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Eintauchen in das Geheimnis

Früher feierten die Kirchen das Heilige. Heute predigen sie das Profane und singen im Chor der Rechtschaffenen. So machen sie sich immer mehr verzichtbar / Von Ulrich Greiner

Warum sind die Christen so blass und so schwach? Wo ist die Leuchtkraft ihres Glaubens geblieben? Sie wurde verschluckt von einer ängstlichen Anpassung an weltliche Werte und Ziele. Auch die restlichen Kirchgänger haben längst ihren Frieden mit der Moderne geschlossen und sich dem Rationalismus des Zeitalters gefügt. Dabei sollten sie wissen, dass die frohe Botschaft den Rahmen des rechnenden Verstandes übersteigt. „Wir verkünden“, schreibt Paulus an die Korinther, „nicht die Weisheit dieser Welt. Wir verkünden, was kein Auge gesehen und kein Ohr gehört hat, was in keines Menschen Herz gedrungen ist, was Gott jenen bereitet hat, die ihn lieben.“

Die Kirchen aber sind zu humanitären Agenturen geworden, die dem Sozialstaat zur Seite stehen. Dafür muss man sie loben. Als Institutionen öffentlicher Fürsorge jedoch sind sie austauschbar. Sie gleichen einem gemeinnützigen Verein, an den man Beiträge bezahlt. Aus einem solchen Verein kann man jederzeit austreten, und das geschieht ja auch in wachsendem und in bedrohlichem Ausmaß.

Caritas, die tätige Nächstenliebe, ist nur die eine Seite der christlichen Botschaft. Ihre andere besteht im Mysterium des Glaubens. Davon zu reden, ist schwierig. Erstens, weil man das Mysterium nicht diskutieren kann, sondern in ständig neuer Erfahrung erleben muss. Und zweitens, weil die Sprache dafür verloren gegangen ist. Nur wenige Begnadete unter den Priestern oder Pastoren beherrschen sie noch. Viele sind redlich bemühte Funktionäre, die das Transzendente, das Überschreitende der Offenbarung in alltagspraktische Handreichungen übersetzen. Sie verwechseln das Seelenheil der Gläubigen mit deren mentalem oder gar körperlichem Wohlbefinden.

Gerne gesellen sich die Kirchen zu jenen, die für eine bessere Welt kämpfen, sei es für den Klimaschutz oder gegen den Rassismus. Im Chor der Rechtschaffenen jedoch ist die Stimme der Christen nur eine von vielen – eine immer weniger gehörte. Die Botschaft des Evangeliums ist von leuchtender Klarheit, doch wer sie in das rationalistische Raisonnement unseres Zeitalters eins zu eins übersetzen will, verdunkelt sie; wer sie benutzt, um seine Position in politischen Fragen zu behaupten, verfehlt sie; wer daraus eine Strategie ableitet, um Geländegewinne in aktuellen moralischen Kämpfen zu erzielen, hat die Komplexität der Weissagungen und Handlungen Jesu letztlich nicht verstanden. Das Evangelium ist kein moralisches Handbuch, das auf unsere Streitfragen exquisite Antworten bereit hielte. Wer sie sucht, wende sich an die Ethikkommission.

Die Anpassung der Kirchen an die Agenda der Nachrichtenwelt scheint mir ein Irrweg. Ihn beschreiten die Reformeiferer mit bewundernswertem Elan. Daher hat es mich nicht überrascht, mit welcher Gehorsamsfreude die Kirchen den Versammlungsverboten zu Beginn der Corona-Krise gefolgt sind. Von katholischen Bischofsbehörden verlautete, die „Sonntagspflicht“ sei aufgehoben, als ob diejenigen, die der Heiligen Messe beiwohnen wollten, froh sein dürften, von einer Fron befreit zu werden. Von evangelischer Seite hörte man, die Gesundheit der Gläubigen sei oberstes Gebot. Auch wurde voller Genugtuung vermerkt, dass die auf elektronischem Weg angebotenen Veranstaltungen gut angenommen wurden. Vermutlich ist ein gestreamtes Abendmahl völlig okay.

Sicherlich wäre es strafbar und sträflich gewesen, übliche Gottesdienste abzuhalten, aber anstatt bloß virologisch zu argumentieren, hätte man theologisch auftreten und darauf insistieren können, dass Eucharistiefeier oder Abendmahl keine Veranstaltungen sind, die stattfinden können oder auch nicht, sondern den Kern religiöser Praxis bilden.

Worin besteht er? Ich bin katholisch und spreche vom katholischen Ritus. Er feiert die Anwesenheit Gottes. Sie manifestiert sich in der Wandlung von Brot und Wein zu Leib und Blut Christi. Nach den Wandlungsworten ruft der Priester: „Geheimnis des Glaubens!“, und die Gemeinde ruft zurück: „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis Du kommst in Herrlichkeit.“

In den alten Kirchen gibt es eine erstaunliche Anzahl von Seitenaltären, und da jeder Priester, jeder geweihte Mönch gehalten war (und ist), täglich die Messe zu lesen, entstand eine fortwährende Feier, eine nicht endenwollende, nicht endenkönnende Vergegenwärtigung Christi, verbunden mit dem Lobgesang alter Überlieferung. Die Gebetstexte sind oftmals Akklamationen, die ständig wiederholt werden, sei es das zustimmende „Amen“, das „Kyrie eleison! Christe eleison! Kyrie eleison!“ oder das dreifache „Sanctus!“.

Einmal hatte ich das Glück, eine Woche in einem Benediktinerkloster verbringen und am Leben der Mönche teilnehmen zu dürfen. Im Morgengrauen rief die Glocke zu den Laudes, zum Morgengebet, und schweigend versammelte man sich im Chorgestühl der alten Kirche. Ich konnte sehen, wie der noch junge Mönch eine Stimmgabel aus seinem Gewand hervorholte, sie unhörbar anschlug und an sein Ohr hielt. Dann intonierte er mit seiner schönen Stimme den Psalm 66 „Jauchzt Gott zu, alle Länder der Erde! Spielt zur Ehre seines Namens! Verherrlicht ihn mit Lobpreis!“ Die anderen Mönche, es waren immerhin noch acht, und die sechs Gäste stimmten in den gregorianischen Choral ein. Der Gesang klang anfangs etwas schütter, aber dank des strahlenden Vorsängers kam er bald ins richtige Gleis. Was für ein Wunder, dachte ich, dass dieser Lobpreis seit vielen Jahrhunderten in unendlicher Wiederholung gesungen wird, getreu dem Psalm 119: „Siebenmal am Tag singe ich dein Lob, und nachts stehe ich auf, um dich zu preisen.“

In seinem grandiosen Buch Herrschaft und Herrlichkeit (2010) schreibt der italienische Philosoph Giorgio Agamben: „Die Herrlichkeit, der Lobgesang, die die Geschöpfe Gott schulden, gehen aus Gottes Herrlichkeit hervor, sind nichts als die unvermeidliche Erwiderung, gleichsam das Echo, das Gottes Herrlichkeit in ihnen hervorruft.“

Die römische Messliturgie ist ein in langer Zeit entstandenes, ebenso komplexes wie subtiles Kunstwerk. In ihm ereignet sich das „Geheimnis des Glaubens“, wobei Geheimnis nicht etwas Verstecktes oder Verrätseltes meint, sondern einen wunderbaren Vorgang, der nicht diskursiv auflösbar ist. Von meiner Gestimmtheit oder Konzentration hängt er nicht ab. Ich bin in diesem Augenblick aufgehoben in einem uralten Ritus, und alle selbstbezogenen querulatorischen Gedanken spielen keine Rolle mehr. Es geht ja auch nicht ums Denken, sondern um ein objektives Fühlen.

All dies steht heute fremd in der Welt. Man kann es nur vollziehen, nicht erklären – so wie man auch eine Symphonie nicht erklären kann. Keine noch so gekonnte Abschilderung kann dem Hören und Erleben der Musik so nahe kommen, dass man auf sie verzichten könnte. Das gilt in erhöhtem Maß für die heilige Handlung, die ja den Ursprung musikalischer Erhebung und Versenkung bildet. Die Liturgie kommt aus der Tradition magischer Praktiken und übersteigt sie. Sie setzt sich nicht an an Gottes Stelle, sondern erhofft seine Anwesenheit.

Das Problem, das die Kirchen mit dem Zentrum ihrer Glaubenspraxis haben, ist ein Übersetzungsproblem. Wir leben in einer Kultur des Profanen, während die Kultur des Sakralen weithin verschwunden ist. Dass etwas heilig sei und was das bedeute, dürfte den meisten Zeitgenossen unverständlich geworden sein. Ihnen fehlt etwas, ohne dass sie es bemerken. Deshalb zitieren sie gern den berühmten Satz Max Webers, er sei religiös unmusikalisch. Doch Weber war nicht stolz darauf. In einem Brief vom 19. Februar 1909 sagt er: „Ich bin zwar religiös absolut 'unmusikalisch' und habe weder Bedürfnis noch Fähigkeit, irgendwelche seelischen 'Bauwerke' religiösen Charakters in mir zur errichten – das geht einfach nicht, resp. ich lehne es ab. Aber ich bin weder antireligiös noch irreligiös. Ich empfinde mich auch in dieser Hinsicht als einen Krüppel, als einen verstümmelten Menschen, dessen inneres Schicksal es ist, sich dies ehrlich eingestehen zu müssen.“

Natürlich kann man solchen „Krüppeln“ Jazzkonzerte anbieten, politische Debatten oder alltagspraktische Gesprächskreise, wie es die katholischen Akademien allzu gerne tun. Aber dann ignoriert man das Übersetzungsproblem und bewegt sich im Bannkreis des Profanen. Man tut so, als wäre die Kirche bloß ein Teil dieser Welt. Das ist sie zwar auch, ihr Eigentliches jedoch besteht in dem, was dem Diesseits entgegengesetzt ist.

Das wäre zu feiern, davon wäre im ehrwürdigen gregorianischen Sprechgesang Zeugnis abzulegen. Die Gottesdienste müssten großartige Feste sein, nicht sozialpflegerische Konventikel, wo jedem gut gemeinten Impuls die Chance zur Selbstdarstellung gegeben wird. Die Eucharistie ist eine heilige Handlung, deren Sinn nicht auf der flachen Hand liegt. Es genügt nicht, Wahrer Gott, wir loben Dich! zu schmettern und sich wohl zu fühlen. Rechtschaffene Predigten, die das Provokative der Botschaft auf den rationalen Alltagsverstand herunterbrechen, genügen ebenfalls nicht. Denn das Heilige hat seinen Ursprung im Erschrecken über die Größe und die Andersheit Gottes.

Das Religiöse ist das Befremdliche, anders kann es heutzutage in unseren Breiten nicht sein. Die Kirchen sollten die Gefahr, verstanden zu werden, mehr fürchten als die Gefahr, nicht verstanden zu werden. Wenn sie nur noch unsere Sprache sprechen, dann verstehen wir sie allzu gut und können den lieben Gott einen guten Mann sein lassen.
Erschienen in der ZEIT vom 26. November 2020










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