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Ulrich Greiner

Der Herr der Fragezeichen
Peter Handkes Roman „Der Bildverlust“/Von Ulrich Greiner

Wohin, um Himmels willen, ist Peter Handke mit diesem Buch geraten? In die Sierra de Gredos – und von dort in die Steilhänge der Sinnhuberei, in die Schluchten der Mystfikation, in die Staubwüsten des Schwadronierens. Ihm zu folgen bedeutet qualvolle Entsagung: keine Handlung, die sich erzählen ließe, keine Figur mit Namen, Anschrift und Umriss, keine Dramatik, keine Abenteuer.
Das war und bleibt Handkes Programm: die Opposition gegen die „Lesefutterknechte“, gegen die „Beschreibungsliteratur“, gegen das katastrophensüchtige Erzählen. Wer derlei will, liest Stephen King. Der entsagungsgewohnte Handke-Leser aber erhielt doch immer reichlich Ausgleich und schönen Gewinn: statt äußerer Spannung innere Entwicklung, Herzensbildung; an Stelle von Liebesaffären und Staatsaktionen „das Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers, das Grünen der Erde, das Schimmern der Gestirne“, wie es Adalbert Stifter, einer von Handkes Heroen, in der Vorrede zu den Bunten Steinen sagt.
In diesem monströsen und voluminösen Roman jedoch ist Handke außer Rand und Band. Nie hat er sich so übermütig, haltlos ins Nebulöse hineinfabuliert, sich (und uns!) derart halsbrecherisch all seinen Lieblingstheorien und -marotten preisgegeben. Man liest das, kratzt sich am Kopf, versteht kein Wort, liest weiter, dann wieder geht einem ein Lichtlein auf, man freut sich, aber zu früh, denn plötzlich feixt Handke wie ein Kobold, foppt den Leser, wechselt die Erzählperspektive, Zeit und Ort und Sprache. Er ist toll – und es ist toll, denn auch hier sieht man, was er kann, auch hier gibt es Passagen leuchtender Intensität, und man erfährt wieder, was vielleicht das Schönste am Handke-Lesen ist, Sehhilfe, Anschauungshilfe, Lebenshilfe, als läse man Dale Carnegies Sorge dich nicht, lebe, jetzt aber richtig: Sorge dich nicht, lies und sieh!
Aber ach, wie mühsam ist die Lektüre diesesmal. Der Text wirkt zuweilen, als habe Handke alles hineingepackt, was ihm einfiel, alles was er je geschrieben hat, das bereits Gestrichene inbegriffen. Schwer zu sagen, worum es geht. Eigentlich um alles. Das ist, wie man zugeben wird, nicht wenig, es ist die Summe all dessen, was wir bereits kennen: Die Langsame Heimkehr von der Niemandsbucht in Die Stunde der wahren Empfindung.
Das Einzige, was sich auf Anhieb über die Handlung sagen ließe, ist ebenso simpel wie unbefriedigend: Eine Frau, ihres Zeichens Bankkauffrau in hochrangiger Position, bricht von irgendeiner Großstadt im Nordwesten Europas auf, um die Sierra de Gredos, einen Gebirgszug westlich Madrids, zu überqueren. Sie verlässt nach inneren und außeren, etwa hundert Seiten beanspruchenden Präliminarien endlich ihr Haus, offenbar ein größeres Anwesen sagen wir in Paris oder Frankfurt, und begibt sich zu Fuß zum Flughafen, fliegt nach Valladolid, besteigt dort ihren Landrover, fährt nach Süden, wird von etwas unklaren Kriegshandlungen überrascht (jedenfalls findet sie das Auto zertrümmert vor und ausgebrannt), besteigt einen Bus, der sie ins Vorland der Sierra bringt, dann wandert sie zum Gipfel.
Das weitere ist weniger simpel: Diese Frau möchte sich ihre eigene Geschichte dadurch aneignen, dass sie einen Lohnschreiber engagiert, im Folgenden zumeist „der Autor“ genannt. Am Ende der Reise besucht sie den in der Mancha, also südlich der Sierra lebenden Autor; vermutlich, um ihm all das zu erzählen, was er für die Niederschrift benötigt. Der aber hat die Geschichte bereits erzählt, nämlich im vorliegenden Buch. Wie das?
Man erkennt schon daran zwei Besonderheiten dieser Unternehmung: Erstens die Auflösung der traditionellen Erzählperspektive, die einen erzählenden Autor (der nicht mit dem realen Autor identisch sein muss) oder ein erzählendes Ich kennt. In diesem Buch „erzählt“ manchmal Handke selber, sehr oft die Frau, zumeist der „Autor“, dann wieder ein „Beobachter“ oder „Historiker“, der sich wiederum von Handke und dem „Autor“ unterscheidet, was schließlich heißen soll, dass sich die Geschichte, wie es einmal heißt, aus vielen Quellen „selber erzählt“ (was aber leider, alles in allem, nicht funktioniert).
Jedenfalls handelt es sich bei der schlussendlichen Liebesbegegnung und Vereinigung der beiden Vertragspartner Frau und „Autor“ um einen narzisstischen Inzest insofern, als all diese Auf- und Abspaltungen nur einen einzigen ebenso grandiosen wie banalen Ursprung haben, und der heißt Handke. (Was übrigens auch für nicht wenige der zumeist schimärenhaften Randfiguren dieser Geschichte gilt.)
Die zweite Besonderheit besteht in der Auflösung der vertrauten Dimension von Zeit und Ort. Jeder Ort kann zugleich ein anderer sein. Das Haus, das eben noch ein Hotel war, ist jetzt ein Zelt; in diesem Zelt findet sich ein Saal mit Wänden, darinnen eine große Tafel, an der Karl V. sitzt, aber auch andere aus anderen Zeiten. Dann wieder, aus der Ferne betrachtet, besteht das Hotel, das eine Zeltstadt war, aus einer Ansammlung von Heuschobern.
Immer wieder stößt die Frau auf Zeichen des Krieges, Bombergeschwader werfen ihre Schatten, Bäume am Weg sind von Granaten zerfetzt. Wo ist Krieg? Er war und wird sein, er ist überall. Es gibt Anspielungen auf den jugoslawischen Krieg, auch ist die Rede vom Alltagskrieg der Menschen gegeneinander. Aber die Frau reist ziemlich friedlich durch Spanien.
Das alles ist sehr verwirrend, aber es hat Methode. Es geht um das, was Handke den „Bildverlust“ nennt. Er meint damit naürlich nicht die Bildermasse, die jeden modernen Menschen umgibt, im Gegenteil: Sie verstellt die eigenen, selber erlebten und angeeigneten Bilder, sie verhindert die Anschauung. Am Ende ihrer Reise stößt die Frau auf eine utopische Kommune, wohin Menschen sich vor dem Bildverlust gerettet haben und nur noch schauen wollen. Das Schauen wäre der Anfang, ein eigenes Bild zu gewinnen, also eine Vorstellung von sich selber und der Welt.
Die Frau hingegen hat noch Bilder, und einmal wird erzählt, dass sie im Augenblick der Gefahr imstande sei, den Feind dadurch zu entwaffnen, dass sie ihm eine frühere Wahrnehmungsintensität, eine erlebte Szene, ein eigenes Bild entgegensetze. Es bedeutet, dass sie bei sich selber ist. Das ist ein schöner Gedanke, weil er die Frage der inneren Stärke anders stellt. Nicht der ist stark, der sich abschließt, sondern der, der sich öffnet. Sich öffnen heißt anschauen, sich selber und die Welt, das Vergangene wie das Gegenwärtige; und die ganze Anstrengung dieses Romans besteht eben darin, dies anschaulich zu machen.
Bei sich selber sein heißt aber für Handke, und hier beginnt das mörderische Missverständnis, sich nicht dem Schlecht-Allgemeinen dadurch auszuliefern, dass man es durch das Schlecht-Konkrete gewissermaßen auffüllt. Das Bezeichnende bezeichnet nichts mehr. Die traditionelle Erzählung, die eine Person durch Attribute als besondere vorstellt, kann nicht gelingen, weil sie sich immer schon auf ein vorgegebenes, also fremdbestimmtes Bild bezieht.
Der Schluss, den Handke aus dieser Theorie zieht, geht dahin, die Fremdbestimmung dadurch aufzulösen, dass er die obligaten Bestimmungen in Frage stellt. Ein Beispiel: „Unvergleichliches Geräusch des Granitsands unter den Sohlen, weniger ein Knirschen als ein Mahlen und Rauschen der groben Körnermassen, welche einem zugleich die Füße massierten: vordringliches Geräusch auf der iberischen Halbinsel - auch wenn dieses Geräusch einem ähnlich bei einer Alpenüberquerung hätte in den Ohren klingen können, oder in den Anden, oder ihretwegen im Himalaja.“
Bis zum Doppelpunkt haben wir eins der für Handke typischen schönen Naturbilder. Danach folgt die Zerstörung des Bildes durch die Auflösung seiner Bestimmtheit. Wenn das Geräusch des Grantisands überall auf der Welt genauso klingt, ist es nicht mehr unvergleichlich. Was hier noch wie eine momentane Selbstparodie klingt, wird durch die Manie der Fragezeichen zum literarischen Prinzip: „Sie stieg und stieg, eine Stunde lang? zwei? einen halben Tag? hinab.“ Oder: „Einer erklärte ihr: er sei von Tokyo, oder war es Honolulu? oder Kairo? nach Hondareda gereist und habe sich dann da angesiedelt, weil er er sich endlich wieder einmal ,in einem Zentrum‘ spüren wollte, an einem Ort und in einer Gegend, ,wo es um etwas ging‘, ,wo es sich zeigte‘ – was sich zeigte? – keine Antwort – aber sie hatte ja auch gar nicht gefragt.“
Kann sich denn, so fragt der müde? ungeduldige? unverständige? Leser, der großmächtige Autor nicht verdammt noch mal entscheiden, ob die Frau eine Stunde für den Abstieg benötigt oder zwei, ob der Mann aus Kairo stammt oder aus Tokyo? Und wenn er es nicht weiß, dann soll er aufhören, davon zu faseln. Seiten über Seiten gehen die Fragezeichen-Orgien, oft ellenlange Fragesätze, teils rhetorisch, teils einander aufhebend; dann wieder ganze Salven von Fragezeichen innerhalb eines einzigen Satzes, als ob der Autor an jedem Wort herumfingern müsste, eins hübscher als das andere fände und allesamt stehen ließe, damit der Leser sich eins aussuchen könne. Kein Wunder, dass auf diese Weise 759 Seiten zustande kommen.
Der Herr der Fragezeichen, als der Handke hier auftritt, kämpft gegen ein anderes Mordor, gegen das böse Reich der achtlosen Sprecher, der uneigentlichen Schreiber, als ob er die Literatur gegen ihre Verderber neu erfinden müsste. Er persifliert die Gebote spannungsreichen Erzählens, indem er einmal vor den Augen der Frau einen Meuchelmord geschehen lässt (der aber ebenso grund- wie folgenlos bleibt) und sie ein andermal bei ihrer Wanderung die Leichen zweier früherer Weggenossen finden lässt (was aber unerklärt bleibt und offenbar niemanden beunruhigt, weder die Frau noch den Autor und den Leser schon gar nicht).
So finden sich in diesem Buch zahllose Betrachtungen über Sinn und Ziel des Erzählens; darunter dunkle über „das Gehege der größeren Zeit“, das endlich herrschen müsse; darunter schöne wie die, dass das Erzählen dem Rhythmus der Schrift (etwa der arabischen – die Frau hat ein arabisches Lehrbuch bei sich) folgen solle; darunter kindische über den „Mechanismus“ des Epischen, der dem Autor immer gegen den Strich gegangen sei. Einmal führt er vor, wie dieser Mechanismus in seiner Geschichte aussähe: „In der ersten Nacht, kurz nach Erreichen unten der Baumgrenze und dem Eintauchen in den finsteren, ja, finsteren obersten Waldgürtel, wäre demgemäß die Heldin der Geschichte einem Einsiedler begegnet und von ihm vergewaltigt worden.“ Zu diesem Zeitpunkt (wir befinden uns auf Seite 695) wäre der Leser sogar für eine Vergewaltigung dankbar, aber daraus könnte nichts werden, weil niemand, selbst ein Einsiedler nicht, eine schiere – hier „Frau“ genannte – Abstraktion vergewaltigen kann.
Genug. Die Sierra de Gredos, die Handke durchaus eindrucksvoll beschreibt (man müsste mal hinfahren) scheint ein derart menschenleeres, unwegsames Gelände zu sein, dass sich sogar ein geübter Wanderer wie Peter Handke darin verirrt hat.

Peter Handke: Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002


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