Ulrich Greiner
Ein Gespräch mit Gott über Michelangelo
DIE ZEIT: Herzlichen Dank, dass Sie sich die Zeit für ein Gespräch genommen haben.
GOTT: Da nicht für. Zeit ist für mich kein Problem.
ZEIT: Vor 500 Jahren wurde Michelangelos Deckengemälde in der Sixtinischen Kapelle enthüllt. Für uns Menschen ist das ein Anlass zum Feiern. Und für Sie?
GOTT: Auch für mich. Ich freue mich jedes Mal, wenn ich es sehe. Allerdings muss ich sagen, dass ich mich im Vatikan nur sehr unregelmäßig aufhalte.
ZEIT: Warum?
GOTT: Es ist wie bei nahen Verwandten: Man kennt sie, man liebt sie, aber sie gehen einem manchmal auf den Geist.
ZEIT: Was freut Sie an dem Gemälde?
GOTT: Dass es schön ist. Ihr Menschen habt eine schreckliche Neigung zum Hässlichen, und das Hässliche ist eine Form des Bösen. Michelangelos Bildnisse und Skulpturen jedoch gehören zum Schönsten, was Menschen je gelang, und dafür liebe ich ihn.
ZEIT: Michelangelo zeigt Sie bei der Arbeit: Sie setzen Sonne und Mond an den richtigen Platz, Sie erschaffen Pflanzen und Tiere, schließlich die Menschen. Trifft seine Darstellung zu?
GOTT: Man kann das so erzählen, ich bin damit einverstanden.
ZEIT: War es denn so?
GOTT: Nein. Ich habe Sonne und Mond gedacht, und somit leuchteten sie. Ich habe Adam gedacht, und somit wurde er lebendig. Tat und Gedanke sind für mich ein und dasselbe.
ZEIT: Für Michelangelo war es ein Unterschied. Er brauchte mehr als vier Jahre, um die Decke auszumalen. Sie erschufen die Welt in sechs Tagen.
GOTT: Auch das kann man so erzählen, es ist nicht falsch. Im Menschenmaß gesprochen, habe ich für die Erschaffung der Welt keine Sekunde gebraucht.
ZEIT: Michelangelo zeigt Sie als einen muskulösen Mann mit Bart. Fühlen Sie sich gut getroffen?
GOTT: Es gibt viele Bilder von mir, keines erfasst mich. Ich habe gesagt: Ich bin, der ich bin. Dabei soll es bleiben.
ZEIT: Welches Bild kommt Ihnen am nächsten?
GOTT: Zuweilen zeige ich mich. Einer, dem ich mich gezeigt habe – er hieß Elias –, hat gesagt: »Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus. Doch der Herr war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der Herr war nicht im Erdbeben. Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln. Als Elias es hörte, hüllte er sein Gesicht in den Mantel.« Das war mein Mann.
ZEIT: Der Adam auf dem Fresko wirkt ermattet, seine Hand hängt schlaff herab. Begeisterung sieht anders aus.
GOTT: Das ist leicht zu erklären. Er ist gerade erst aufgewacht, und er ahnt, was auf ihn zukommt.
ZEIT: Er sieht Ihnen aber doch ähnlich?
GOTT: Ihr Menschen sprecht von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, und das freut mich. Aber das Bild, das meinen ausgestreckten Arm zeigt und diesen gebieterischen Zeigefinger, mit dem ich Adam erwecke, ist zwar schön, doch nur ein Bild. In Wahrheit hat Adam keine Ähnlichkeit mit mir, sondern ich habe Ähnlichkeit mit jenem Adam, den sich Michelangelo als idealen Menschen vorgestellt hat. Aber das ist okay, denn Adam ist ein schöner Mann, so wie Eva eine schöne Frau ist. Sie schaut mich sprachlos an – eine Form der Huldigung, die mir gefällt.
ZEIT: Beide treiben Verrat, indem sie von der verbotenen Frucht essen. Warum haben Sie das zugelassen?
GOTT: Ich habe den Menschen als frei gedacht – im Gegensatz zu den Gestirnen, zu Flora und Fauna, zu Wind und Wetter, die alle den von mir festgelegten Gesetzen folgen. Und weil der Mensch frei ist, kann er sich auch für das Böse entscheiden.
ZEIT: Indem Sie ihm aber verboten, vom Baum der Erkenntnis zu essen, war er doch dazu verlockt, das Gebot zu übertreten, um sich seiner Freiheit bewusst zu werden.
GOTT: Nein, seine Freiheit hätte es ihm auch erlaubt, das Gebot zu befolgen.
ZEIT: Warum schämen sich Adam und Eva?
GOTT: Weil sie einander mit den Augen des anderen sehen. Jetzt ist der Mensch nicht mehr allein, sondern dem Blick des anderen ausgesetzt. Dass der Mensch nicht allein sei, war meine Absicht. Doch es gibt abschätzige Blicke und liebende. Welche dominieren, darüber entscheidet ihr Menschen. Wenn ihr einander liebt, müsst ihr euch nicht schämen.
ZEIT: Michelangelos Bild von der Sintflut zeigt Menschen, die sich auf eine Insel retten und gegen die Regenstürme mit einer Plane schützen. Sie sind von Panik und Schrecken erfüllt. Die Arche ist für viele nicht mehr erreichbar, sie werden ertrinken. Warum haben Sie dieses Strafgericht verhängt?
GOTT: Die Bosheit der Menschen hat mich empört. Eine Korrektur schien mir notwendig. Leider hat sie nichts gefruchtet.
ZEIT: Weshalb muss sich Gott korrigieren?
GOTT: Er muss nicht, er kann.
ZEIT: Warum überhaupt haben Sie Adam geschaffen? War Ihnen langweilig?
GOTT: Die Erschaffung des Menschen war ein Experiment, auf dessen Ausgang ich selber gespannt bin. Gescheitert ist es nicht, auch dafür steht Michelangelo.
ZEIT: Worin sehen Sie seine größte Leistung?
GOTT: Er hat die irdische Welt so vollkommen abgebildet, dass sie überirdisch wird. Sein Diesseits ist ein Jenseits und sein Jenseits ein Diesseits.
ZEIT: Michelangelo hätte sein Werk nicht ohne den damaligen Papst, nicht ohne Julius II., vollbringen können. Was halten Sie von ihm?
GOTT: Päpste sind Menschen. Das will ich nicht ändern, damit müsst ihr leben. Aber unter all meinen Stellvertretern war er nicht der schlechteste.
ZEIT: Im schrecklichsten seiner Feldzüge kamen 12000 Mann ums Leben. Das war Ostern 1512, ein halbes Jahr vor der Enthüllung des Gemäldes. Martin Luther hat ihn »Blutsäufer« genannt.
GOTT: Hier muss ich Luther leider zustimmen. Und doch: Wie so oft sieht er nur die eine Seite. Julius II. hat nicht allein Kriege geführt, sondern die Architektur und die Künste befördert wie keiner vor ihm. Was hätten Künstler wie Raffael oder Bramante, Michelangelo oder Sebastiano del Piombo ohne den Papst erreichen können? Er hat eine der wunderbarsten Kunstepochen ermöglicht.
ZEIT: Sie lieben offenbar die Kunst.
GOTT: In der Tat, sie gehört zu den wenigen Dingen von euch Menschen, die mich beeindrucken. Michelangelo hat einmal gesagt, ein gelungenes Gemälde sei »nichts anderes als ein Abglanz der Vollkommenheiten der Werke Gottes«. Gut gesagt.
ZEIT: Julius II. und einige andere Päpste sind für ihre Prunksucht kritisiert worden.
GOTT: Mit Recht. Reichtum, der zum Selbstzweck wird, ist eine Sünde. Aber wenn schon der Mensch seine Freiheit missbraucht, um Reichtümer zu sammeln, dann ist es besser, diese Reichtümer für das Schöne zu nutzen. Die reichsten Menschen heutzutage sind reicher, als die Reichen es je waren, aber sie vermehren schamlos das Hässliche.
ZEIT: Sie loben Michelangelo für seine Kunst. Aber hat er sich nicht wie ein zweiter Schöpfergott aufgespielt, der dasselbe noch einmal machen wollte?
GOTT: Sicherlich war er eitel und von gewaltigem Ehrgeiz erfüllt. Aber ich schaue nicht bloß auf die Motive, ich freue mich am Ergebnis. Eitel und ehrgeizig sind viele, nur wenige heißen Michelangelo.
ZEIT: In den Jahren 1536 bis 1541 hat er dann die Stirnwand der Kapelle mit dem Jüngsten Gericht geschmückt. Man sieht fast ausschließlich Nackte. Das wurde von einigen scharf kritisiert.
GOTT: Wie sollte mich das stören? Nicht wenige meiner Stellvertreter haben zum lebendigen Eros kein Verhältnis. Doch wenn er mit der Liebe zum Menschen einhergeht, begrüße ich ihn sehr, und die späteren Übermalungen der nackten Leiber finde ich nur komisch. Doch ich gebe zu, dass man in Michelangelos nudistischen Neigungen eine Schwäche sehen kann. Ihr solltet aber nicht vergessen, dass er vor allem ein Bildhauer war. Der Körper war für ihn das Wunder, dessen schönes Geheimnis er ergründen wollte. Und es ist ihm gelungen wie keinem vor ihm. Mich selber hat er mit fließenden Tüchern recht elegant bekleidet. Ich sehe darin ein Zeichen des Respekts.
ZEIT: 500 Jahre sind für uns eine lange Zeit. Wird dieses Gemälde weitere 500 Jahre überleben?
GOTT: Ich bin zwar, wie ihr Menschen zu sagen pflegt, allwissend. Aber was ihr tun und lassen werdet, ist mir unbekannt – ebendeshalb, weil ich euch die Freiheit geschenkt habe. Aber denkt daran: Ich habe meinen Sohn auf die Erde gesandt, um euch den Weg des Heils zu offenbaren. Bislang habt ihr euch weder dafür noch dagegen entschieden. Gewiss, ich könnte jederzeit eingreifen und das Experiment beenden, zum Guten wie zum Schlechten. Das wäre eine zweite Korrektur. Dafür ist die Zeit noch nicht gekommen.