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Ulrich Greiner
Gespräch mit Peter Handke – Oktober 2010

Eines der seltsamsten Bücher, die je geschrieben wurden, sind Peter Handkes Traumnotizen »Ein Jahr aus der Nacht gesprochen«. Sie bestehen aus rund 500 kurzen Sätzen, Ausrufen, Dialogen, Miniaturgeschichten. Sie sind komisch, tiefsinnig und oftmals völlig absurd. Sie zu lesen beschert ein besonderes Abenteuer. Man kommt selber ins Träumen, ins Nachdenken und nicht selten ins Schmunzeln.

»Ich habe mir diese Frau extra für die Nacht ins Haus gebracht, Gemahlin. Und jetzt beleidigst du sie.« Das denkt man vielleicht, aber man sagt es nicht. Auch das nicht: »Sie braucht zwanzig Sekunden zum Fallen, unsereiner liegt in einer Sekunde am Boden.« Und dann gibt es Sätze, die eine ganze Geschichte enthalten: »Zu spät. Alles zu. Was machen wir? Zu mir können wir nicht.« Oder: »Es ist windig hier.« ­ »In jeder Hinsicht.« ­ »Was machst du heute Abend?« ­ »Ich fahre nach Lenbach.« ­ »Wo ist Lenbach?«

Am schönsten aber sind die Szenen einer freien, luftigen Absurdität: »Was suchst du da unter den Kastanien?« ­ »Alice.« ­ »Da!« ­ »Nein, diese Kastanie ist zu alt, das kann nicht Alice sein.« Es ist leicht zu sagen, was dieses Buch nicht ist: keine Aphorismensammlung, keine Abbildungsprosa. Es ist ein Traumbuch, verrückt und logisch wie die Träume, schön und gespensterhaft wie der Flug der Gedanken durch den Kopf, kurz bevor man erwacht. Im Zwielicht der Nacht sieht man anderes als am hellen Tag.

Greiner: In Ihrem Buch stehen Sätze, die Sie geträumt haben. Wie haben Sie die gefunden?

Handke: Ich habe mich geweckt.

Sie haben den Wecker gestellt?

Nein. Irgendwie habe ich innerlich aufgehorcht, ich wurde wach, manchmal mitten in der Nacht, manchmal am frühen Morgen. Ich habe mir die Sätze, die Bilder durch den Kopf gehen lassen und sie dann aufgeschrieben. Später habe ich sie nur noch grammatisch geglättet, sonst nichts daran geändert.

Ist das Material für eine Traumdeutung?

Solche Hintergedanken hatte ich nicht. Mich beschäftigen die Notizen, weil sie Traumsprache sind, eine Form vor der Literatur. Manchmal habe ich Sätze aus der Nacht noch tagelang im Kopf, etwa: »Auf allen Menschen sollte das Licht so ruhen wie auf einem Chipa Dakota.«

Was ist das?

Ich weiß es nicht.

Hat es mit einem Indianer zu tun, mit einem Dakota?

Vielleicht.

Kennen Sie Beispiele, die Ihrem Buch vergleichbar sind?

Ich glaube, das hat noch niemand gemacht. Aber es gibt eine unwillkürliche, eine ungesuchte Verwandtschaft mit Kafka.

Manches in Ihrem Buch ist komisch wie bei Kafka.

Kafka war nicht komisch. Es wird immer erzählt, Kafkas Zuhörer hätten gelacht, weil seine Prosa so humorvoll gewesen sei. Nein, sie haben nicht über den Witz gelacht, sondern über die Wahrheit. Wenn etwas schlagend ist, dann lacht man. Humor ist nach Goethe ein Zeichen der abnehmenden Kunst. Kafkas Kunst ist so rein, dass sie wahr ist. Darüber muss man lachen.

Mögen Sie Humor nicht?

Nicht in der Literatur. Bei Stifter gibt es keinen Humor, erst recht keine Ironie.

Und Thomas Mann?

Vor einiger Zeit habe ich ihn wieder gelesen. Ich mag diese Ironie nicht, diese herablassende, schnöselige Prosa. Das ist schon gekonnt, aber darin ist kein Luftzug. ­ Möchten Sie Tee?

Peter Handke geht in die Küche, um den Tee zu kochen. Er wohnt in Chaville, einem südwestlich von Paris gelegenen Vorort. An einer verkehrsreichen Straße öffnet sich zwischen zweigeschossigen Häusern ein Privatweg, eine kleine Koniferenallee, die zu einem von dichtem Efeu überwachsenen Tor führt. Das schöne, um 1900 erbaute Haus dahinter lässt sich durch die Gitterstäbe nur erahnen. Es steht inmitten einer Apfelbaumwiese. Der alte Esstisch, an dem wir sitzen, befindet sich in einem großen Raum, der fast das ganze Erdgeschoss ausfüllt und nach allen Seiten Blicke in den Garten erlaubt. Die Nachbarhäuser sind fast nicht zu sehen. Möbliert kann man das Zimmer nicht nennen, es gibt ein Sofa, ein paar Stühle, auf den Dielen einen Kelim, aber überall sind kleine Altäre aus Büchern und Bildern, aus Erinnerungsund Fundstücken aufgebaut. Man spürt, dass hier ein ästhetischer Geist wohnt, der auf Farben, Formen und Blickachsen achtet. Auf dem Tisch liegen parallel angeordnet zahlreiche Schreib- und Zeichenstifte, daneben ein Bierdeckel mit geometrisch aufgeklebten seltsamen kleinen Gebilden, die an Pagoden erinnern. Es seien Eukalyptussamen, antwortet Handke auf meine Frage.

Warum haben Sie 1996 den per internationalen Haftbefehl gesuchten mutmaßlichen Kriegsverbrecher Karadzic in Pale besucht?

Ich wollte Nachricht über vermisste bosnische Muslime. Ich gab ihm eine Liste der Namen, und er wollte sich darum kümmern. Aber daraus wurde nichts, meine Mission war ohne Ergebnis. Deshalb habe ich auch nichts darüber geschrieben, aber jedem, der es wissen wollte, habe ich davon erzählt.

Sie haben noch mehrere Versuche dieser Art unternommen.

Ja, ich habe einen serbischen General in Sarajevo besucht, der auf der Seite der Muslime gekämpft hatte, und ich wollte den Mufti von Sarajevo sprechen, aber das Treffen wurde aus Termingründen abgesagt. Nichts an der Reise zu Karadzic war »klandestin« oder »konspirativ«, wie in Ihrem Feuilleton behauptet wurde. Da stand auch, ich hätte einen Verdienstorden der Republik Srpska bekommen. Das hat es nie gegeben, ebenso wenig wie die Rose, die ich auf den Sarg von Milosevic gelegt haben soll. So etwas zu schreiben heißt, dem Krieg den Krieg hinzuzufügen.

Ihr neues Theaterstück „Immer noch Sturm“ handelt von Ihren slowenischen Vorfahren. Es erzählt vom Krieg, vom Widerstand gegen die Nazis, von den Konflikten in der Familie. Es ist auch eine Auseinandersetzung mit Zeitgeschichte.

Auseinandersetzung? Es ist ein Sturm gegen die Geschichte, gegen Geschichte als Fortschrittskategorie.

Die Toten treten auf, als wären sie noch am Leben, und Sie, der Autor und Nachkomme, reden mit ihnen.

Ich bin ein Anhänger des Ahnenkults, ich möchte mit den Vorfahren in ein Gespräch kommen, weil das großartige Menschen waren, die zugrunde gegangen sind. Deswegen fühle ich mich ihnen verpflichtet, meinetwegen.

In Ihrem Tagebuch „Gestern unterwegs“ blicken die Mutter und die Großmutter vom Himmel herab, amüsieren sich über Ihre endlosen Wanderungen und sagen: »Was macht er denn da schon wieder?« Und nach einer Pause: »Na ja, so ist er halt …« In Ihren Büchern tauchen die Ahnen immer wieder auf. Wann hat dieses Interesse bei Ihnen angefangen? Wenn man jung ist, beschäftigen einen die Alten meistens nicht.

Mich schon. Ich verdanke das meiner Mutter, die mir immer ganz viel von den Toten erzählt hat, von den Brüdern, die sie geliebt hat und die im Krieg gefallen sind. Sie hat erzählt und erzählt, alle Einzelheiten. Das Leben der Toten hat mich immer beschäftigt, schon Die Hornissen, mein allererster Roman, beruhen auf einer Geschichte, die mir meine Mutter erzählt hat und die ich dann nachgeträumt habe.

Im Sturmbuch stehen die Vorfahren mütterlicherseits im Zentrum, Ihr Vater kommt nur am Rande vor.

Das wäre eine andere Geschichte. Ich habe jetzt eine Erzählung geschrieben, deren Held ein Schauspieler ist, der sich sehr mit seinem Vater beschäftigt.

Wenn Sie »Vater« sagen, welchen haben Sie dann im Sinn? Ihren Stiefvater Bruno Handke oder Ihren leiblichen Vater?

Meinen Erzeuger ­ oder wie man das nennt.

Haben Sie ihn gekannt?

Ich habe ihn ein paarmal besucht, und wir haben uns zu achten gelernt. Er war ein etwas nervöser Mensch, ein guter Tänzer, ein Möchtegern-Frauenheld, er hat mir gefallen. Er war ein Bankmann, hatte einen großen Mercedes, lebte in Norddeutschland, in Buxtehude.

Wie alt waren Sie, als Sie ihn getroffen haben?

Etwa 19.

Ging das Treffen von Ihnen aus?

Ja, ich wollte ihn kennenlernen, auch wegen der Erfahrungen, die ich mit meinem Stiefvater gemacht hatte.

Mit dem Sie sich nicht besonders gut vertragen haben.

Ich war in der Pubertät, und sein Alkoholismus war schrecklich. Er war heimatlos, er kam ja aus Berlin, die Vorfahren aus Schlesien. Handke ist ein schlesischer Name, es gibt sogar einen schlesischen Barockmaler namens Handke. Und dort in Kärnten war mein Stiefvater mit seinem Berliner Dialekt ein Außenseiter, total einsam, das sehe ich jetzt erst richtig. Das heißt, ich habe es begriffen, als er schon im Sterben lag. Ich war ungerecht gegen ihn. Als ich Kind war, hatte ich ihn ganz gern, seinen Geruch mochte ich, er war Zimmermann und roch nach Holz. Aber dann habe ich gesehen, wie er das Geld vertrunken hat, wie dann die Armut geherrscht hat, wie er meine Mutter geschlagen hat. Als Bub von elf oder zwölf habe ich gehört, wie die Schläge im Nebenzimmer geklatscht haben. Das kann ich nicht vergessen.

Sind Sie ihm noch böse?

Ich nehme ihm das nicht übel. Das Unglück der Menschen ist dermaßen groß! Wenn man alle umarmen könnte! Aber es gibt niemanden, der alle umarmen kann. Weil wir gerade von meinem Stiefvater und so weiter reden: Einer der schönsten Sätze, die ich bei John Cheever gelesen habe, heißt: Erzählen ist nicht Nacherzählen. To tell a story is revelation, ist Offenbarung. In jeder Geschichte, auch wenn sie ganz real ist, um das Wort realistisch zu vermeiden, muss es eine Offenbarung geben. Man muss etwas anderes sehen können als das Kanonisierte. Der Blick des Lesers muss etwas entdecken können vom Menschen, was er vielleicht geahnt hat, was ihm aber nicht deutlich war. Sonst ist es kein Buch, keine Erzählung. Ich sage Ihnen das, weil ich das Gefühl habe: Sie führen mich auf die Fährte des Nacherzählens. Erzählen heißt Offenbarung, auch für den, der erzählt. Auch er muss überrascht werden von dem, was er erzählt.

Sie haben einmal gesagt: Sie wollen nicht nacherzählen, sondern vorerzählen.

Ja.

Wenn Sie von Offenbarung sprechen: Das Wort hat auch eine religiöse Bedeutung.

Ohne Offenbarung geht es nicht, sonst hat das Schreiben für mich überhaupt keinen Sinn. Vielleicht ist Offenbarung nicht das richtige Wort. Aber Überraschung ist nicht stark genug. Offenbarung ist ja nicht nur religiös definiert. Es geht um die Entdeckung des Menschen. Für mich sind die schönsten Augenblicke beim Lesen oder auch im Film, wenn ich erfahre, dass der Mensch, der so und so definiert zu sein scheint, plötzlich ein ganz anderer wird. Aber vielleicht sollte man statt Offenbarung lieber revelation sagen.

Das bedeutet ja Offenbarung.

Schon, und Cheever war ja ein religiöser Mensch. Es gibt keine innigere religiöse Prosa als die von John Cheever in seinem Tagebuch. Das ist etwas ganz Gewaltiges.

Sind Sie ein religiöser Autor?

Die Frage beantworte ich nicht.

Das Religiöse taucht bei Ihnen immer wieder auf, wenn auch nicht direkt.

Man kann es nur streifen. Wenn jemand nur sagt, er sei religiös, geht mir das auf die Nerven. Wenn er nicht erzählt, was das ist. Das Erzählen ist das Entscheidende. Wenn ich an der heiligen Messe teilnehme, ist das für mich ein Reinigungsmoment sondergleichen. Wenn ich die Worte der Heiligen Schrift höre, die Lesung, die Apostelbriefe, die Evangelien, die Wandlung miterlebe, die Kommunion und den Segen am Schluss »Gehet hin in Frieden!«, dann denke ich, dass ich an den Gottesdienst glaube. Ich weiß nicht, ob ich an Gott glaube, aber an den Gottesdienst glaube ich. Die Eucharistie ist für mich spannender, die Tränen, die Freude, die man dabei empfindet, sind wahrhaftiger als die offizielle Religion. Ich weiß, ich habe, wenn ich das sage, eine Schattenlinie übersprungen, aber dazu stehe ich.

Bevorzugen Sie die alte oder die neue Liturgie?

Ich habe da keine Ideologie. Das Geheimnis des Glaubens, wie es nach der Wandlung heißt, kann man auch erleben, wenn der Priester einem zugewendet ist. Ich kann schon verstehen, wenn es einigen leidtut, dass die Unnahbarkeit des Vermittlers verschwunden ist. Das ist ein Paradox: der unnahbare Vermittler. Aber er bleibt ja auch unnahbar, wenn er sich der Gemeinde zuwendet.

Solange man spürt, dass er in diesem Augenblick eine andere Person ist.

Das ist wichtig. Wenn er anfängt, familiär zu werden, verlässt mich die Offenbarung. Der heilige Augenblick verschwindet. Martin Mosebach hat einen schönen Aufsatz über die Ikonen geschrieben, wo er zeigt, wie es den Malermönchen darauf ankam, das Heilige zu bewahren, die Reinheit des Gesichts. Ein Gesicht zu erleben kann für mich die Rettung sein, daraufhin schreibe ich. Das ist auch eine Offenbarung. Das Entscheidende ist für mich das Gesicht des anderen.

Müssen Sie ihn kennen?

Nein, eben nicht. Ich kann ihn auch kennen, vielleicht ist er mir sattsam bekannt, aber wenn ich ihn dann wirklich sehe, ist er mir eben nicht mehr sattsam bekannt, sondern anders bekannt. Das geschieht manchmal, man kann es nicht suchen, nur finden.

Das ist ein menschenfreundlicher Gedanke.

Ja, aber ich spüre mit dem Älterwerden, wie sich eine Misanthropie einschleicht. Ich mag das nicht an mir. Das ist mein kleiner Kampf.

Woher kommt das?

Durch die Reizbarkeit, die immer da war, oder weil man glaubt, dass man zu viel gesehen hat, obwohl man eigentlich gar nicht genug sehen kann. Sehen ist nicht so einfach, wie man denkt.

In Ihrem Nachtbuch heißt es: »Schau doch! Schau! ... Du hast nicht geschaut ...«

Man muss ins Schauen kommen, so wie man ins Gehen kommt. Indem man geht, geht man ja noch nicht, man kommt ins Gehen. Und wenn man schaut, schaut man ja noch nicht, man kommt ins Schauen. Wie Goethe sagt: Aus der Anschauung kommt die Theorie. Das hat nichts mit der Türmerperspektive zu tun. Man kann auch aus der Froschperspektive schauen. Einer, der am Boden liegt, sieht oft weiter als der, der auf gestreckten Beinen steht.

Erkennt man ein Gesicht leichter, wenn man lange alleine war? In der Großstadt gibt es so viele Gesichter, dass man sie oft nicht mehr sieht.

Es kann überall erscheinen, man weiß es nicht.

Kann man es üben?

Nein, aber man kann sich ermahnen, sich nicht gehen zu lassen in der Misanthropie, in der Gereiztheit. Für mich ist es wichtig, innezuhalten. Das hat nichts mit Yoga zu tun. Aber ich weiß nicht, ob es mit dem Alleinsein besser wird.

Sie waren ja mal drei Jahre ständig unterwegs, und immer allein.

Aber einsam nie. Mit dem Älterwerden fühlt man sich ja oft in Gesellschaft einsam. Man kommt auf eine Party, und in fünf Minuten sind all die Tagesthemen durchgesprochen, die Tropoi, wie Doderer sagt. Man redet ja nur dieses rhetorische Zeug. Dann entsteht das Gefühl der Einsamkeit, und ich denke: Was soll ich hier?

In Ihrem Tagebuch erzählen Sie die Szene, wie Sie von einer winterlichen Straße in Cambridge aus in ein warmes Zimmer blicken und beobachten, wie eine Frau ihren im Lehnstuhl lesenden Mann küsst. Fühlten Sie sich da nicht einsam? Sind Sie in solchen Augenblicken nicht neidisch?

Nein, ich freue mich. Höchstens denke ich, dass der Mann eine so schöne Frau nicht verdient. Das ist aber kein Neid, ich finde es nur ungerecht. Außerdem bin ich nicht gegen Neid, Neid ist unvermeidlich. Ich bin gegen Geiz. Aber Neid? Wenn Leute sagen, sie empfinden keinen Neid, glaube ich ihnen das nicht. Mit dem Neid muss man spielen, darin besteht die Souveränität des gelernten Neiders. Goethe sagt, gegen die Vorzüge eines andern hilft nur, dass man sie liebt. Lieben ist vielleicht ein bisschen viel verlangt, aber man sollte sie anerkennen und sich darüber freuen. Mit einem Buch ist mir das schon lange nicht mehr passiert. Bei John Cheever allerdings war das so.

Mögen Sie die amerikanischen Schriftsteller?

Die neueren nicht. Immer wieder denke ich: Wie schön wäre die Literatur ohne all diese Zeit-, Familien und Gesellschaftsromane. Fontane hat das vielleicht noch gekonnt, aber heute ist es eine Form abgesunkener Kultur. Ich habe Walker Percy übersetzt, "The Last Gentleman" und "The Moviegoer", das ist ein großartiger Autor. Und ich liebe Thomas Wolfe, seinen Roman "Schau heimwärts, Engel". Diese Bücher haben etwas Lyrisches, das gehört unbedingt dazu. Bei Jonathan Franzen zum Beispiel kommt es überhaupt nicht vor. Er folgt einem Strickmuster, einem Schema. Auch Philip Roth ist letzten Endes nur ein Conferencier. Lesen ist doch ein Abenteuer. In einem Buch, auch in einem Gesellschaftsroman, muss sprachlich die Suchbewegung drin sein. Es gibt keine epische Literatur ohne lyrisches Element. Aber das ist aus der amerikanischen Literatur völlig verschwunden. Es muss Ausbrüche geben, ein beherrschtes Sichgehenlassen, nicht dieses rezepthafte Schreiben. Es muss vom Autor etwas ausgehen, ob das nun aus seiner Verlorenheit oder aus seinem Schmerz kommt. Wenn man beim Autor nur das Machen sieht, um das Wort Mache zu vermeiden, genügt das nicht.

Aber Handwerk gehört doch auch dazu?

Das Handwerk dient nur dazu, etwas nicht zu tun. Voraussetzung ist, dass der Autor seine Figuren liebt. Stendhal zum Beispiel liebt seine Menschen. Das macht das Geheimnis seiner Romane aus.

Liebt Flaubert die Madame Bovary?

Ich weiß es nicht. Aber Flauberts "November", sein erstes Buch, ist von einer unglaublichen Erotik. Wie er einen Frauenkörper beschreibt, das übertrifft jedes Gemälde von Courbet. Er beschreibt nur das Zittern der Frau. Ich glaube, er hat da so viel Angst vor der Frau bekommen, dass er die "Madame Bovary" schreiben musste, aber so, als ob er auf einem anderen Stern säße.

Wie entstehen Ihre Bücher, haben Sie einen Plan?

Man macht sich halt auf den Weg. Es ist wie ein Untertauchen in ein anderes Element.

Gibt es eine Art von Auftrag, das zu tun?

Ja, einen vagen Auftrag. Aus dem mache ich dann ein Prinzip, wenn ich mich auf den Weg mache.

Wer erteilt den Auftrag?

Der Papst auf jeden Fall nicht, auch kein Bundestrainer, auch kein Politiker. Ich weiß es nicht. Ich könnte eine Litanei von denen hersagen, die es nicht sind.

Sie haben mal von einem Gesetz gesprochen.

So spreche ich nicht mehr. Es gab eine dramatische Situation beim Schreiben, wo mir ein Gesetz erschienen ist. Aber das spüre ich nicht mehr. Das Gesetz beim Schreiben muss auch ein Spiel sein. Für mich ist kein Unterschied zwischen Ernst und Spiel.

Machen Sie einen Unterschied zwischen dem, was Sie beschäftigt, und dem, was den Leser beschäftigen soll?

Ich denke mich als Leser.

Haben Sie einen idealen Leser vor Augen?

Nicht vor Augen. Wenn ich Sie da sehe, denke ich nicht: Das ist der ideale Leser. Es könnte den idealen Leser geben, aber ich hätte ihn nie vor Augen, er ist mehr ein Astralleib, eine Astralfigur, etwas Energetisches. Für mich ist der Leser die eigentliche Instanz der Literatur, nicht der Dichter.

Manche Autoren stellen sich einen Leser vor, für den sie etwas schreiben, das wirkungsvoll sein soll.

Ich möchte schon auch Wirkung haben. Soll die Literatur den Leser bedienen? Ich weiß es nicht. Die Zeiten haben sich geändert. Tolstoj und Dostojewski haben für Zeitschriften geschrieben. Die Kosaken haben nur ganz kurze Kapitel, so lang, wie die Zeitschriftenbeiträge sein durften. Ich habe große Achtung davor, dass die das gemacht haben, aber ich könnte es nicht.

Handke hat jetzt aus der Küche eine Flasche Sancerre geholt sowie einen Teller mit Oliven und Salami. Wir trinken aus kleinen Wassergläsern, und als ich die Olivenkerne auf den Teller lege, weist er mich sanft zurecht und deutet auf die kleine Schale, die er eigens dafür hingestellt hat. Er legt nun eine Platte auf, die letzte von Johnny Cash. Eine Hi-Fi-Anlage besitzt Handke nicht, das Gerät ist ein älterer Ghettoblaster auf dem Fußboden.

Werden Sie in Paris bleiben?

Ja, ich lebe hier seit über 20 Jahren, seit 20 Jahren und 7 Monaten.

Haben Sie mit der Pariser Literaturszene Kontakt?

Das kommt schon vor, alle zwei Jahre vielleicht.

In Deutschland ziehen viele Autoren nach Berlin, weil sie sich dort Anregungen erhoffen, von anderen Autoren, Verlegern, Intellektuellen.

Anregung von Verlegern? Da bekomme ich von Hornissen mehr Anregung. Ich lese, das ist mir Kontakt genug.

Was bedeutet für Sie Heimat? Wo sind Sie zu Hause?

Am Schreibtisch. Oft, aber nicht immer. Das Schreiben ist meine gefährliche Heimat. Heimat muss gefährlich sein, das ist ein Paradox, aber kein leichtfertiges, wie Nietzsche gesagt hat, sondern für mich ist es ein stichhaltiges Paradox. In meinem Stück wettert der Großvater gegen das Wort Heimat, er hat genug von diesem deutschen Wort, aber ein anderes gefällt ihm gut: Bleibe. Mir gefällt es auch besser, Bleibe zu sagen statt Heimat.

Ist Ihr Stück nicht auch ein Heimatstück?

Es ist ein patriotisches Stück über dieses Tal, das Jaunfeld, es ist mehr eine Ebene. Da komme ich her, das ist die Landschaft meiner Kindheit. Darüber zu schreiben, empfand ich als Pflicht.

Warum Pflicht?

Was man gerne hat, muss man weitergeben, das ist eine Pflicht. Es wird mir immer wieder warm ums Herz, wenn ich dort bin. Da ich kein Sänger bin, schreib ich halt. Van Morrison hätte ein Lied übers Jaunfeld gesungen.

Ist das nun Ihr letztes Heimatstück?

Das steht in den Sternen. Ich glaube schon, ja. Jetzt bin ich bald 68, das Leben hat mir viel gezeigt und viel nahegebracht. Wie kann man das erzählen? Ich denke, das Leben ist viel zu schade für eine Autobiografie, viel zu wertvoll, als dass man es in einer Autobiografie verscherbelt. Die Fiktion ist das Höchste, die Erfindung. Wie Hermann Hesse gesagt hat: Es wird Zeit, dass ich mal wieder das Risiko der Fiktion eingehe. Deswegen grübele ich daran herum, ich habe die Form noch nicht: Wie kann man ein Leben, mein Leben erzählen? Eine epische Form in der Nachfolge von Stendhal müsste es sein, aber nicht als Gesellschaftsroman. Ich bin ja kein Romancier, ich bin ein Erzähler.

Hatten Sie einmal vor, eine Autobiografie zu schreiben?

Ja, aber keine herkömmliche, chronologische. Ich wollte die Farben und Formen aufschreiben, die Landschaften, die Städte. Jetzt suche ich nach einer anderen Form.

Sie schreiben doch Tagebuch?

Das sind nur Notizen, ohne Bewertungen. Heute werde ich schreiben: Ulrich Greiner war da. Sonst nichts. Ich notiere, wie das Wetter ist, ob Tau liegt, die Wege meiner Wanderungen, was ich gelesen habe. Hier zu Hause habe ich größere Notizbücher, für unterwegs habe ich ganz kleine, die ich in die Tasche stecken kann.

Werden Sie die veröffentlichen?

HANDKE: Nein, nein.

Er steht auf, um mir eines der Notizbücher zu zeigen. Es sind kleine Kunstwerke, von der Größe einer Zigarettenschachtel, dicht beschrieben mit mehrfarbigen Stiften und angefüllt mit kleinen Zeichnungen von Landschaften oder Fundstücken. Handke hat offenbar gute Augen, alles ist winzig und sehr präzise. Es ist nun Zeit für den Aufbruch, Handke ist am Abend mit seiner Frau und seiner Tochter zum Essen verabredet. Auf dem Sofa liegt ein großes Foto, es zeigt das Profil einer bildschönen jungen Frau. »Das ist Leocadie, meine Tochter, sie ist 19«, sagt Handke. Für die Nacht macht er zwei kleine Lampen an, damit es nicht dunkel ist, wenn er allein nach Hause zurückkehrt. Als ich ihn frage, ob er nicht die CD von Johnny Cash ausschalten wolle, sagt er: »Irgendjemand wird schon zuhören.«

 

Erschienen in der ZEIT



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