Das große Staunen
Peter Handkes Tagebuch Gestern unterwegs
Als die Jäger und Sammler von den Ackerbauern verdrängt wurden, kam das Zeitalter der Sesshaftigkeit. Jahrhunderte hatte es Bestand, aber nun scheint es vorüber. Heutzutage ist fast ein jeder ständig unterwegs, sei es freiwillig, um das Rad seiner Geschäfte in Gang zu halten; sei es unfreiwillig, weil ihn das Rad des Schicksals von Exil zu Exil treibt.
Was aber ist von einem Mann zu halten, den es folgendermaßen umherwirbelt? Es muss sich um einen von Interpol gesuchten Kriminellen handeln: Im November 1987 begibt er sich unauffällig (teils zu Fuß, teils mit dem Bus) von Kärnten nach Slowenien, wandert weiter nach Zadar, Split und Dubrovnik, bis er schließlich nach Thessaloniki und Athen gelangt. Dort scheint man seine Spur gefunden zu haben, den urplötzlich fliegt er nach Kairo, verbringt dort einige Tage und taucht im Januar in Paris auf. Am 15. des Monats jedoch sehen wir ihn in Berlin, kurz darauf quält er sich durch die deutsche Provinz: Bremen, Hildesheim, Fulda, Frankfurt, München. Auch dort wird ihm der Boden zu heiß. Im Februar eilt er nach Brüssel, Gent und Brügge, um kurz darauf in Tokio zu landen. Dort erblickt er eine ihn anziehende schöne Frau, aber anstatt ihr zu folgen, flieht er im Schneesturm nach Hokkaido, findet auch dort keine Ruhe oder Sicherheit und begibt sich nach Anchorage und Fairbanks.
Alaska im März: Das sollte ein halbwegs sicherer Ort sein. Unser Mann jedoch fliegt nach London, und am 18. März sehen wir ihn in Lissabon, später in Porto und Vigo. Am 1. April jedoch ist er in Leon, kurz darauf in Arles, Wien, Aquileia. Juli Paris. Im Herbst sucht er wieder Slowenien auf, das in seinen Augen offenbar sicherste Gelände. Allein, die Häscher scheinen ihm auch hier auf den Fersen, denn den Jahreswechsel 1988/89 verbringt er in Schottland, wiederum eingenässt von Stürmen und Schneeschauern, reist aber schon Ende Januar in die Normandie, gibt sich dort als interessierten Betrachter der Kathedralen von Rouen und Amiens, was aber ihm nichts zu helfen scheint. So wandert er denn, als Rucksacktourist verkleidet, im Februar zwei Wochen querfeldein durch die Pyrenäen. Im März jedoch sehen wir ihn im Schnellzug auf dem Weg von Barcelona nach Cordoba, und am 6. April fliegt er von Malaga nach Mailand.
Wir wollen seine Irrfahrten nicht weiter im Detail verfolgen, denn seine nachgelassenen Notizen umfassen 550 Seiten. Deshalb nur im Zeitraffer eine Auswahl der weiteren Stationen: Arezzo, Assisi, Villach, Wien, Frankfurt, Paris (offenbar hat er hier eine Art Wohnsitz), Cannes, Wien, München, Venedig, Paris, Brüssel, Amsterdam, Lyon, Bern, St. Moritz, Florenz, Udine, Triest und wieder Slowenien (weshalb immer Slowenien: befindet sich hier der Ort seiner Untat?); dann Frankfurt, Metz, wieder Paris, Nantes, Bordeaux, San Sebastian (jetzt schreiben wir den Dezember 1989), Vittoria, Soria, Valladolid, Salamanca, Madrid, Barcelona, Straßburg, Lüttich und endlich Paris, Juli 1990.
Ja, es handelt sich um Peter Handke. Nein, es handelt sich nicht um einen Gejagten. Das Gehen fördert das Denken, wie schon die Griechen und ihre Peripatetiker wussten. Auch Handke erfährt es: „Merke es dir, endlich: Das Gehen ist (d)eine Erkenntnis – das lange, ausgreifende, vielfältige Gehen, über Berg und Tal (so wie heute von Tarcento über Nimis - Attimis - Faedis bis Cividale, tagelang, bis in die Nacht); die Welt will von deinen Schritten durchfurcht werden – ja, ich muss mehr über die Hügel stürmen!“ Da befindet er sich mal wieder auf einer seiner Wanderungen, hier im Friaul. Zweimal wandert er durch Slowenien, einmal lange durch die Pyrenäen, ein andermal über schottische Hochmoore und hinauf auf den höchsten Berg dort:
„Ein großes Rauschen empfing mich gerade bei der Ankunft auf dem Gipfelplateau des Ben y Vrackie, Rauschen wie vom Berggeist selber, und es kommt von einem kleinen Bach unter dem Heidekraut; und dazu mein Ausruf: ‚Jetzt wird es schneien!‘ – Und schon geschah ein helles Daherfliegen über die blaugrüne Heide, ‚flieg ins offene Buch, Schnee! Bring es zum Knistern!‘ Und es knisterte. – Und wie nun das Schneewehen die Farben aufscheinen lässt, auch an mir, dem einzigen Lebewesen weit und breit – Sphäre des Schneiens, Spektrum des Schnees. Vom Westen die Regenwolken anreisend, von Osten die Schneewolken, deren feine, rhythmische Schwaden im Gegensatz zu den formloseren, regellosen Regenwolken, und in der Mitte des Geschehens beide Wolkenzüge ineinander übergehend zu einem gewaltigen leuchtenden Dunst.“
Solch wunderbare Naturbeschreibungen machen dieses Tagebuch (es ist voll davon) zu einem einzigartigen Leseerlebnis. Aber man ahnt, dass dieses vollkommene Öffnen aller Sinne seinen Preis hat. Die Bedingung ist Einsamkeit.
Als wäre er Friedrichs Wanderer im Nebelmeer, zieht Handke einsam durch nächtliche Straßen und über sturmumtoste Felder, ein Mönch hingebungsvoller Wahrnehmung. Selbst trostlose Landschaften (unsereins würde sie trostlos nennen) schrecken ihn nicht, so lange er nur gehen kann: „Das Gehen auf den ehemaligen Eisenbahnschienen durch die Steppe beim ehemaligen Bleibergwerk im Gegenwind; bergauf über Kalkhänge; der verfallen Olivenbauernhof, umstanden von Eukalyptus, der rauchende Abfallhang, all das beitragend zum Gehgefühl, zum In-der-Weite-sein, zwischen den Ölbäumen, die rauschten und tosten, an einer Stelle das längst überflüssige Warnkreuz ‚Achtung Zug‘, verrostet inmitten der Ölgärten; zurück in die bei der Kälte und dem Wind wie leere Stadt; der heikle, gar empfindliche Zigeuner in der Bar, vorwurfsvoll auf die eine Fliege da zeigend (die ihm dann auch prompt in das Bier fiel).“
Tagelang, wochenlang oft spricht er mit keinem einzigen Menschen. Einmal notiert er: „Unterwegs: die Momente des Behaustseins enttäuschen mehr und mehr; das Unbehauste dagegen wird immer heimischer.“ Und doch: Zuweilen lastet das Alleinsein schwer auf ihm. Er nennt es dann „Sorge“, ein von seinem Freund und Gewährsmann Hölderlin entlehntes Wort, Inbegriff der Ängstlichkeit und Kleinmütigkeit. Zwar redet er sich immer wieder gütlich zu: „Es ist kein Unterschied zwischen einer falschen und richtigen Sorge – die Sorge an sich ist falsch.“ Aber dann wieder betet er um die Befreiung von der Sorge: „Lass endlich den Ernstfall eintreten, damit ich die Sorge los bin und handeln kann!“
Dieser „Ernstfall“ (nein, es geht nicht um Krieg) tritt zweimal ein – in der Liebe. Die erste zu einer schönen Unbekannten, offenbar englischer oder amerikanischer Herkunft. Handke plaudert ja niemals Intimitäten aus, aber immerhin doch dies: „Das ‚Pritzeln‘, Klicken, Knacken, maschinenhaft, gestern der Heupferdchen im Karst über dem See von Doberdob, unter dem fast identischen Geräusch der Überlandleitung. Und die schwarzen Maulbeeren in der Wildnis. Und das Rot ihrer Lippen mit dem Rot der Erdbeere. Und die aus der Steppe mit heiserem Gebell hervorbrechenden Rehböcke. Und ihr weißer Reisstrohhut in der hüfthohen blumenreichen Savanne.“ Mit der zweiten Liebesgeschichte, über die wir wiederum fast nichts erfahren, endet das Buch. Sie scheint von Dauer, denn der Autor begibt sich auf die Suche nach einer Wohnung, die offenbar nicht nur für ihn allein bestimmt ist.
Bevor es dazu kommt, sehen wir ihn, wie er die allein sitzende Schöne in einem spanischen Hotel beobachtet; den wunderbar weißhaarigen alten Schuster in Tripoli; den Wachhabenden vor der amerikanischen Botschaft in Tokio; den Lesenden in Cambridge („sie küsste ihn, der las; er las beflügelt weiter – Blick durch ein Erkerfenster, Abbey Road“). Immerzu ist er unterwegs: unterwegs mit Sonne, Mond und Sternen, vor allem seinem geliebten Orion; unterwegs im japanischen Bambuswald („mein Klopfen gegen die Bambusschäfte im großen Bambuswald, allein, der letzte Mensch, bei Wind und grauer Kälte“); unterwegs mit Hölderlin, Novalis, Inoue, Wittgenstein, Epiktet, Tschechow, Skácel und immer wieder der Bibel.
Die Bibel liest er im Original und macht übersetzungskritische Anmerkungen. Er geht in die Kirchen und Museen, und es sind vor allem die biblischen Darstellungen, die ihn anziehen. In Amiens sieht er, „wie die Schlafenden im Mittelalter immer dabei ihr Gewand festhalten: sich wegträumend daran festhalten“; und in Sansepolcro sieht er den Auferstandenen des Piero della Francesca „noch tief erschrocken vom Totsein“.
Bemerkenswert, wie sehr sich Peter Handke dem Katholischen und also seiner Herkunft wieder nähert, ein kenntnisreich und voller Skpesis Glaubender. „Die Geschichte Jesu als eine dramatische Entdeckungsgeschichte: die Entdeckung des Göttlichen in sich - die wiederum zum Menschendrama an sich führt“, schreibt er einmal, und damit ist sicherlich auch gemeint, dass wir alle das Göttliche in uns suchen sollten. Jedenfalls sucht es Handke, selbst wenn dieses Göttliche nicht unbedingt moraltheologisch korrekt ist und manch hölderlinische Züge trägt.
Er ist wahrhaft ein Pilger, aber nicht im Sinne von Georg Thurmairs Kirchenliedklassiker Wir sind nur Gast aus Erden, denn dafür interessiert in diese Erde allzu sehr, und wir lernen sie durch ihn wieder kennen, als wäre sie uns neu. Die Wurzel seiner Pilgerschaft hat religiöse Züge, in der Hauptsache aber ist sie ästhetisch begründet – im ursprünglichen Sinn, denn Aisthesis heißt Wahrnehmung. Wenn er etwa über den Begriff der „Levitation“ bei Teresa di Avila nachdenkt, schreibt er: „Du kommst da doch, obwohl leicht levitiert, auf deinem Grund an und schaffst, in der so genannten Levitation, die Verbindung zu deinen Gründen, immer wieder; also hab keine Angst dabei vor einer Unwirklichkeit; der Wirklichkeit der Historie zieh vor die des je Geschehens, Werdens, Seins, Verschwindens – das ist die Kategorie, und nicht die Geschichte.“
Das ist ein romantisch-philosophisches Programm, und es bezieht sich auf das Diktum des Novalis: „Die Welt muss romantisiert werden.“ Was das heißen soll, erläutert Novalis so: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“
Nichts anderes tut Handke, und der Effekt, der sich auf den Leser überträgt, ist wahrhaft zauberisch: Nach und nach (und man kann dieses großartige Buch nur nach und nach lesen) verlangsamt man sich, gewinnt Gehör für die Stille, die Handke immer wieder fordert und findet, schließlich ein Auge für das scheinbar Unscheinbare und Schöne, das uns „Handwerkern“ (Hölderlin) zumeist entgeht, immerzu geplagt von den Geschäften des Alltags.
Wem ist das schon aufgefallen: „Das seltsame Grüßen der Schotten, den Kopf zur Seite verrenkend, als jucke sie etwas am Hals.“ Oder dies: „Der Säugling, chauffiert in seinem Wagen von der Mutter, lässt deren Liebesblick schmunzelnd über sich ergehen.“ Überhaupt die Kinder: Ihr Anblick erregt in Handke die mildesten und frohesten Gefühle, und einmal erkennt er in ihren Augen einen Gottesbeweis. Oder zumindest das Dichtertum: „Die Kinder als Dichter: sie stehen da, halten die Hand in den Regen, und das ist ihr Gedicht.“ Und dann beobachtet er diese Szene: „Ein Kind zum andern: ‚Und was kannst du?‘ Das andere Kind: ‚Ich kann gar nichts.‘ (Begeistert:) ‚Ich kann überhaupt nichts!‘“
Man möchte zitieren und zitieren, und man erfährt, wie Handke sagt, „das Erzählen als das große Staunen“ (das ist ja sein Ziel, das er ohne Konkurrenz erreicht), und man findet es dann ganz natürlich, „dass es so übergeht ins Singen“, wie in den großen Epen etwa der Odyssee. Von einem Buch zu sagen, es mache glücklich, klingt ja sehr nach Peter Hahne oder so. Dieses stammt von Peter Handke. Es zu lesen beschert Glück.
Peter Handke: Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1980. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2005