Ulrich Greiner Gespräch mit Peter Handke
Das folgende Gespräch fand im Januar 2006 in Handkes Haus in Chaville statt.
Greiner:Es war an einem späten Abend im Januar 1988, als wir einander aus schierem Zufall in der Pariser Metro begegnet sind. Wir haben dann ein Glas Wein getrunken. Sie sagten, sie kämen aus Ägypten und hätten schon seit vielen Wochen mit keinem Menschen mehr gesprochen. Es war die Zeit, von der Sie in Ihrem Tagebuch „Gestern unterwegs“ erzählen. Von Ägypten ist darin wenig die Rede.
Handke: In Kairo konnte ich nur wenig notieren. Ich war ein bisschen krank. Und ich konnte nicht für mich sein, weil ich mich ständig von Händlern und Bettlern bedrängt sah. Ich habe mich dadurch gerettet, dass ich in eines dieser Teehäuser ging, mich zu den anderen setzte und an der Wasserpfeife sog oder vielmehr so tat, als ob. Da fand ich Ruhe.
Sie sind dann drei Jahre lang quer durch die halbe Welt gereist, nach Japan, Alaska, Schottland, Frankreich, Spanien, Slowenien und noch weiter. Ich hatte beim Lesen den Eindruck, dass Sie auf irgendwelche Flughäfen gegangen sind und einfach den nächsten Flug genommen haben.
Manchmal war das so.
1989 brach die DDR zusammen und damit eine ganze Welt. In Ihrem Tagebuch verlieren Sie darüber fast kein Wort. Der Tod des Dichters Jan Skácel hingegen hat Sie mehr beschäftigt.
Ich kann nur dann etwas aufschreiben, wenn mir Sprache zufliegt, Dinglichkeit. Es war mir nie im Sinn, ein zeitgenössisches Journal zu schreiben. Es sind Reflexe, die erweitert sind – nicht gerade zu Reflexionen, aber zu Läufen, zu Sprachläufen.
Sie schreiben nicht über persönliche Dinge, über Kopfschmerzen oder schlechte Betten.
Ich fand das nicht beschreibenswert. Was ich spüre, muss festgehalten werden in der Form, in der es sich jetzt zeigt. Dem gehe ich nach, dem gebe ich Luft durch Sprache und zugleich verfestige ich es. Oft waren die Erlebnisse so überwältigend, dass ich eine Scheu hatte mitzuschreiben. Mein Tagebuch Das Gewicht der Welt war eine Reportage des Bewusstseins. In Gestern unterwegs habe ich manches mitgeschrieben, anderes für den nächsten Morgen aufgehoben, bis es durch den Kopf, durch den Körper gegangen war. Pythagoras hat seine Schüler dazu angehalten, so lange in den Betten zu bleiben, bis sie sich vergegenwärtigen konnten, was am Vortag gewesen war.
Wird es dadurch klarer?
Das Aufschreiben hat mich ortsfest gemacht. Ich war jeden Morgen woanders. Oft wusste ich nicht, wo ich aufgewacht bin. Man kommt in der Nacht an und sieht nur Umrisse. Und wenn ich mich am nächsten Morgen in irgendeinem Hotel oder Gasthof hingesetzt habe, um den Vortag aufzuschreiben, war das, wie wenn man einkaufen geht oder das Kind zur Schule bringt.
Ihre Reisen wirken wie Exerzitien. Könnten Sie sich vorstellen, als Mönch zu leben?
Oh nein. Ich bin ein Epikuräer. Warum sollte ich auf die Dinge verzichten, die mir Freude machen? Der Wein zum Beispiel ist eine der schönsten Erfindungen, er hat mir schon oft gut getan.
Aber ihre Reisen waren doch keine Vergnügungsreisen.
Eigentlich schon, ich bin ja zum Vergnügen auf der Welt.
Im Schneesturm durch Hokkaido zu wandern ist ein Vergnügen?
Aber natürlich. Wenn man dann in Sicherheit ist, die Schwelle überschritten hat zur Wärme, wird es ein Vergnügen gewesen sein, um im Futurum exactum zu sprechen. Jedesmal, wenn man sich aus einer brenzligen Situation befreit, wenn man denkt, es geht nicht weiter, wenn man total minimalisiert ist als Mensch, und dann über die Schwelle kommt, merkt man plötzlich, was Leben ist. Diese Übergänge sind das Fruchtbarste überhaupt. Das schöne Problem der Schwelle beschäftigt mich seit mehr als 30 Jahren, und es hilft mir immer noch weiter. Es schubst mich weiter. Schon für mich als Schüler war das Lernen ein Vergnügen, das Betrachten, Schauen, Übergehen in das Gesehene. Nein, es ist nicht Vergnügen, es ist Freude. Manchmal ist es das Einswerden mit den Formen. Man empfindet nicht mehr, dass man der Gefangene der Historie ist. Man sieht die andere Geschichte, die mich seit je beschäftigt hat.
Was ist die andere Geschichte?
Die Historie der Farben, des Versmaßes, der Formen, japanischer Tuschzeichnungen etwa oder romanischer Skulpturen, auch des Geschichtenerzählens. Das ist nicht zu realisieren, außer eben im poetischen Machen.
Ist Ihnen das einmal gelungen?
Ich erzähle davon. Darauf geht alles hin, was ich schreibe. Es ist nicht nur Utopie, es ist auch real, das Realste überhaupt. Es ist ein Vorschlag, ein Traum von Geschichte. Sonst gäbe es ja auch die Evangelien nicht, gäbe es das Buch Hiob nicht, wenn das Erzählen nicht auf eine andere Welt zuginge, auf eine Hinterwelt im besseren Sinne, wie eine Hinterglasmalerei.
Eine Revolte gegen Geschichtphilosophie?
Ich bin fast der Überzeugung, ich betone das Wort fast, dass der philosophische Begriff von Geschichte ein Euphemismus ist. Geschichte ist nicht zu denken. Hegel hat daraus einen Denkbegriff gemacht, das ist für mich ein Schmäh. Es ist eine große Niederlage, Geschichte in ein Denksystem einzuführen. So wird Geschichte nur zum ewigen Kreislauf von Schweinereien. Ja, es gibt Fortschritte, Fortschritte der Menschenrechte, auch technische Fortschritte, aber jeder Fortschritt erzeugt woanders eine Katastrophe. Ich glaube nicht, dass die Urzeit schlimmer war. Heute ist es nur anders schlimm oder anders gut.
Denken Sie an das mittelalterliche Glücksrad der Fortuna?
Man könnte es eher ein Lichtrad nennen: Wenn das Licht hierhin fällt, wird es anderswo umso finsterer. Ich mache daraus keine Ideologie, aber ich spüre es in mir.
Kommt daher ihr Wunsch, dem Augenblick Geltung zu verschaffen?
Das ist kein Vorsatz. So bin ich halt gemacht. Vielleicht ist es eine Art Krankheit, aber ich mag meine Krankheit.
Wenn man Ihre Bücher liest, ertappt man sich bei seiner eigenen Unaufmerksamkeit, und denkt, das hättest du auch sehen können, wenn du dir die Zeit genommen hättest. Aber die hat man oft nicht.
Das nehme ich Ihnen nicht ab. Jeder hat genug Zeit.
Man hat sie, aber man nimmt sie sich nicht.
Jeder hat eine andere Natur, Gott sei Dank. Ich bin nicht da, um anderen ein Beispiel zu geben, ich will mich nur selber ermahnen, mir selber die Bilder geben, den Rhythmus geben. Wenn ich zum Beispiel einen Tag nicht gelesen habe, schreibe ich: „Tag ohne lesen“, und das ist wie eine Sünde. Lesen verstanden als Entziffern, Nachspüren. Oder ich notiere „Tag ohne Gang in die Wälder“. Ich nehme extra den Plural, weil der Wald hier sehr verschieden ist, sich für mich in verschiedene Wälder aufteilt. Ein Tag ohne den Gang in die Wälder ist ein Versäumnis.
Und Schreiben?
Ich bin kein fanatischer Schreiber. Nur wenn ich dann im Tun bin, wird es ausschließlich. Vorher drücke ich mich, so lange ich kann. Indem Sie jetzt hier sind, berauben Sie mich der Wälder. Sonst wäre ich längst unterwegs. Morgen werde ich schreiben: „Tag ohne Wälder, nur gequasselt“.
Schade, dass es so früh dunkel wird, sonst hätten wir den Gang durch die Wälder gemeinsam noch machen können.
Ich gehe nicht mehr mit anderen, außer mit meiner Tochter. Der will ich die Wälder nicht gerade zeigen, aber doch anmuten lassen. Ich mag nicht sagen: Schau mal das oder das, ich gehe mit ihr eher langsam, in der Hoffnung, dass sie etwas wahrnimmt, und manchmal sieht sie sogar besser als ich. Natürlich möchte ich ihr auch die Stellen, wo man Steinpilze findet, zeigen, so wie früher die Großväter die Enkel in die Wälder mitgenommen haben, damit sie, wenn die Großväter einmal nicht mehr da sind, die Stellen kennen. Ich hatte einmal vor, einen Plan der Wälder zu machen, wo die Kostbarkeiten aufzuspüren sind, so wie der Plan der Schatzinsel von Stevenson. Diese Insel habe ich als Kind total wörtlich genommen, ich dachte, das stimmt alles.
Manche glauben, dass es die Insel wirklich gegeben hat.
In der Hauptsache ist sie wohl erfunden. Es gibt nichts Schöneres, als, wie Hesse gesagt hat, das Wagnis der Fiktion einzugehen. Wenn das Schiff der Fiktion parallel zu Realität fährt… es ist für mich ein universelles Erlebnis.
Dann erzählen Sie eine Geschichte.
Ich erfinde nicht nur Geschichten, auch Wörter. Und natürlich spielen Träume eine Rolle. Die Träume sind ja verschwunden aus der Literatur, dabei sind sie ihr Ursprung. Bei den meisten Schriftstellern sehe ich keinen Traum mehr. Ich komme aus dem Traum.
Wandern, lesen, schreiben – machen Sie das vor allem für sich selber oder sehen Sie auch den Leser vor sich?
Als ich das aus der Luft heraus gegriffen habe – um ein anderes Wort für notieren zu nehmen –, habe ich keineswegs an irgendeinen Leser gedacht. Vor einem Jahr ungefähr hatte ich gerade den Versuch über das Gericht in Den Haag und den Besuch bei Milosevics hinter mir, und ich verspürte das Bedürfnis weiterzutun im Schreiben, und da habe ich mir die 15 Jahre alten Notizbücher hergenommen. Nach zwei, drei Seiten war ich begeistert – nicht vom mir, sondern von der Bewegung der Reisestationen. Das hat mich lebendig gemacht, und zugleich habe ich mir gesagt, das soll nicht dich lebendig machen sondern andere, und dann habe ich das Ganze kopiert, aber vieles weggelassen. Sonst lese ich meine früheren Sachen nie, es sei denn, es kommt mal eine fremdsprachige Ausgabe daher, dann schaut man hinein, und zu seiner eigenen Schande bleibt man doch länger drin.
Warum Schande?
Ich bin dann immer gerührt von mir selbst.
Und das mögen Sie nicht.
Im Moment schon, aber dann geht's immer weiter und ich bin immer gerührter, es kommen mir die Tränen, über die Welt, über mein Tun, was ich gemacht hab.
Es ist jetzt genau 40 Jahre her, dass Ihr erstes Buch erschienen ist, „Die Hornissen“. Sie sind dann sehr schnell ein Star der Literaturszene geworden.
Aber nicht durch die Hornissen. Durch Princeton, wo ich blöderweise das Maul aufgerissen habe, und durch die Publikumsbeschimpfung.
Sie haben damals einen Brief an Ihre Mutter geschrieben. „Mach Dir keine Sorgen um mich, ich werde sicher weltberühmt.“ Haben Sie das wirklich geglaubt?
Ich habe nie gedacht, dass ich je eine Chance hätte, nie. Ich habe mich mit den Hornissen einfach retten wollen. Im Studium habe ich die schwarze Wolke des Nichts vor mir gesehen. Ich habe immer Kafka bewundert, der es geschafft hat, sein Studium zu vollenden und in den Beruf zu gehen. Ich konnte das nicht. Dabei war ich ein guter Jura-Student, ich habe sehr viel auf eigene Faust gelernt, aber ich habe keine Antwort bekommen von den Professoren. Man braucht ja irgendwie eine Erotik. Dann habe ich die Hornissen geschrieben. Man muss sich vorstellen, was das damals bedeutete, aus dem Winkel, aus dem ich kam, ein Buch bei Suhrkamp zu machen.
Jedenfalls sind Sie sehr rasch erfolgreich geworden. Sie konnten sich eine Wohnung leisten, Reisen unternehmen.
Ja, zum Glück. Der größte Erfolg war ganz einfach der, dass ich schreiben konnte und publiziert wurde. Sich die Zeit zu nehmen, sie fruchten zu lassen, das ist schon ein Erfolg. Und dann die Sache zu Ende zu bringen. Die Hornissen zu schreiben war ja nicht leicht, denn damals gab es eine große Krise. Man fragte zu Recht, was ist Schreiben, wie schreibt man, warum schreibt man, ist Schreiben noch erlaubt. Heute fragt man das nicht mehr. Ich empfinde diese Schwelle immer noch, den Gedanken, dass das Schreiben eigentlich nicht sein darf. Heute ist eine ungeheure Geläufigkeit da, einerseits erfreulich, andererseits fragwürdig. Diese Schwelle überwunden zu haben, das war Erfolg. Das erste Buch, das einen Auflagenerfolg hatte, war die Angst des Tormanns beim Elfmeter, vier Jahre später. Aber was ist Erfolg beim In-die-Welt-gehen der Bücher? Ich habe selten wirklich gespürt, dass die Bücher gelesen wurden. Vielleicht der Kurze Brief und Wunschloses Unglück – doch, ja, man spürt es an den Briefen von Lesern. Ich habe den Eindruck, es werden immer weniger Briefe geschrieben.
Heute schreibt man meist E-mails.
Damit habe ich nichts zu tun. Aber es gibt immer noch herrliche Briefe von Lesern, und wenn ich ein oder zwei im Monat erhalte… Nicht, dass ich davon lebe, aber die kann ich manchmal gar nicht beantworten, so schön sind sie.
Leiden Sie unter dem Älterwerden?
Nein. Ich habe zwar nicht gerade heiter die Räume durchschritten, wie Goethe das gerne von sich gehabt hätte, aber ich habe die Räume durchstöbert. An meinen Büchern kann man das vergehende und das sich entwerfende Leben ziemlich genau ahnen. Man kann sehen, was ein Schriftsteller ist, was Schreiben ist, was Leben im Schreiben ist. Sonst hätte das alles ja keinen Sinn. Ich bin nie ein Profi geworden. Ich bin ein Handwerker nur in dem, was ich nicht tue, nur im Vermeiden.
Lesen Sie gegenwärtige Autoren?
Ich lese gerne und bin neugierig. Ich bin zutraulich wie ein Tier, das zum Futtertrog geht, ich freue mich, wenn ich Joseph Zoderer lese oder Ralf Rothmann oder Walter Kappacher oder Florian Lipus. Das sind wertvolle Sachen. Wertvoll ist ein dummer Ausdruck, ich weiß, aber immer noch besser als das, was ihr Kritiker immer sagt, „wunderbar“ oder „großartig“. Solche Wörter müsste man euch verbieten.
Sie haben gesagt. eine Möglichkeit bestehe für Sie immer nur einmal. Schreiben Sie mit jedem Buch etwas Neues?
Ein neuen Ansatz vielleicht. Man kann die Comédie humaine nicht noch mal schreiben. Balzac hat den neuen Menschen des 19. Jahrhunderts beschrieben, mit der Kraft eines Titanen, voller Sanftmut und Unbarmherzigkeit. Dieses horizontale Gemälde geht nicht mehr, heute muss man vertikal schreiben. Aber es wird dadurch vermutlich enger, vielleicht auch tiefer. Auch ich habe, so kommt mir vor, eine Art Comédie humaine dahergestümpert, aber sie ist subjektiv. Balzac wollte ja objektiv sein. Auch Flaubert, was nicht immer von Vorteil war. Er hat sich in seinen späteren Büchern verirrt. Wer hat sich nicht verirrt? Vielleicht Goethe nicht. Es hätte ihm nicht geschadet.
Sie haben sich lange nicht mehr mit ihm beschäftigt.
Ja, er muss bald wieder drankommen.
Mögen Sie ihn?
Nach ein paar Sätzen von ihm, ähnlich wie bei Hölderlin, kriegt man Lichtadern eingezogen. Man spürt, wie sich's gehört. Aber mögen? Ich kenne ihn nicht. Ich würde ihn gerne kennenlernen, spiritistisch vielleicht.
Auch er hat gerne Wein getrunken. Ich glaube, keinen besonders guten.
Wer weiß. Oft ist der alltägliche Wein der beste. Ich mag Schriftsteller nicht bewundern. Aber ab und zu bin ich voller Verehrung für Geschriebenes, voller Freude und auch Sportsgeist. Es gibt so viele gute Bücher, die kein Mensch mehr liest.
Die meisten Romane heute sind auf irgendeine Weise realistisch. Das sind Ihre Bücher eigentlich nie.
Ich kann nicht nacherzählen, ich kann nur vorerzählen. Bei der langen Geschichte vom Bildverlust wollte ich möglichst genau die Geschichte der Sierra de Gredos erzählen. Je näher ich ihr kam, desto klarer wurde mir: Ich muss alles erfinden.
Warum müssen Sie erfinden?
Das Erfinden gibt mir ein Triumphgefühl. Wenn ich spüre, es gibt eine Gegenwelt, die nicht unbedingt der tagtäglichen Welt widerspricht, aber sie beleuchtet, dann habe ich ein Gefühl von…
Macht?
…
nicht Macht, sondern von Etwas-Gemachthaben, und letzten Endes das Gefühl, jetzt habe ich das Recht zu leben, zu schreiben. Nur durch die Erfindung habe ich dieses Recht. Bei Gestern unterwegs habe ich dieses Gefühl nicht, es ist, als ob es gar nicht von mir wäre, es mir zugeflogen, durch mich durchgeflogen und wieder aus mir herausgeflogen wäre.
Der Realismus ist auch eine Erfindung.
Ja, schon, aber ich bin kein Realist. Cervantes ist auch kein Realist. Die mittelalterlichen Epen sind auch nicht realistisch. Sie sind märchenhaft, aber märchenhaft in einem schneidenden Sinn. In der Abwesenheit habe ich den Parzival fast kopiert. Als ich ihn damals las, dachte ich, das ist die Form, so lässt die Welt sich erzählen, so, wie ich sie sehe, fühle und vor allem träume. Denken kann man die Welt eh nicht. Die Abwesenheit ist im Grunde die gekürzte Fassung von Wolframs Parzival.
Das habe ich offen gestanden nicht gemerkt.
Soll man ja auch nicht. Bei euch in der ZEIT stand neulich ein Interview mit dem Sekretär der Schwedischen Akademie. Der Herr sagte, die Literatur habe sich geändert, Fiktion sei zweitrangig geworden. Ohne Fiktion aber kann man die Literatur abschaffen. Es sind ehrenwerte Schreiber, die er genannt hat, wie etwa Kapuczynski, der aufschlussreiche Reportagen schreibt, aber das kann man doch nicht Literatur nennen. Man darf nicht alles vermischen, das ist skandalös. Man muss nur eine Seite von einem Buch lesen, und man sieht: Das ist Sprache oder eben nicht. Sprache, nicht Stil, das ist ein Unterschied. Sie lesen eine Seite und wissen: endlich Sprache, endlich Zittern, aber auch die Sprachlosigkeit in der Sprache. Beides.
Kann man das lernen?
Es ist kein Handwerk. Das kommt später dazu. Aber der Anfang ist nie mit Handwerk zu schaffen. Ich verstehe nicht, wie man das Schreiben in Schreibschulen lernen will.
Korrigieren Sie viel?
Sehr viel. Ich schreibe seit fünfzehn Jahren mit Bleistift – außer die Theaterstücke, die ich mit der Maschine tippe. Wenn gesprochen wird, dann muss irgendetwas knallen. Die Prosa schreibe ich mit Bleistift, und da radiere ich viel. Die Gefahr, mit Bleistift zu schreiben, besteht darin, dass man in der Stille des Schreibens vergisst abzusetzen, also Absätze zu machen. Sie hinterher einzufügen, ist nicht gut. Dafür ist die Maschine oder der Computer besser. Aber die Chance ist eben, dass es ein ganze andere epische Bewegung gibt. Es spielt auch eine Rolle, dass ich die beiden letzten dicken Bücher, Die Niemandsbucht und den Bildverlust, oftmals im Freien geschrieben habe. Im Freien haben sich mir immer wieder neue Räume gezeigt, die ich nur antupfen musste. Ich habe das als ungeheuer erfreulich empfunden. Dass es ausschwingen kann in die Räume, die sich im Freien auftun.
Was war denn die die Grundfigur beim „Bildverlust“? Ich habe das nicht verstanden.
Sie haben einen großen Blödsinn darüber geschrieben, so achtlos, fahrlässig. Bevor Sie kamen heute, habe ich gedacht, es ist eigentlich eine Schande, dass dieser Mensch mein Haus betritt. Ich habe ja immer von Bildern gelebt, von Traumbildern, von Anschauung, und mit der Zeit bekam ich das Gefühl, dass die Bilder ihre Gültigkeit, ihre Realität verlieren. Dem wollte ich nachspüren. Ich erinnerte mich an junge Leute voller Enthusiasmus, voller Unschuld, denen ich zwanzig Jahre später wieder begegnet bin, und ich sah, dass diese Begeisterung verschwunden war.
Weil sie älter geworden waren.
Ja, ich habe mich für Momente wiedererkannt. Es hat mich zu der Frage gebracht: Wo ist eigentlich die Begeisterung unserer Jugend geblieben, als wir geschrieen haben vor Freude, wir sind doch alle aufgebrochen, irgendwohin. Und da habe ich die Geschichte dieser Frau geschrieben, die die Leute wiederfindet, mit denen sie zusammen war und deren Begeisterung verschwunden ist, aber vielleicht wieder geweckt werden kann.
Woher kommen die Kriegsbilder, die Kriegsfantasien?
Das hat auch etwas mit Jugoslawien zu tun. Ich hatte die Vorstellung, dass sich die letzten Menschen da oben im Hochgebirge sammeln und eine Art Kolonie bilden.
Die Menschen fangen noch einmal von vorne an?
Ja, die Menschen dort wollen keine Bilder mehr haben, die Geschichte der Menschheit wird hier wirklich Geschichte. Es geht um den Konflikt zwischen Bilderglauben und Bildersturm. Ich spüre manchmal, dass es ein neuer Bildersturm an der Zeit wäre. Es geht nicht so weiter, es ist eine Beleidigung, eine Entseelung, eine Entleiblichung, was die Bilder mit uns machen. Die Menschen meines Buchs sind auf der Suche: Wie kann man sich vor den Bildern retten?
Ich als Leser bin verwirrt, weil es in Ihrem Roman keine Orientierung gibt. Jeder Ort ist zugleich ein anderer.
Sie sollten nicht sagen, Ich als Leser. Sondern der Leser als Ich. Ja, das glaube ich Ihnen. Wenn Sie Faulkner lesen oder Cervantes, das ist ab und zu steinig, mühsam. Aber sobald man Vertrauen fasst, geht man durch die Bewegung hindurch. Das ist Literatur, das ist Lesen, nicht etwas, was so glatt daherkommt. Ich bemühe mich um Klarheit, ich möchte nicht dunkel sein. Als ich noch ein junger Schriftsteller war, stand in irgendeiner Rezension „Der dunkle Handke“, es hat mir geschmeichelt. Aber das ist lange vorbei. Ich will Licht sein. Aber ich möchte forschen im Schreiben. Ich will nicht amerikanisch aufbereitet schreiben. Die deutsche Sprache hat ihr eigenes Recht, aber auch ihre Schlingen. Wenn man sich ihren Assoziationen, ihren Klängen völlig hingibt, kann man sich leicht verlieren. Nicht wenigen Schriftstellern ist das ja passiert. Andererseits sind wir eben deutschsprachige Schriftsteller, und das muss man auch merken. Wir können nicht schreiben wie die Amerikaner, wie die Franzosen. Hätte Eichendorff schreiben sollen wie Flaubert oder Stendhal?
Eichendorff kann man sich eigentlich in einer anderen Literatur gar nicht vorstellen.
Ja, der ist herrlich, die deutsche Literatur hat ihre eigenen Geschichten, ihren eigenen Fortgang. Das muss man bewahren. Das müssen Kretins wie ich praktizieren. Und das ist spannend, ist herrlich. Prosaschreiben ist meine Heimat. Einmal habe ich zwei Jahre lang fast nur übersetzt. Mit einer bitteren Sehnsucht bin ich zwei Jahre lang um meinen Schreibtisch herumgeschlichen und dachte, du musst endlich wieder Prosa schreiben. Aber für mich ist es wichtig, Monate oder auch mal zwei Jahre ohne Schreiben auszukommen, damit Lust und Bedürfnis sich wieder vereinen.
Ist es nicht so, dass nach langer Pause die Fertigkeit verloren gehen kann?
Das nicht, aber eine Geschichte, eine Idee, die man hatte, kann in dieser Zeit vermodern. Dann kann es passieren, dass man den Pfingsttag versäumt, um den Anfang zu machen.
Sie haben viele Autoren entdeckt oder wiederentdeckt, Emmanuel Bove oder Hermann Lenz zum Beispiel.
Ja, das hatte eine große Wirkung, aber wenn ich heute einen solchen Autor in der SZ oder der ZEIT vorstellen würde, hätte das fast keine Wirkung mehr.
Warum?
Die Aufmerksamkeit ist erschöpft. Die Hinweise auf vergessene Autoren, die Wiederentdeckungen sind Mode, und der Nutzen wird immer geringer. Auch habe ich nicht mehr die Stimme wie früher.
Vielleicht liegt das an Ihrer Verteidigung der Serben im jugoslawischen Krieg.
Vorsicht, Sie sind hier in meinem Haus.
Ich habe zwar gerade das Messer hier genommen, aber wirklich nur, um mir ein Stück Käse abzuschneiden.
Sie werden mich nicht in eine Verteidigung bringen. Ich habe da nichts zu erklären.
Es gibt viele Buchhandlungen in Österreich, die Ihre Bücher nicht mehr führen.
Nicht nur in Österreich, auch in der Schweiz und Deutschland. Daran seid auch ihr Kritiker schuld. Auf der einen Seite macht ihr im Feuilleton, wenn ich jetzt mal im Plural reden darf, einen Text wie den über meinen Besuch bei Milosevics oder über meine Reise zu den Flüchtlingen in Serbien nieder, noch bevor ihr ihn gelesen habt, ihr blockt ab; und auf der andere Seite, wenn Gestern unterwegs erscheint, seid ihr ganz offen und zeigt euch als feine, aufmerksame, sprachbewusste Leser. Vorher aber habt ihr den Weg zu den Lesern abgeschnitten, also zu den Buchhandlungen. Die Buchhändler werden zunehmend moralistisch und gebärden sich als Richter. Ein Bekannte erzählte mir, sie habe in vier Buchhandlungen gehen müssen, bis sie endlich Gestern unterwegs erhielt. Ein Buchhändler sagte mir voller Stolz, er habe alle meine Bücher, als die Winterliche Reise erschien, aus seinem Laden entfernt.
Das ist idiotisch, das muss ich zugeben, obwohl ich in der Sache anderer Meinung bin.
Sie müssen gar nichts zugeben, es geht auch nicht um Meinung. Meinung haben hat nichts mit Schreiben zu tun. Hat jemals jemand in einer westlichen Zeitung von den Flüchtlingen, mehr als einer halben Million, in Serbien erzählt? Nie habe ich etwas darüber gelesen, wie die vegetieren. Und zum ersten Mal habe ich deren Geschichte erzählt. Warum geht nicht einer der Reporter der ZEIT, die die Geschichte vom serbischen Adolf zum siebzigsten Mal als Dossier aufmöbeln, wo doch die bosnischen Muselmanen und die Kroaten genauso viel Blut am Stecken haben, zu den serbischen Flüchtlingen? Die kommen aus dem Kosovo, aus Kroatien, aus Bosnien und werden von den eigenen Landsleuten in Serbien verachtet. Ich habe darüber geschrieben, ohne irgendeine Ideologie damit zu verbinden, und ich werde dafür niedergemacht. Zum erstenmal kommt einer wie ich nach Srebrenica und erzählt von einer Mutter, nicht von den Müttern. Ja, es ist ein unverzeihlicher Racheakt, was die serbische Armee da veranstaltet hat. Aber es ist eine Rache gewesen an den zerstörten Dörfern rund um Srebrenica. Für mich habt ihr Deutschen eine unglaubliche Schuld auf euch geladen, schon mit der Anerkennung Kroatiens. Euer Herausgeber Joffe hat nicht zu Unrecht gesagt, dass das Wort Auschwitz als Schlagwort verwendet wurde. Aber wer hat damit angefangen? Es war euer Außenminister Fischer. Scharping hat von KZs in Pristina geredet, was ein Unsinn ist. Die Knüppelwörter stammen von euren Offiziellen. Und die haben den Knüppel wirklich benützt, indem sie den Bombenkrieg mitverantwortet haben.
Es gibt viele Kriege auf der Welt, warum regen Sie sich gerade über den in Jugoslawien auf?
Jeder hat sein Land. Der Schriftsteller Peter Esterhazy, der für den Bombenkrieg war, hat gesagt: Ach, dem Peter Handke hat man sein Spielzeug weggenommen, deswegen ist er so beleidigt. Und der Esterhazy kriegt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Verkehrte Welt. Serbien wurde nie erzählt, und ich habe nur erzählt, was ich in Serbien gesehen habe.
Aber mussten Sie den Büchnerpreis zurückgeben?
Der Büchnerpreis hat ja nichts mit Büchner zu tun, das ist ein repräsentativer Preis der Bundesrepublik Deutschland.
Was haben Sie gegen die Deutschen?
Mein Vater war ein Deutscher, er stammte aus einer Bäckerfamilie im Harz. Ich habe keinen Hass auf Deutschland. Es gibt viele Deutschlands, das krachlederne Großdeutschland und das Deutschland der Provinzen, das Deutschland „nebendraußen“, um es mit einem Wort von Hermann Lenz zu sagen. Das ist mein Deutschland und wird es bleiben.
Und warum sind Sie aus der Kirche ausgetreten?
Was mich auf die Palme oder vielmehr auf die serbische Fichte gebracht hat, war ein Sendschreiben des Bischofs von Amiens. Er hat den Bombenkrieg gegen Jugoslawien gerechtfertigt mit dem Satz, wenn ein Waldbrand herrsche, genüge es nicht mit dem Wassereimer zu kommen, man benötige Löschflugzeuge. Ich scheue mich, mich einen Christen zu nennen. Aber ich fühle mich in der Nachfolge Christi, ohne dass ich sein Nachfolger wäre. Er ist für mich die größte Gestalt in der Geschichte. Das war ja kein Nazarener, der hatte auch seinen Zorn.
In „Gestern unterwegs“ stößt man immer wieder auf Zitate aus dem Neuen Testament.
In der ersten Fassung standen da Seiten um Seiten auf griechisch. Ich habe nur weniges übernommen, vor allem, um Lust zu machen, Griechisch zu lernen. – Es ist fast dunkel geworden, soll ich ein Licht machen?
Nein, so kann ich besser den Garten sehen, die schöne Zeder.
Es sind zwei, die eine ist eine Libanon-Zeder, die andere eine Atlantik-Zeder. Links Libanon, rechts Atlantik. – Machen wir jetzt Schluss, ich hole noch einen Wein.