll verschwindet. Und wenn sie nicht schon von selbst verschwindet, dann wird sie verschwinden gemacht. Im Exil wurden die aus Jerusalem verschleppten Judäer, unter ihnen (Deutero)Jesaja, Zeugen von sog. „Mundwaschungsritualen“, bei denen die Bildhauer, welche die Götterfiguren gemacht hatten, vor dem Publikum ihre Autorschaft ableugnen mussten, während die Priester durch allerhand Rituale die Kultfiguren spirituell aufluden.

Die Schrift aber, als Alphabetschrift ein vergleichsweise junges Medium, konnte das gesprochene Wort fixieren, blieb aber immer ein Medium der Differenz. Keiner kann auf die Idee kommen, sie mit dem zu verwechseln, was sie darstellt, darin besteht ihr medialer Vorsprung gegenüber dem Kultbild.

Wenn das Alte Testament nicht nur beim zweiten Jesaja, sondern auch sonst vielfach, z.B. in den Büchern der Weisheit und in den Psalmen gegen die Kultbilder polemisiert, kann man das übertrieben finden und man muss die Verehrer von Kultbildern, so wie ich das in „Corpora“ auch getan habe, gegen den Vorwurf der Dummheit verteidigen. Die Psychologie der Kultbildfrömmigkeit ist komplex. Es ist in der Tat nicht einfach so, dass ein Frommer, der eine Statue bekränzt und ihr Opfergaben darbringt, nicht wüsste, dass sie aus Holz, Stein oder Metall besteht und dass sie von Menschenhand gemacht ist. Es bleibt aber bei der magischen Suggestion von Präsenz. Die biblische Kritik am Kultbild mag polemisch sein, im Kern aber ist sie berechtigt und leitet den Medienwechsel zu Kultschrift ein.

Was die Schrift dagegen zum klassischen Medium des Monotheismus macht, ist ihre einzigartige Fähigkeit, jene Simultaneität von Präsenz und Entzug zu erzeugen.

Drittens: der Name

Jakob hatte am Jabbok, als er mit dem „Mann“ rang, wissen wollen, mit wem er es zu tun hatte. Er selber hatte gerade seinen neuen Namen „Israel“, „Gottesstreiter“ erhalten, sogar mit einer Begründung: “Denn mit Gott und den Menschen hast du gestritten und hast gewonnen.“ Das war aber Jakob offenbar nicht genug und, obwohl er schon wissen musste, wer da mit ihm gerungen hatte, fragte er noch einmal: „Nenne mir doch deinen Namen!“ Das aber wird ihm ausdrücklich verwiesen: „Was fragst du mich nach meinem Namen.“(Gen 32,30)

Bei Jesaja (43,1) heißt es:„Fürchte dich nicht. Denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen und du bist mein.“ Nur Gott darf durch den Mund des Propheten so sprechen.

Hier begegnen wir der archaischen, im Grunde magischen Vorstellung, nach der derjenige, der den Namen „besitzt“, über die Person des Namensträgers verfügen kann. Er kann mit ihm fluchen oder segnen. Rumpelstilzchen ist verloren, als sein Name erlauscht wurde. Als Rahel bei der Geburt des jüngsten der Jakobssöhne, vom Mutterrecht der Namensgebung Gebrauch machend, im Sterben ihrem Sohn den Namen Ben-Oni, „Unglückskind“ gibt, greift Jakob ein und nennt ihn Ben-jamin, „Erfolgskind“. In diese biblische Tradition der wirkenden Namen stellten sich die frommen Protestanten, die im 17. und 18. Jh. ihre Söhne „Fürchtegott“, „Gottlieb“ oder „Gotthold“ tauften.

Vielleicht ist es ein Bewusstsein von dieser magischen Macht, die im Namensbesitz liegt, das Mose am Dornbusch gleichsam hintenherum fragen lässt.

Eigentlich hatte er ja, wie Jakob am Jabbok schon hinreichend Auskunft erhalten, mit wem er es zu tun hatte. Aber wie Jakob will er mehr, er will den Namen wissen. Nachdem er den Auftrag erhalten hatte, das Volk aus dem Sklavenhaus herauszuführen, hätte er den Auftraggeber durchaus benennen können: den „Gott eurer Väter“. Offensichtlich hat er aber eine Scheu vor dem direkten Zugriff auf diese Besonderheit, den Namen, mit dem es so viel auf sich hat. Weil er also selber nicht direkt fragen will, fingiert er antizipierend die Frage als Frage eines Volkes, dem der Hinweis auf den Gott der Väter nicht ausreichen würde. „Da werden sie mich fragen, wie heißt er?“(Ex 3,13)

Übergehen wir den Eindruck der sich nahelegt, dass nämlich diese Frage offensichtlich polytheistisch ist, zumindest henotheistisch, so, als ob da mehrere Götternamen zur Auswahl gestanden hätten.

Überall im AT finden wir diese Spuren der monolatrischen Phase, die dem Exil voranging. Der Bund mit Jahwe belässt den anderen altkanaanäischen Gottheiten ihre Existenz, auch wenn man ihm den ersten Platz einräumt. Im Psalm 89,7 heißt es noch: „Denn wer über den Wolken ist wie der Herr, wer von den Göttern ist dem Herrn gleich?“ Die Bücher der Könige dokumentieren ein ständiges Hin und Her zwischen Singular und Plural.

Was nun folgt, ist dann aber die große Emergenz, der Durchbruch zu einem Monotheismus, wie er klarer nicht sein könnte, denn was nun kommt, bedient gerade nicht die Erwartungen des Mose oder die fingierten Erwartungen des Volkes. Aschdarot, Baal, oder sogar der Name des altkanaanäischen Obergottes El, den wir noch aus dem Pluraletantum Elohim und dem Bestandteil der Engelsnamen Micha-el, Gabri-el, Rapha-el kennen, sind keine Konkurrenten mehr. Was die Stimme aus dem Dornbusch formuliert, ist eine neue, singuläre Art von Namen, die ein sinnkonstitutives Element von Namensverweigerung, besser Vorenthaltung, enthält, und darauf kommt es an.

JHWH „Ich bin da“ ist die Ausrufung der puren Präsenz. In einer Dialogszene, als welche uns diese Erzählung vorgestellt wird, wäre das fürs erste, sprachpragmatisch gesehen, eine Art Tautologie. Wer mit mir spricht, muss mir nicht auch noch mitteilen, dass er da ist. Sein Da-Sein ist performativ schon erwiesen. Entscheidend ist daher der Vers Ex 3, 15 in dem JHWH als Name qualifiziert wird: „Das ist mein Name für immer, und so wird man mich nennen in allen Generationen.“

Man könnte das Tetragramm für den Geniestreich eines Sprachlogikers halten, der den maximalen Umfang (Extension) und die Bedeutung (Intension): „existiert“ des Ausdrucks „Ich bin da“ zusammenfallen lässt und diese Koinzidenz zum Namen erklärt. Das kann er nämlich nur ein einziges Mal. Wenn das pure Dasein zum „Namen“ für immer erklärt wird, ist zunächst einmal seine Einmaligkeit gesichert. Wer so heißt, ist nirgendwo nicht da und niemals nicht da. Das kann es wirklich nur einmal geben. Und wenn die Erzählung will, dass der Träger des Namens selbst, das große Gegenüber sich diesen Namen gibt, dann verstehen wir, dass der „Name der größer ist als alle Namen“ zum Allerheiligsten Israels wird. Auch sein Namenskult, der darin besteht, dass das Tetragramm JHWH, wo es im Tanach erscheint, nie in den Mund genommen, sondern durch Umschreibungen (Adonai, Elohim oder Ha Schem) ersetzt wird, ist eine Heiligung durch Vorenthaltung. Das ist außerordentlich passend. Dem „Namen“ baut Salomon den Tempel, und “Hagiasteto to onoma sou,“ „Geheiligt werde dein Name“, so beginnt Jesus dann, gleich nach der Anrede „Unser Vater“, das Gebet für die Seinen.

Im Philipperhymnus wird dieser „Name, der größer ist, als alle Namen“ dann auf den übertragen, der sich bis zum Tod am Kreuz erniedrigt hatte. Der Gekreuzigte trägt den Gottesnamen. Diese steile Christologie ist keine hellenistische Zutat, sondern ein frühes Bekenntnis der Gemeinde, das Paulus aufgegriffen hat. Zugleich wird klar, dass das große Gegenüber mehr ist, als ein kosmotheistisches Weltprinzip, das sich in allen Kulturen und Kulten jeweils anders ausprägt. Wer einen Namen trägt, auch wenn es ein so einzigartiger Name ist, der ist eine Person.

Gott den Schöpfer als Person anzusehen, das erzeugt reflexartig den Verdacht, des Anthropomorphismus. Wer von einem Schöpfer erzählt, der sich nach seinem großen Werk erst einmal ausruhen muss, der, nachdem er sie geschaffen hat, mit den ersten Menschen Dialoge führt, der, je nachdem, zürnt oder barmherzig ist, der Gehorsam verlangt und Treue, der befeuert in der Tat diesen Verdacht.

Wenn der Anthropomorphismus der Erzählungen nicht zu bestreiten ist, so ist es doch ein sehr besonderer, nämlich ein einstelliger. D.h.: Der Produzent solcher Vorstellungen muss offen lassen, ob sie eine genaue Entsprechung haben.

Unsere Lust auf anthropomorphe Fiktionen hat dem Mond ein Gesicht gegeben, „Unten am Fluss“ menschenartige Kaninchen und in Entenhausen menschelnde Enten erzeugt. Dagobert Duck, alias „Uncle Sam“ ist eine Figur, bei der das Gesetz der Analogie: „ist so wie“ zweistellig ist. Geiz und Gier gibt es hier wie dort, in Entenhausen und im richtigen Leben.

Das ist bei dem großen Gegenüber doch anders. Von ihm im Sinne des monotheistischen Kommunikationspensums zu erzählen, erfordert einerseits, ihn so darzustellen, dass er seine Hauptfunktion, nämlich das große Gegenüber zu sein, überhaupt ausfüllen kann, andererseits muss seine Alterität gesichert werden. Wenn Menschen von einem großen Gegenüber erzählen, einer Instanz, die sie geschaffen hat, dann wird er für sie notwendig zur Person. Nicht weil man sein Wesen kennte und durchschaut hätte, sondern weil man anders von ihm nicht reden kann. Er kann ja auch nicht weniger sein als der Mensch, der sich selbst als Person erlebt. Was er darüber hinaus noch ist, bleibt entzogen.

Wenn wir unsere Vorstellungskraft, die trivialerweise anthropomorph ist, nutzen, dann hat JHWH ein Angesicht. Deswegen ist es so wichtig, immer wieder auf seine Alterität hinzuweisen, die durch den durchlaufenden Grundzug der Vorenthaltung markiert wird. Die Simultaneität von Präsenz und Vorenthaltung ist sein Kennzeichen. Ja, Gott hat ein Angesicht. Im Segensgebet möge er es über uns leuchten lassen. Aber sein Angesicht kann niemand sehen. Es bleibt vorerst verborgen, wird aber zu einem eschatologischen Hoffnungsbild einer ersehnten vollkommenen Erkenntnis: „Jetzt sehen wir in einem Spiegel und Rätsel (en ainigmati), dann aber „von Angesicht zu Angesicht“ (prosopon pros prosopon) (1Kor, 13,12) Man beachte, dass „Prosopon“ eines der semantischen Quellwörter für „Person“ ist.

Tatsächlich ist die Erzeugung einer eschatologischen Spannung das Kraftwerk des Monotheismus.

Usurpation - die bleibende Versuchung

Wenn ich nun mit Blick auf die Frucht vom Baum der Erkenntnis auf die größte aller Vorenthaltungen zu sprechen komme, möchte ich vorab auf eine der wichtigsten Grundregeln biblischer Hermeneutik aufmerksam machen. Sie besteht in der Frage nach dem impliziten Leser. Die lautet: Für wen hat der oder haben die Verfasser oder Redaktoren eines Textes geschrieben? An wen haben sie dabei gedacht? Und: worin sollte die Lehre einer Erzählung bestehen?

Bei der Erzählung vom Sündenfall der ersten Menschen und ihrer Vertreibung aus dem Garten in Eden liegt diese Lehre auf der Hand. Wer auf die Schlange hört und ihr Versprechen: „Ihr werdet sein wie Gott und erkennt Gut und Böse“ (Gen 3,5), wird aus dem Garten vertrieben. Die Frucht vom Baum, der in der Mitte des Gartens steht, dem Baum der Erkenntnis, bleibt vorenthalten. Wenn wir der Erkenntnis von Gut und Böse einen „Sitz im Leben“- nein, das ist ein zu statischer Ausdruck – besser: eine Funktion im Leben geben, die uns immer sagt, was wir tun oder lassen sollen, dann wären wir wie Gott.

Volle Erkenntnis kann nicht ohne die Dimension der Zeit gedacht werden. Dieser Aspekt wird sich im Medienvergleich noch einmal als entscheidend wichtig erweisen. Wer von der verbotenen Frucht isst, will sich davon nähren. Und Nahrung brauchen wir täglich. Erkenntnis ist hier kein objektiviertes Resultat, etwa das Ergebnis einer Recherche, kein Heureka oder ein einmaliger Einblick in vorher Unverstandenes, sondern ein Prozess, salopp formuliert: jeden Tag wissen, wo es lang geht.

Dieser Griff nach der verbotenen Frucht, dieses sein wollen wie Gott, das ist die maximale Usurpation. Ihr folgt denn auch die Maximalstrafe, die Vertreibung aus dem Garten. Nicht der geringste Teil dieser Strafe ist die Erinnerung an ihn und der fortdauernde Hunger nach jener Frucht vom Baum, der in der Mitte steht. Daher bleibt nachparadiesisch die Versuchung zur Usurpation gleichsam als Dauerspannung erhalten. Sie ist das Ergebnis unseres ungesättigten Weltverhältnisses.

Sich als Usurpator auf den Thron Gottes schleichen zu wollen, ist vor allem eine Versuchung der Frommen. Dass der Gottlose von ihr nicht geplagt wird, versteht sich von selbst. Für den Frommen aber ist Usurpation der Fluchtpunkt aller Versuchungen. Aus Frömmigkeit will er teilhaben an der göttlichen Erkenntnis. Weil er danach strebt, den Willen Gottes zu tun, will er ihn auch kennen. Die Frage nach dem Willen Gottes ist die Frage aller Fragen. Sie ist in der dritten Bitte des Vaterunsers enthalten: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf Erden“. Dass er im Himmel geschieht, versteht sich von selbst. Wäre es anders, wäre der Himmel nicht der Himmel. Dass auch auf Erden Gottes Wille sich durchsetzt, darum sollen die Jünger bitten.

Die Bitten dieses großen Gebets sind nicht parataktisch. Sie ziehen eine nachvollziehbare Gedankenspur. Sie sind ineinander verschränkt und folgen einer Art Konsekutivregel. „Dein Reich komme“, was folgt daraus? Wenn das Reich Gottes kommen soll, dann dadurch, dass sein Wille geschieht. Nachdem die dritte Bitte die Frage nach dem Willen Gottes exponiert hat, zeigt die folgende, die vierte Bitte den Weg, wie sie erfüllt werden könnte.

Bevor ich das weiter ausführe, möchte ich den medientheoretischen Hintergrund gleichsam als Kontrastfolie dahinter aufspannen. Die Frommen in der Welt Jesu, glaubten in der Tora den Schlüssel zum Willen Gottes zu besitzen. Auch Jesus war ein frommer Jude. Auch er schätzt die „Weisung“. Nicht auf ein Jota will er verzichten, so spricht er am Anfang der Bergpredigt. (Mt 5, 18) Dann aber heißt es: „Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist, als die der Pharisäer und Schriftgelehrten, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“

Die Pharisäer sind fromm. Und es gibt auch gute Schriftgelehrte. Einem, dessen Namen wir nicht erfahren, bescheinigt Jesus: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes“. Bei der Frage nach dem höchsten Gebot, das gleichsam wie ein Vorzeichen vor allen anderen steht – es ist das der Gottes- und Nächstenliebe, hatten beide emphatisch übereingestimmt. (Mk 12, 28-34) Auch Nikodemus war ein Guter.

Aber Jesus strebt nach der „größeren Gerechtigkeit“. Er will mehr als die Schrift kann. Dies wird nicht nur an seiner Praxis deutlich, in der er sich über den Buchstaben der Weisung immer wieder hinwegsetzt, Kranke am Sabbat heilt etc., auch in der Bergpredigt überbietet er sie sechsmal mit seinem “Ich aber sage euch…“ Er will dem Willen Gottes, den die „Grammateis“ meinten, einfach aus der Schrift entnehmen zu können, wie eine Nahrung in sich aufnehmen: „Meine Speise ist es, den Willen dessen zu tun, der mich gesandt hat…“ (Joh 4, 34) Der Wille Gottes ist seine tägliche Energiezufuhr. Wie eine Speise, will er ihn jeden Tag essen.

Zum Verständnis der vierten Bitte des Vaterunsers, auf die ich nun zurückkomme, muss man sich den großen Medienkonflikt Jesu mit den „Schriftlern“, so könnte man „Grammateis“ übersetzen, vor Augen führen. Die Bedeutung dieses Konfliktes kennen wir. Ohne ihn wäre sein Schicksal anders verlaufen. Bleibt es bei einem Monotheismus der Schrift, dem Gottesmedium, das aus guten Gründen das polytheistische Konzept einer Gottespräsenz im Kultbild ersetzt hatte, oder kann der Geist Gottes im Menschen selbst präsent werden? Mit der Formulierung des Johannesprologs gesprochen: Kann das Wort nicht nur Schrift, sondern auch Fleisch werden?

Joh 1,14 „ Und das Wort ist Fleisch geworden“ beziehen wir, sicher zu recht, erst einmal auf Jesus, das „Wort“ das im Anfang war und das bei Gott, das Gott war. Aber was machen wir mit Joh 1, 12: „Allen aber die ihn aufnahmen, gab er Macht Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind“?

Gibt es Aussichten auf eine Inkarnation für alle?

Jesus, der alle, die ihm nachfolgten, dadurch faszinierte, dass er ihnen vorführte, wie der Geist Gottes tatsächlich in einem Menschen präsent sein konnte, lehrt die Seinen um himmlisches Brot zu bitten. Wer die vierte Bitte im Sinne einer täglichen leiblichen Sättigung deutet, wie es die geläufige Übersetzung nahelegt, der springt zu kurz, so altehrwürdig diese Lesart auch sein mag. Um was für ein Brot da gebeten werden soll, hängt von einem Adjektiv ab, das es im ganzen riesigen griechischen Sprachkosmos nur ein einziges Mal gibt, nämlich hier im Vaterunser und zwar in beiden Versionen, bei Lukas und Matthäus, die beide auf die gemeinsame Logienquelle zurückgehen. Keiner dieser Autoren, die allesamt koiné-Griechisch schreiben, kann als nicht-Muttersprachler auf die Idee kommen, ein hapax legomenon zu kreieren. Alles spricht dafür, dass dieses besondere Adjektiv, das den Charakter des Brotes bezeichnet, das Jesus im Sinn hatte, auch im aramäischen Original herausstach und etwas Besonderes, etwas Einmaliges bezeichnete. Das griechische Adjektiv lautet: „epiousion“. Ich halte die Übersetzung der Vulgata des Hieronymus für die treffende, auch weil er es schafft, das Hapax legomenon seiner Vorlage mit einem Hapax legomenon in seiner Zielsprache wiederzugeben. Epi = super und ousion = substantialis. Panem nostrum supersubstantialem da nobis hodie. Unser „überwesentliches“, unser himmlisches Brot gib uns heute. Für die philologischen Details muss ich hier auf „Corpora“ und meinen Artikel zum Thema in „Communio“ (Was für ein Brot? Was für ein Brot!, Jan./Feb. 2017, S. 229.257) verweisen.

Zurück zum Thema der Usurpation. Kann es sein, dass, wer den himmlischen Vater, dem er sich wie ein Kind nähert, um dieses sein epioúsion-Brot bittet, das er sich jeden Tag wie eine Nahrung zuführen will, kann es sein, dass er im nachparadiesischen Verlangen nach Gottesnähe, den Willen Gottes meint, nunmehr auch zu besitzen?

Auf dem Gipfel einer solchen inkarnatorischen Gottesnähe klingt noch von Ferne aus dem Garten in Eden herüber das Versprechen der Schlange: „Ihr werdet sein wie Gott“. Kann, wer sich nach dem Willen Gottes ausstreckt, damit sein Reich kommen kann, und der um himmlisches Brot bittet, sich nicht die Erfüllung dieser Bitte schon mitdenken? Warum sollte ihm, dem frommen Beter, der himmlische Vater diese Bitte abgeschlagen haben? Mir und sicher auch jedem von Ihnen fallen hundert und mehr Beispiele ein, wo fromme Gottesagenten den Willen Gottes genau zu kennen meinten: „Deus lo vult!“ riefen die Kreuzfahrer.

Usurpation ist die große Versuchung der Frommen, die , weil sie sich der Führung Gottes anvertrauen wollen, ihn als Ermächtigungsinstanz missbrauchen. Daher verstehen wir nun, wie wichtig es ist, Gott selbst zu bitten: „Und führe und nicht in Versuchung“.

Schon die fünfte Bitte hatte dafür gesorgt, dass der Beter nicht auf die Idee kommen kann, er sei „wie Gott“ nur weil er vielleicht epiousion-Brot gegessen hatte. Wer um Vergebung seiner Schuld bittet, weiß dass er ein Sünder ist. Die Sünde ist der Differenzmarker: „Und vergib uns unsere Schuld“. Jedem, der so betet, hat Jesus unterstellt, dass er Schulden (opheilémata) hat. Es ist derselbe Jesus, der wenige Verse zuvor in derselben Bergpredigt nichts weniger als Vollkommenheit fordert. „Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.“ (Mt 5,48) Das ist nicht nur keine Aufforderung zur Usurpation, sondern das genaue Gegenteil. Angesichts dieses Maßstabs, wird für jeden, auch für den Frommen, die Differenz sichtbar, die ihn von der göttlichen Vollkommenheit trennt: „Wer ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein auf sie“. Der zurecht berühmte Satz (Joh 8,7), mit dem Jesus die ertappte Ehebrecherin rettet, bewirkt, was er bewirken sollte: Die Ankläger verdrücken sich. Das ist die latente Performanz und Konsequenz der Vollkommenheitsforderung. Auch diese Episode, für deren Historizität einiges spricht, dokumentiert den Streit Jesu mit den Grammateis. Es ist der Medienstreit um die Schrift: „Mose hat uns im Gesetz vorgeschrieben, solche Frauen zu steinigen.“ Die Perikope liefert die Schlüsselszene für meine Mediengeschichte des Monotheismus. So wie der Finger Gottes selbst auf dem Sinai einst die Gesetzestafeln der Bundesurkunde beschriftet hatte, so schreibt nun das Fleisch gewordene Wort mit dem Finger, diesmal aber nicht in Stein, sondern auf die Erde, in den Staub des Tempelvorhofs, wo die Szene spielt. Es ist die einzige Stelle in den Evangelien, in der Jesus schreibt. Die Pointe der Erzählung besteht darin, dass wir nur erfahren dass er schreibt, nicht aber was er schreibt. Wenn wir es hätten wissen sollen, hätte es uns der Verfasser wissen lassen. Jesus schreibt zweimal. Einmal vor und dann noch einmal nach seinem großen Satz: „Wer ohne Sünde ist…“ den er damit einrahmt. Jesus zerschreibt die Buchstaben des Gesetzes. Beinahe hätten sie getötet. „Der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“ (2 Kor 3,6) Gut möglich, dass Paulus die Episode kannte, bevor sie im Johannesevangelium aufgeschrieben wurde.

Die Schrift als objektivierte Sprache kann zum Glauben verführen, man könne über den Willen Gottes schwarz auf weiß verfügen, wie über einen Besitz. Zwar enthält sie, anders als das Kultbild, den Anblick Gottes vor, scheint aber etwas Zweitbestes zu liefern. Diesmal sichert die Schrift nicht den Abstand und die Differenz, im Gegenteil, sie kassiert sie ein indem sie sich den Willen Gottes in scheinbarer Unmittelbarkeit erschleicht. So kann sie zu einem subtilen Werkzeug der Usurpation werden.

Aber selbst wenn das per impossibile gelungen wäre, bleibt ein gleichsam anwendungstechnisches Defizit: Gegenüber der Zeit und ihrer fortlaufenden Forderung, den neuen Umständen des neuen Tages Rechnung zu tragen, hat sie immer schon verloren. Eine Ausnahme gibt es: Die „vier Buchstaben“, das Tetragramm JHWH. Der Gottesname, das Allerheiligste Israels, auch wenn er schwarz auf weiß aufgeschrieben ist, verliert niemals sein Element von Vorenthaltung. Die Präsenz, die er beansprucht, bleibt der Empirie und damit den zeitbedingten Anpassungsbedürfnissen entzogen. Daher konnte es in Ex 3,15 heißen: „Das ist mein Name für immer.

Privation versus Usurpation: Lotta continua – der Kampf geht weiter.

Nur ein privatives Gottesbild hält die Vertikalspannung aufrecht, die uns von ihm trennt und uns mit ihm verbindet. Dazu brauchen wir jeden Tag neu das überwesentliche, das epiousion- Brot der vierten Vaterunserbitte und die fünfte und sechste Bitte, die uns vor der usurpatorischen Versuchung warnt.














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